Nietzsche als Mutersatz?

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Hermann Josef Schmidt
Hermann Josef Schmidt

SENHEIM. (hpd/gkpn) Im heute vorgestellte Heft “Aufklärung und Kritik” widmet sich Prof. Hermann Josef Schmidt anhand des soeben erschienenen historisch-kritischen Kommentars von Andreas Urs Sommer ausführlich Nietzsches vieldiskutiertem Werk des Jahres 1888.

 

Nach Nietzsches Erstling “Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik”[1] liegen nun auch die sechs Schriften seiner letzten Schaffenphase in umfassender historischer und kritischer Kommentierung auf nicht weniger als 1.661 Seiten vor. Eröffnende These: Wenigstens in seinen Spätschriften habe Nietzsche “weit hinter sich” gelassen, “was man als moralisch-weltanschaulichen Konsens des christlichen Abendlandes bezeichnen könnte.” Seitdem diene er als Mutersatz. Trifft das zu? Und wenn ja, spräche das gegen Nietzsche? Das sei am Beispiel der Kommentierung von “Der Antichrist”, des zentralen, Nietzsches Wagner- und Philosophiekritik ebenso wie Selbstdarstellung bestimmenden Spätwerks, diskutiert.

Wohl noch vor “Also sprach Zarathustra” dürfte “Der Antichrist” diejenige Schrift Nietzsches sein, die bis in die Gegenwart die meiste Aufregung und schärfste Gegenkritik ausgelöst hat.

Christentumsapologetik kann man im deutschen Sprachraum als “vor” und “nach Nietzsches Antichrist” datieren. Erstmals 1895 veröffentlicht, wurde der letzte Untertitel “Fluch auf das Christenthum” bis 1955 und das “Gesetz wider das Christenthum”, das “Der Antichrist” ergänzen sollte, sogar bis 1961 der Öffentlichkeit vorenthalten. So erfolgten Diskussionen lange unter falschen Vorzeichen.

Wie geht Sommer nun bei dem brisantesten der späten Texte Nietzsches vor? Bd. 6 / 2, S.1–322, bietet eine Kommentierung, die an Informationsfülle, Stringenz und Klarheit kaum Wünsche offen lässt. Sie unterscheidet sich jedoch von derjenigen der übrigen fünf späten Texte Nietzsches durch bis in viele Details gehende präzise methodologische und inhaltliche Kritik. Dabei wird “Der Antichrist” in seinem Anspruch nach Strich und Faden zu destruieren gesucht; ohne jedoch christlich-apologetische Ansprüche zu bedienen. Sommer belegt vielfach, dass Nietzsche das Christentum mit dessen eigenen Waffen zu schlagen suche, christliche Wertungen dabei konsequent umkehre, moniert u.a. inkorrekte Nutzung verschwiegener Quellen, Inkonsistenz diverser argumentativer Linien usf. Damit erhalten Gegner wie Befürworter von Nietzsches später Christentumskritik ein schwerlich überbietbares Arsenal kritischer Perspektiven, Argumente etc., das demonstriert, auf welche Weise und mit welchen Methoden anspruchsvolle Texte geröntgt werden können (und sollen).

Nun erst zur Frage, unter welchen Voraussetzungen diese Kanonade kritischer Argumente usf. trifft. Sommers Kritik impliziert, Nietzsche habe mit “Der Antichrist” eine gegenwärtigen Standards entsprechende wissenschaftliche oder philosophische Abhandlung vorgelegt. Gegen diese Annahme sprechen jedoch nicht nur der Erscheinungstermin, sondern zumal der Titel sowie der letzte Untertitel dieser Schrift. In ihr verurteilte Nietzsche das Christentum als “den Einen unsterblichen Schandfleck der Menschheit”, wollte es deshalb “vernichten” und präsentierte hinter der Maske des Antichrist das ihm nach Jahren intensivster Lektüre modernster Literatur zugängliche Ensemble breit gefächerter historisch-kritischer Argumente in rhetorisch optimal aufgerüsteter, fulminanter Polemik. Schließlich beobachtete dieser Pas­torensohn seit seiner Kindheit, dass in Fragen von Religion bei kaum jemandem Argumente ‘ziehen’, dass vielmehr bei fast jedermann und -frau Bluff, Tricks und bestenfalls möglichst beeindruckende Rhetorik wirken. Vorausgesetzt, es handele sich bei “Der Antichrist” intentionsgemäß um ein möglichst effektives, rhetorisch aufgeputztes antichristliches Pamphlet, ist Nietzsches Vorgehen, wie schließlich auch der nicht nur literarische Erfolg bis zur Gegenwart beweist, beeindruckend konsequent.

Dass Nietzsche bereits mit seinem betont antichristlichen Ansatz den “moralisch-weltan­schaulichen Konsens des christlichen Abendlandes” weit “hinter sich” ließ, steht außer Frage. Ob das jedoch für oder gegen Nietzsche spricht, ist von Bewertungskategorien der Beurteilung abhängig. Zeitgenössische Christentumskritiker jedenfalls dürften seit längerem selbst dann von Nietzsches Argumentationen in deren Details nicht abhängig sein, wenn sie seinen Mut weiterhin bewundern und einigen seiner Wertungen eher zustimmen sollten. Zweifelsohne gab Nietzsche zentrale Anregungen, ‘schlug mancherlei Breschen’, doch als Mutersatz dient er wenigstens denjenigen längst nicht mehr, die jenseits rhetorischen Pulverdampfs auf historische, philosophische und zumal ethische Argumentationen setzen, christliche Ansprüche also multiperspektivisch präzise zu sezieren und destruieren vermögen.

Unabhängig davon freilich, ob des Kommentators provokante, kenntnisreiche Kritik an “Der Antichrist” in ihren Prämissen und sämtlichen Details zugestimmt werden kann, haben wir es bei diesen beiden Kommentarbänden zu Nietzsches spätesten Schriften mit einer extraordinären Leistung zu tun: Bis zu 1000 Quellen Nietzsches werden belegt, Schwerpunktthemen werden z.T. bis zu frühen Aufzeichnungen zurückverfolgt, in Überblickskommentaren werden wiederum Fragen der Entstehungs- und Textgeschichte, eigene werkspezifische Äußerungen, Konzeption sowie Strukturen der einzelnen Texte diskutiert, deren Stellenwert in Nietzsches Schaffen berücksichtigt und Informationen zur Wirkungsgeschichte geboten. Auch in den komprimierten, horizontal optimal vernetzten Stellenkommentaren dürften selbst kritischste Leser mehr an gediegener Information finden als erwartet.

Kurz: Dieser an Präzision, Sorgfalt, Differenziertheit, Informationsfülle ebenso wie an bei aller Kritik demonstrierten Problemoffenheit sowie Denkimpulsen reiche und an Courage des Kommentators sogar kaum mehr überbietbare Kommentar ist ein Glücksfall für jeden an Nietzsches späten Schriften ernsthaft Interessierten; und für die Nietzscheinterpretation ohnedies.[2]

Hermann Josef Schmidt

 

Andreas Urs Sommer: Kommentar zu Nietzsches Der Fall Wagner Götzen-Dämmerung. / Kommentar zu Nietzsches Der Antichrist Ecce homo Dionysos-Dithyramben Nietzsche contra Wagner. Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken. Herausgegeben von der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Band 6/1 und 6/2. Berlin/Boston: de Gruyter, 2012, XXI und 698 S., ISBN 978–3–11–028683–0, und 2013, XXI und 921 S., ISBN 978–3–11–029277–0, jeweils 69,95 EUR.


  1. Zum Projekt eines Historischen und kritischen Kommentars der Schriften Friedrich Nietzsches Vgl. “Nietzsche endlich ernst genommen” beim hpd am 15.10.2013  ↩

  2. Die Skizze ist nur eine bescheidene Andeutung einer in der Aufklärerpostille des deutschen Sprachraums, der Zeitschrift Aufklärung und Kritik 1/2014, herausgegeben von der Gesellschaft für kritische Philosophie (www.gkpn.de), vorgelegten Skizze des Vf.s, ihrerseits eine auf 1/5 komprimierte Fassung von Hat Nietzsche den “moralisch-weltanschaulichen Konsens des christlichen Abendlandes” spätestens 1888 “weit hinter sich” gelassen? Wiederum ein provokantes, wohlbelegtes Wagnis: Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken des Jahres 1888, von Andreas Urs Sommer, vorgestellt, diskutiert und zuweilen aus genetischer Perspektive ergänzt (www.f-nietzsche.de/hjs_start.htm).  ↩