BERLIN. (hpd) Helmut Fink, der Vorsitzende des Koordinierungsrates Säkularer Organisationen (KORSO), war in der letzten Woche in Berlin und besuchte den von den katholischen Kirche veranstalteten "Vorhof der Völker". Hier sein Kommentar.
Die Dialogoffensive "Vorhof der Völker" der katholischen Kirche mit Agostikern, Atheisten und Humanisten ist ein begrüßenswerter Schritt.
In der Eröffnungsveranstaltung, einem auf hohem Niveau geführten moralphilosophischen Disput, wurde die Absicht erkennbar, Grundsatzfragen mit weltanschaulichem Bezug in einer säkularen Gesellschaft neu zu verankern. Dass dies aus der katholischen Kirche heraus nicht voraussetzungslos geschieht, sondern von einem über Jahrhunderte gereiften Standpunkt aus, sollte nicht verwundern.
Der erste Abend hat gleichwohl die Grenzen des Vorhabens gezeigt. Mag die Honoratiorenatmosphäre des Treffens dem hochkarätigen Besuch (u.a. Horst Köhler, Wolfgang Thierse, Robert Zollitsch, Alois Glück) geschuldet gewesen sein, so bleibt doch zu fragen, wieso eine wichtige Gepflogenheit der wissenschaftlichen und aufklärerischen Diskurskultur unserer Tage missachtet wurde, nämlich die Möglichkeit zu direkten Nachfragen aus dem Publikum.
Dann hätte man etwa einbringen können, dass in Situationen, in denen der Gläubige dem Ungläubigen erklärt, wieso er glaubt und der Ungläubige dem Gläubigen, wieso er das nicht tut, und beide mit diesem Thema ringen, automatisch die Frage nach der Begründungslast im Raum steht. Wer muss und wer kann sie tragen? Und weist hier nicht das Moralbegründungsmodell mit Gott einen ontologischen Überschuss auf? Ist nicht ein Ansatz ohne Gott schlanker, sparsamer, und verdient daher nach Wilhelm von Ockhams wegweisendem Rat den Vorzug - ein mittelalterlicher Denker, der zwar selbst kaum Atheist war, aber doch hervorragende Gründe dafür geliefert hat?
Es kann der gegenseitigen Verständigung nur dienlich sein, wenn die guten Gründe für den Vorrang einer säkularen Kultur in modernen Gesellschaften unverkürzt zur Sprache kommen. Falls derlei theoretische und abstrakte Erwägungen jedoch nicht lebensnah genug gewesen wären, dann hätte man nach dem gut zweistündigen würdevollen Austausch über Fragen der Moralbegründung, der Bindungskraft ethischer Normen, der Menschenrechte und ihrer universellen Geltung - ja, dann hätte man schlicht fragen können, ob es denn stimme, dass der Vatikan die Menschenrechtskonvention der Vereinten Nationen bis heute nicht ratifiziert hat, und wenn ja, was die Gründe dafür seien. Die authentische Antwort hätte sicher viele interessiert. Denn nur aus Authentizität entsteht Glaubwürdigkeit.
Das Angebot zu glauben, und dies auf römische Art, das ist heute nur noch eines unter vielen Angeboten spiritueller, moralischer und lebenspraktischer Art. Ist die Kirche wirklich schon bereit, diese Bedingung der Moderne an sich heranzulassen, sie zu akzeptieren und in sich aufzunehmen? Ein Dialog auf Augenhöhe würde das erfordern. Die Kirche scheint auf dem Weg, aber der Weg ist lang. Gläubige seien demütig, meinte Bischof Woelki, "weil wir die Wahrheit nicht besitzen, sondern sie uns umfängt." Ein guter Satz, lässt er doch die Ambivalenz der Offenheit ahnen. "Die" Wahrheit, na gut, es kann nur eine geben. Man besitzt sie nicht. Man soll ihr dienen. Aber wen sie umfängt, nur "uns" oder auch die anderen - oder die anderen etwa erst dann, wenn sie geworden sind wie "wir", und woher "wir" das alles wissen, das wäre dann doch noch einmal zu diskutieren, und zwar ergebnisoffen, wie es sich unter Suchenden gehört.
Dieser Dialog ist ein wichtiger Schritt, wenn ihm weitere folgen. Schon am zweiten Tag, nach einem Podium in der Berliner Charite, hat Kardinal Ravasi das Wort ins Publikum gegeben, statt alles selbst zu kommentieren. Das hat der Sache genützt und der Kirche nicht geschadet. Ob es eines Tages auch die Einladung gibt, direkt mit Vertretern säkularer Organisationen zu reden? Immerhin sprechen sie stellvertretend für viele Menschen unserer Zeit, die Interessen haben und Meinungen und Bedürfnisse. Da gäbe es noch viel zu entdecken und zu besprechen, über den Kern der neuzeitlichen europäischen Kultur etwa, der in Humanismus und Aufklärung liegt. Oder über die Anthropologie als Wesen der Theologie, wie es einst von Ludwig Feuerbach formuliert wurde. Oder auch über gleiches Recht und gleiche Beteiligung in der Gesellschaft der Gegenwart, bei wertebildenden Schulfächern, in Ethikräten, in Rundfunkräten. Die gleiche Augenhöhe hat viele Gesichter.
Wäre ein echter Dialog zwischen denen, die wissen, warum sie glauben und denen, die wissen, warum sie nicht glauben, nicht wirklich ein Gewinn für beide Seiten? Je offener die jeweiligen Überzeugungen formuliert werden, desto besser kann man sich gegenseitig einschätzen. Der Austausch birgt Potenzial für beide: Säkulare könnten lernen, welch reiche Erfahrungen die Kirche mit Organisationsstrukturen gemacht hat und müssten nicht alle ihre Fehler wiederholen. Und Kirchenvertreter könnten lernen, wie mit Fragen des menschlichen Zusammenlebens unverkrampft umgegangen werden kann, ohne ein ethisches Chaos befürchten zu müssen. Dass ohne Gott keineswegs alles erlaubt ist, war ja schon Konsens. Das ist doch ein guter Anfang.
Vielleicht steht am Ende eine Verantwortungsgemeinschaft gläubiger und nichtgläubiger Menschen, die sich denselben Grundnormen, aber unterschiedlichen Begründungsstrukturen verpflichtet wissen. Faire Entfaltungsmöglichkeiten in pluralen Gesellschaften gehören dazu, öffentliche Nachvollziehbarkeit der Argumente, Offenlegung der Ziele und Transparenz der Mittel. Wenn ein neues Religions- und Weltanschauungsrecht nicht nur deklamatorisch, sondern auch faktisch einen gleichen Abstand des Staates von allen Bekenntnissen umsetzt und der Kirche auch in finanzieller Hinsicht die Entweltlichung ermöglicht, dann sitzen alle Weltanschauungsgemeinschaften im selben Boot. Dann gelten für alle die gleichen Regeln. Und dann können die Säkularen ihre Protesthaltung aufgeben.
Ich bin zum Dialog bereit.
Helmut Fink
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