Ukraine

Was es noch zu sagen gibt (2)

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Fotos: © Daniel M. Porcedda

KIEW. (hpd) Information ist alles. Die Infohäppchen in deutschen und anderen EU-Medien erlauben nicht einmal eine grobe Übersicht über die Geschehnisse in der Ukraine. Dieser ausführlichere Artikel soll einige der Informationslücken schließen und eine andere, erweiterte Sicht auf die Lage in der Ukraine vermitteln.

(Fortsetzung, den ersten Teil finden Sie hier.)

Angst

Die Angst vor weißrussischen Verhältnissen in der Ukraine wächst spürbar. Auch die Angst vor einer Sklavenrolle wie Kasachstan.

Die Nötigung Russlands vor der angedachten Unterzeichnung des Assoziierungs-Abkommens lässt weiteres Eingreifen Putins in der Ukraine befürchten. Der diesbezügliche Begriff Nötigung ist übrigens deutlich festgelegt im Budapester Memorandum aus dem Jahr 1994. Es werden nicht bloß wirtschaftliche Gängelungen befürchtet. Vor allem wird mit brutaler Niederschlagung der Proteste gerechnet, orchestriert aus Moskau.

Die Folgen dessen sind noch beängstigender als ein weiterer Sturm des Platzes der Unabhängigkeit durch Polizeieinheiten. Repressionen gegen alle, die sich, in welcher Form auch immer, an den Protesten beteiligt haben.

Ein Vorgeschmack dessen wurde der Öffentlichkeit gerade wieder vor Augen geführt.

  • Ein Aktivist, der Videoaufnahmen gegen Polizeiwillkür veröffentlichen wollte, wurde mit einer Schusswaffe schwer verletzt und sein Auto wurde in Brand gesetzt.
  • Eine Journalistin, die über das private Anwesen des Innenministers, der ebenfalls seinen Arbeitsweg ukrainisch standesgemäß per Hubschrauber zurückzulegen pflegt, berichtete, wurde wenige Stunden nach Veröffentlichung ihres Artikels in der "Ukrainiski Prawda" von einem Fahrzeug verfolgt, in der Nähe der Stadt Boryspol (Gebiet Kiew) zum Anhalten gezwungen, die Scheibe wurde eingeschlagen, sie wurde aus dem Auto gezerrt, von drei Männern zusammengeschlagen und am Straßenrand liegengelassen, wo sie später von Polizisten gefunden und in ein Krankenhaus gebracht wurde. Diagnose: Gehirnerschütterung, gebrochene Nase und schwere Gesichtsverletzungen. Bilder der verletzten Journalistin kursieren auch in westlichen Medien. Übrigens arbeitete sie auch noch an einem Bericht über das neue, sich noch im Bau befindliche Anwesen des Präsidenten, das noch größer und prunkvoller ausfallen soll als sein bereits vorhandenes.
  • Ein Journalist wurde in Kiew von Polizisten geschlagen und verhaftet. Er und sein Anwalt (!) wurden zu jeweils zwei Monaten Gefängnisstrafe verurteilt, beide sitzen immer noch ein. Ihr Vergehen: Recherchen über Straßenkontrollen der Polizei.
  • Ein Organisator von Euro-Maidan-Demos in Kharkiv wurde in der Nacht zum 24. Dezember von zwei Maskierten überfallen und liegt nun mit vier Messerstichen schwer verletzt in einem Krankenhaus.
  • Am 22. Dezember wurden zwei Aktivisten zur Aufdeckung von Polizeiwillkür in Donetsk brutal geschlagen.

Diese und noch weitere Vorkommen sind in der ukrainischen Presse nachlesbar und demzufolge in der Ukraine weithin bekannt. Und es zweifelt kaum jemand an einer Verbindung all dieser Fälle zu Parlamentariern der Regierungspartei, wobei einige Vorkommnisse direkt aus höchsten Regierungskreisen angeordnet sein dürften.

 

Übrigens sind Journalisten in der Ukraine seit Janukowitschs Antritt als Präsident ein beliebtes Angriffsziel. Die Übergriffe haben noch zugenommen. Seit Anfang 2013 wurden 101 Journalisten angegriffen und dabei verletzt. In nur fünf Fällen wurden die Anstifter bekannt. Über die Hälfte dieser Übergriffe stehen im Zusammenhang mit den aktuellen Protesten seit dem 21. November.

Angst haben nicht nur Ukrainer. Auch EU-Bürger und andere Ausländer fühlen sich bedroht. Eine Blacklist mit über 30 Personen der SBU (ukrainischer Geheimdienst), die in Verbindung mit den Protesten mit einem Einreiseverbot belegt wurden, ist im Umlauf. Niemand weiß, welche erweiterten Listen existieren. EU-Bürger werden z. B. gegängelt, indem man ihre Arbeitserlaubnis und somit Aufenthaltserlaubnis ohne Angabe von Gründen nicht verlängert, resp. die festgelegte Bearbeitungsfrist von 14 Tagen überschreitet und sie das Land wegen abgelaufener Aufenthaltserlaubnis verlassen müssen. Sollte die aktuelle Regierung bestehen bleiben, ist mit einer beträchtlichen Zunahme solcher Fälle zu rechnen. Insbesondere Gewerbetreibende und Expats, die in der Ukraine leitende Stellen in Unternehmen einnehmen, werden mit Repressionen rechnen müssen.

Besserwisser und Wichtigtuer

Seit über einem Monat dauern die Proteste an. Menschen gingen spontan auf die Straße, unorganisiert und von keiner politischen Gruppierung gelenkt. Die Oppositionsparteien waren nicht die Urheber der Proteste, sondern folgten den Massen und vereinnahmten im Nachhinein die Aktionen für sich. Anschließend übernahm das Oppositions-Dreiergestirn die Leitung.

Im Laufe der Zeit meldeten sich immer mehr "Unterstützer" aus dem In- und vor allem Ausland zu Wort. Aus der EU kamen und kommen Durchhalteparolen und Forderungen auf Gewaltverzicht und direkt an die ukrainische Regierung gerichtet – ach wie furchterregend – "wir beobachten, was Sie tun". Beobachten tun zur Zeit viele: EU, USA, Kanada u.a. Es ist wie mit Überwachungskameras: Diese verhindern keine Straftaten, aber man kann den Straftätern wenigstens bei ihren Taten zusehen. Reality-TV ohne Drehbuch für Parlamentarier und Voyeure.

Inhaltsleere Statements nahmen epidemieartig zu. EU-Parlamentarier sonderten diplomatisches Geschwätz en gros ab. Außereuropäische Politiker stimmten in den Chor mit ein. Ex-Politiker, Kirchenmänner, Promis aus aller Welt meinten, ungefragt und unverlangt unqualifizierte Kommentare dazugeben zu müssen. Hauptsache, wir haben darüber geredet. Selbstgespräche sind auch Gespräche.