Hochspannung! Anthropologie.

(hpd) Ich möchte mit den folgenden Anmerkungen Lust machen, ein Buch zur Hand zu nehmen und zu lesen, das ohne Frage als ein Grundlagenwerk menschlichen Selbstverstehens und als Entwurf einer Art Rahmentheorie auch für jede Form von Bildungsarbeit betrachtet werden kann.

Es geht in diesem Werk darum, das über weite Strecken der menschlichen Geschichte (als der Geschichte der selbstinitiierten Menschwerdung des Menschen) wenn nicht heimliche, so doch verborgene und unerkannte Curriculum solcher Humanisierung zu „explizieren“. Das heißt: Der Autor dreht die Bühne, auf der dieses Stück seit Tausenden von Jahren in ungezählten Wiederholungen und Abänderungen gespielt wird, soweit, dass aus einer neuen Perspektive etwas erkennbar wird, was vorher nur undeutlich oder verzerrt zu sehen war: jenseits aller Sorgen um die äußeren „materiellen Verhältnisse“, in denen sie leben, sind Menschen seit jeher einer inneren „Vertikalspannung“ ausgesetzt, einem „Zug nach oben“, der ihrem Leben Form gibt.

Das Buch mit seinen mehr als 700 Seiten - erschienen nur drei Jahre nach dem politisch-psychologischen Essay „Zorn und Zeit“ desselben Autors - zeichnet sich durch eine kaum vorstellbare Fülle des verarbeiteten Materials aus (ohne den Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben, der selbst auf weiteren 700 Seiten nicht eingelöst werden könnte). Ebenso durch einen sprachlichen Duktus, der nur einem Autor zur Verfügung steht, der Hand, Herz und Kopf frei hat für jedwedes intellektuelle Gefecht und unerschrockene Aufklärung.

Worum geht es im Einzelnen?

Die genannte Vertikalspannung war die längste Zeit der überschaubaren menschlichen Geschichte (insbesondere seit Abrahams Begründung der monotheistischen Religionen vor mehr als 3000 Jahren) religiös codiert; will sagen: dieser Zug nach oben bzw. von oben wurde als göttliche Kraft und Anforderung verstanden. Das obere Ende dieses imaginären Seils war genau zu lokalisieren. Es war die Hand Gottes, die es festhielt und es war das göttliche Auge, das alle menschlichen Kletterbewegungen mit nicht erlahmender Aufmerksamkeit verfolgte. Und es war wiederum die göttliche Hand, die all diese Versuche, Höhe zu gewinnen, in das große Buch eintrug, um sie am Ende der Geschichte für die große Abrechnung dokumentiert zu haben.

Es bedarf keines Nachweises, dass die Selbstverständlichkeit solch religiöser Codierung seit geraumer Zeit abhanden gekommen ist. Dabei bleibt festzuhalten: entgegen allen religiös motivierten und interessierten Prophezeiungen, dass ohne eine personifizierte Gottheit am anderen Ende jede Hochspannung, jede Vertikalität aus dem menschlichen Leben verschwinde und nichts als nackte Lebenssorge, Verzweiflung oder plattes Entertainment zurückbleibe, zeigt sich, dass es, unabhängig von religiösen Konstruktionen, einen genuin menschlichen Zug nach oben gibt, dass mit einer internen menschlichen Vertikalität, mit einem Streben nach Höhe, Steigerung, Vollkommenheit zu rechnen ist. Der Begriff „Spiritualität“ - nicht selten für allerlei undurchsichtige esoterische Praktiken reserviert - benennt, in richtiger Anwendung, eben diesen Sachverhalt. „Spirituell“ lebt, wer dieser eigenen inneren Notwendigkeit Folge leistet.

An dieser Stelle kommt der Titel unseres Buches in Betracht. Nicht zufällig ist es keine der monotheistischen Religionen (mit ihren schwerfüßigen, anti-artistischen Verbotsmoralen), die den jungen Rilke zu Beginn des letzten Jahrhunderts anspricht und im Innersten berührt. Es ist ein antikes (also vor- und außer christliches) Kunstwerk, ein archaischer Torso des Apoll, der im Pariser Louvre zu ihm spricht und dessen Rede er in einem Sonett festhält. Was er, dieses Kunstwerk betrachtend, vernimmt, ist ein unausweichlicher Imperativ. Der Stein blickt ihn an und scheint etwas zu sagen, das er, wenn er genau hinhört, nur selbst zu sich sagen kann, um damit seinem eigenen innersten Trieb zu gehorchen: Du musst dein Leben ändern! Es ist das Vorbild, das Modell einer inneren und äußeren Vollkommenheit, die ihn unwiderstehlich antreibt und ihm verbietet, sein Leben in schlichter Gewöhnlichkeit weiterzuführen.