(hpd) Peter Boldt stellt in diesem Buch die These auf, dass Religionen einen evolutionären Vorteil böten. Familien, Gruppen, Sippen und später Völker haben nach Boldt durch den Zusammenhalt, den Glauben und Religion bieten, sich gegenüber anderen Gruppen abgrenzen und den eigenen Zusammenhalt stärken können.
Boldt widerspricht mit seiner These der von Dawkins im „Gotteswahn“ aufgestellten Annahme. Richard Dawkins stellt darin Glauben und Religion als Nebenprodukt der menschlichen Entwicklung dar, was auch mir etwas vordergründig vorkam.
Hingegen erscheint mir die Idee von Boldt schlüssig und nachvollziehbarer. Auch mein eigener – und sehr aktueller Eindruck – ist, dass sich Gruppen und Gemeinschaften sehr wohl über ihre Religionszugehörigkeit definieren; auch wenn sie sonst nicht viel gemeinsam haben. Zudem würde die Boldt’sche These auch eine Erklärung liefern für das aktuelle Erstarken von Religionen in ihrer extremsten Ausprägung. Wo die Welt sich immer globaler zeigt, da kann eine strikte Religion ein Wir-Gefühl erzeugen, dass sich für den Einzelnen wohltuend vom unverständlichen Außen abgrenzt.
So schreibt Boldt dann auch über Untersuchungen, die den Nachweis bringen, dass religiöse Menschen oft mit Stresssituationen besser umgehen können (und diese sich seltener in psycho-somatischen Erkrankungen niederschlagen). Das so jedoch so stehen zu lassen, würde der atheistischen Überzeugung des Autors natürlich nicht entsprechen. Und so versucht er einen Beweis anzutreten, dass sich in der modernen Welt ethische und moralische Werte auch aus anderen als religiösen Quellen speisen lassen.
Das ist der Bogen, den das Buch spannen möchte. Allerdings gibt es meiner Meinung nach auch ein paar erhebliche Schwachpunkte im Text. So schreibt Boldt bereits am Anfang seines Buches darüber, dass religiöse Menschen deshalb mehr Kinder (als vergleichbare Nichtgläubige) haben, weil sie zufriedener mit ihrem Leben sind. (Seite 50) Dabei ignoriert er, dass Kinderreichtum vor allem eines bedeutet: größere Armut. Er vergisst, dass durch das Verbot der Verhütung z.B. der katholischen Kirche diese Kinder bei weitem nicht in glücklichere Familien hineingeboren werden. Insofern bin ich der Auffassung, dass Boldt an dieser Stelle Ursache und Wirkung verwechselt.
So gibt es über das gesamte Buch verteilt immer wieder unerklärte Mitteilungen, die leicht den Widerspruch des Lesers herausfordern können. Etwa dann, wenn Peter Boldt davon spricht, dass es die mächtigsten Staaten sind, deren Kultur, Wissenschaft und Bildung am höchsten entwickelt ist (Seite 80).
Ab der Mitte des Buches beginnt der Autor dann über die Möglichkeiten einer nicht-religiösen Moral und Ethik nachzudenken. Dabei beruft er sich vor allem auf die Aufklärung und Kant. Wobei er – sehr zu meinem Beifall – davon ausgeht, dass auch wir als aufgeklärte, atheistische Mitteleuropäer nicht frei sind von christlichen Wertvorstellungen, da diese Bestandteil unserer Kultur sind; der Kultur, in der wir aufwachsen.
Boldt lockert sein Buch mit persönlichem Erleben auf. Und so findet sich dort ein wunderbarer Satz wie dieser: „So entstand bei mir beim Lesen, insbesondere des katholischen Katechismus, das innere Bild eines Bauwerkes von großer Schönheit, das zugleich aber … Zeugnis einer (fast) vergangenen Epoche ablegt.“
Einen Kerngedanken seiner Theorie begründet Boldt in nur einem Kapitel. Hier schreibt er – Bezug nehmend auf die modernen Erkenntnisse über Spiegelneuronen – darüber, dass sich tatsächlich beweisen lässt, dass und wie Abgrenzung funktioniert. Und dass sie funktioniert, ohne dass der Mensch sich dessen bewusst wird. An diesen – in der Biologie des Menschen verankerten – Funktionen lässt sich zeigen, wie Gruppen und Abgrenzungen funktionieren (dass sich Gruppen vor allem auch durch Abgrenzung definieren) und welchen Anteil daran ein gemeinsamer (verbindender) Glaube haben kann; haben muss. Und so – völlig befreit von der weiter vorn im Buch angeführten Theorie der Gruppenselektion – stellt sich der Mensch dar als ein soziales Wesen, dessen ureigenste Taten nicht freiem Willen unterliegen, sondern naturbedingt sind. (Und für mich erklärt das auch die Notwendigkeit von religiösem Denken: der Mensch braucht eine Erklärung für das Unerklärliche.)
Gute fünfzig Seiten des etwas mehr als 200 Seiten umfassenden Buches nimmt ein Exkurs in des Autors zweite Passion ein: die Gruppentherapie. Mir erschließt sich leider nicht so ganz, weshalb dieser Part so ausufernd in diesem Buch zu Worte kommt. Allerdings sind die drei angeführten Cohn’schen Thesen es tatsächlich wert, auch hier zitiert zu werden:
- Der Mensch ist eine psycho-biologische Einheit und Teil des Universums. Er ist darum gleicherweise autonom und interdependent. Die Autonomie des Einzelnen ist umso größer, je mehr er sich seiner Interdependenz mit allen und allem bewusst wird.
- Ehrfurcht gebührt allem Lebendigen und seinem Wachstum. Respekt vor dem Wachstum bedingt bewertende Entscheidungen. Das Humane ist wertvoll; Inhumanes ist wertebedrohend.
- Freie Entscheidung geschieht innerhalb bedingender innerer und äußerer Grenzen. Erweiterung dieser Grenzen ist möglich.
Die letzten zwei Kapitel widmet Peter Boldt der Aussicht auf eine Moral aufgrund atheistischer Werte. Meiner Meinung nach greift er hier etwas zu kurz. Er fasst das im Buch Dargestellte zusammen und formuliert den Ist-Zustand. Versäumt jedoch meiner Meinung nach, einen Blick in die Zukunft zu wagen und Thesen aufzustellen, auf welcher Grundlage ein atheistisches Moral- und Ethikverständnis beruhen kann. Dies ergibt sich zwar zum Teil aus dem Kontext des Buches, hätte am Ende jedoch noch einmal zusammenfassend dargestellt werden sollen.
Abgesehen von der erwähnten Kritik ist das Buch auf jeden Fall lesenswert. Die von Boldt aufgestellte These, dass Glauben und Religion einen evolutionären Vorteil ergeben, ist tatsächlich bemerkenswert und interessant. Dazu kommt, dass das Buch flüssig geschrieben ist und sich gut lesen lässt. Auch und gerade von Leuten, die sich dem Thema erstmalig zuwenden.
Frank Navissi
Peter Boldt: Die Evolution des Glaubens und der Ethik. Frankfurt: RG Fischer, 2009, 224 Seiten. ISBN-13: 978-3830112402, EUR 12,80.