Im Buch beschreibt Jang ausführlich die Flucht, erst durch Nordkorea, dann durch China. Dabei hatte er an so vielen Stellen unsagbar viel Glück, dass man sich nicht vorstellen mag, wie viele Menschen es auf eben dieser Route nicht schaffen. Allein die Tatsache, dass die beiden Flüchtigen bei minus 30 Grad im frostigen Nordosten Chinas nicht erfroren sind, obwohl sie mehr als eine Nacht im Freien verbringen mussten, grenzt an ein Wunder.
Drei Nordkoreas?
Jang hatte immer geglaubt habe, dass es zwei Nordkoreas gebe – eines, das den Bürgern vom Regime vorgespielt wird und eines, das die Bürger selbst täglich erfahren und sich von ersterem grundlegend unterscheidet. Nach seiner Flucht merkte er, dass es noch ein drittes Nordkorea gibt – nämlich das vom Ausland konstruierte. Das motivierte ihn dazu, 2012 das Online-Magazins “New Focus” (koreanisch) bzw. “New Focus International” (englisch) zu gründen. Zusammen mit einem Kreis aus Exilanten aus allen Schichten der nordkoreanischen Gesellschaft möchte er Erfahrungen über Nordkorea aus erster Hand schildern, um das Bild, das in der Welt von Nordkorea existiert, zu korrigieren. Es soll insgesamt acht Flüchtlinge geben, die aufgrund ihrer Positionen in Nordkorea detailliertes Wissen über die Machtstrukturen in Pjöngjang besitzen. Sie haben es sich zur Aufgabe gemacht, dieses Wissen an die Öffentlichkeit weiterzugeben, weil es ihrer Meinung nach große Diskrepanzen zwischen ihren Erfahrungen und der Medienberichterstattung über Nordkoreas Machtstrukturen gibt. Desweiteren haben die Herausgeber Kontakt zu einem Netzwerk aus Informanten in der chinesisch-nordkoreanischen Grenzregion, aber auch in Pjöngjang, das aus Diplomaten und Geschäftsleuten bestehen soll.
Die Abteilung “Organisation und Führung”: Kim Jong Ils Machtzentrum
Nach der Exekution von Jang Song Thaek, dem angeheirateten Onkel Kim Jong Uns, im Dezember 2013 erschienen auf New Focus International mehrere Artikel, die eine alternative, aber durchaus nachvollziehbare Theorie zur Machtstruktur innerhalb Nordkoreas beschreiben. Der Kernpunkt dabei ist, dass Kim Jong Un bei weitem nicht die mächtigste Person innerhalb Nordkoreas ist, sondern vielmehr die Marionette einiger Herren im Hintergrund, die der Abteilung “Organisation und Führung” (Organisation and Guidance Department, OGD) vorstehen.
Das OGD hat die Kontrolle über alle personellen Besetzungen in Partei und Militär und den Überwachungsapparat, hat die Macht über Staatsanwaltschaft und Gerichte und kann Kader von den Sicherheitsorganen überwachen lassen. Desweiteren übt es Kontrolle über die Wirtschaft und den Handel aus. Politische Richtlinien der Zentrale in Pjöngjang werden über Zweigstellen in den Provinzen in die Arbeitseinheiten getragen und dort in wöchentlichen Schulungen bekannt gegeben. In die andere Richtung werden Ergebnisse der wöchentlichen Selbstkritiksitzungen aus den Einheiten zurück in die Zentrale gemeldet, ebenso müssen Vorschläge über diesen Informationskanal nach Pjöngjang gebracht werden, wo darüber entschieden wird. Damit ist eine absolute Zentralisierung der Macht gewährleistet. Kim Jong Il hat das OGD in dieser Form aufgebaut, damit die Macht der Partei und damit seine eigene Macht über allen Bereichen der Gesellschaft inklusive dem Militär stehen konnte. So wurde die Herrschaft schleichend vom Vater auf den Sohn übertragen, ohne dass die Öffentlichkeit davon etwas mitbekam. Am Ende seines Lebens soll Kim Il Sung, der 1994 starb, nur noch eine symbolische Figur gewesen sein – die wirkliche Kontrolle über das Land lag längst bei seinem Sohn, der – mit zwei kurzen Unterbrechungen – von Anfang der siebziger Jahre bis zu seinem Tod Ende 2011 der Direktor des OGD war.
Was hat Kim Jong Un geerbt?
Die inneren Strukturen Nordkoreas sollen dergestalt sein, dass – abgesehen von Kim Jong Il selbst – niemand, der in der Öffentlichkeit auftrat, wirklich die Macht hatte. Die Männer, die aufgrund ihrer Loyalität von Kim Jong Il ausgewählt wurden und zum Beispiel als Vize-Direktoren im OGD wirkten, hatten in der Regel keine öffentliche Rolle. Damit konnte die Außenwelt nicht zum Machtsystem durchdringen. Zu Kim Jong Ils Zeiten waren es die Vize-Direktoren, die zwischen der Elite und dem Führer vermittelten. Jeder war für seinen Bereich zuständig, so dass es für eine Person unmöglich war, die Gesamtheit zu überblicken.
Seit dem Tod Kim Jong Ils ist der Posten des OGD-Direktors vakant. Kim Jong Un hat diese Position von seinem Vater nicht geerbt und die Loyalität von Kim Jong Ils Männern ist nicht automatisch auf den Sohn übertragen worden. Sie schickten ihre Berichte direkt zu Kim Jong Il und hatten damit auch die Kontrolle darüber, was der Führer erfuhr und was nicht. Ebenso kontrollieren sie bis heute die Leibgarde für den Führer und können damit entscheiden, wer den Führer sehen darf – und wen der Führer trifft. Kim Jong Il konnte diesen Männern vertrauen, nach der Lesart von New Focus kann Kim Jong Un das nicht.
New Focus veröffentlichte die Namen derjenigen, die die mächtigsten Männer in Nordkorea sein sollen, allesamt erste Vize-Direktoren im OGD: Jo Yon Jun (Organisationsstrukturen), Hwang Pyong So (militärische Strukturen) und Kim Kyong Ok (Überwachungsstrukturen, möglicherweise de facto der Leiter des OGD). Aber selbst wenn diese Männer mächtiger sind als der “Führer”, sind sie trotzdem auf ihn angewiesen: Er ist absolut notwendig, um das System, das auf dem Personenkult um die Kim-Familie gebaut wurde, am Leben zu erhalten.
Von einem Generationswechsel wurde oft in Zusammenhang mit den Säuberungen der letzten Jahre gesprochen: Von den sieben Personen, die zusammen mit Kim Jong Un den Leichenwagen von Kim Jong Il begleitet hatten, sind fünf inzwischen von der Bildfläche verschwunden. Keiner von ihnen war jedoch ein höherer Funktionär im OGD (abgesehen von Ri Yong Ho, dem ehemaligen Generalstabschef, der von New Focus als “OGD-Mann” beschrieben wird).
Der Fall Jang Song Thaek
Die mit Abstand prominenteste dieser Säuberungsaktionen war die Exekution von Jang Song Thaek, die nach New Focus vom OGD veranlasst wurde und keineswegs Kim Jong Uns Macht gestärkt hat. In einer Sitzung des Politbüros wurde Jang Song Thaek kurz vor seiner Hinrichtung von der Partei ausgeschlossen. Aber nicht das Politbüro soll diese Entscheidung getroffen haben, sondern das OGD. Die nordkoreanische Elite weiß das und kann ihre eigenen Schlüsse ziehen, wenn Kim Jong Un schweigend einer Sitzung des Politbüros vorsteht, in der Anklage über Anklage gegen seinen eigenen Onkel vorgebracht werden. Auch die Inszenierung dieser Veranstaltung sei sehr ungewöhnlich: Während der Regentschaft Kim Jong Ils gab es nur ein uniformes Verhalten. Alle saßen gerade da, schrieben, wenn sie schreiben sollten, und stimmten unisono ab, wenn es etwas abzustimmen gab. Aber jetzt wurde deutlich gezeigt, dass sich manchmal nur ein paar Kader meldeten, die Funktionäre sich teilweise zur Seite lehnten oder ihre Hand abstützten. Solch ein Verhalten wäre unter Kim Jong Il bestraft worden. Die Bilder der Sitzung wirkten für ein geschultes Publikum so, als sei Kim Jong Un gar nicht anwesend gewesen. Ebenso wurde keine Rede Kim Jong Uns überliefert, auch undenkbar zu Zeiten Kim Jong Ils, wo man mindestens eine “Große Anleitung” zu Beginn erwartet hätte. Kim Jong Uns Anwesenheit diente nur dazu, das Treffen zu legitimieren.
Vor dieser Sitzung, als die Entscheidung über Jang getroffen wurde, war Kim außerdem nicht in Pjöngjang, sondern weit im Norden des Landes unterwegs. Er war möglicherweise überhaupt nicht involviert und wurde später vor vollendete Tatsachen gestellt.
Nordkoreas Botschaft an die Außenwelt war, dass jeder, der die Position Kims infrage stellt, rücksichtslos beseitigt wird. Aber innerhalb Nordkoreas wird, wenn selbst in der herrschenden Familie ein Verbrecher und vermeintlicher Gegner der Führung gefunden wird, die makellose Legitimität der Kim-Familie bedroht. Die Anklagen gegen Jang, insbesondere die „unangemessenen Beziehungen zu mehreren Frauen“ sind ein Angriff direkt gegen die Kim-Familie, denn Jang war mit Kim Jong Ils Schwester verheiratet. Wäre Kim Jong Un derjenige, der die Macht hat, hätte das OGD diese öffentliche Anklage verhindert, denn dann würde es jeden möglichen Schaden von Kim abwenden.