„Die Wahnvorstellung Gott“ - Richard Dawkins Meisterwerk zum Thema Religion. Sie möchten wissen, warum Gott nicht existiert?
The God Delusion ist ein großes Buch. In der gebundenen Ausgabe vom britischen Verlag Bentam Press ist es deutlich größer als so manche Bibel. Der Einband zeigt in riesigen Buchstaben den Namen des Verfassers, darunter ruht Gott inmitten einer Detonationswelle aus roten Strahlen. Der Zoologe und Wissenschaftspuplizist Richard Dawkins meint es wirklich ernst.
Hintergrund
Der gesellschaftliche Hintergrund dieses Buches ist die Zunahme des religiösen Fundamentalismus im mittleren Osten und in den USA, der zunehmend gefährlich wird für das verhältnismäßig aufgeklärte Europa und für die betroffenen Länder selbst. Religiöse Dogmen diskriminieren Frauen und Homosexuelle, Atheisten und Andersgläubige müssen für ihre Überzeugungen in vielen Ländern mit ihrem Leben bezahlen. Vergewaltigten Frauen wird eine Abtreibung untersagt, Todkranke müssen bis zum bitteren Ende leiden, weil keine Sterbehilfe geleistet werden darf. Einflussreiche Anhänger der kruden Pseudowissenschaft Intelligent Design bringen den Schöpfungsmythos in die Lehrpläne. All dies seien nur die übelsten Auswüchse einer Weltanschauung, welche das eigentliche Problem darstelle: Religion.
So zumindest die Meinung von Richard Dawkins, ein Atheist, der den Unglauben aktiv verbreiten möchte. Bereits in der BBC-Dokumentation Der blinde Uhrmacher von 1987 legt sich der Evolutionsbiologe mit amerikanischen Kreationisten an, die glauben, dass Dinosaurier und Menschen zur gleichen Zeit gelebt haben und die Erde nicht mehr als 10 000 Jahre alt ist. Es folgten Aufsätze wie „Time to stand up“, Dawkins wütender Kommentar zu den Anschlägen vom 11.9., nachzulesen in The Devil‘s Chaplain, und zuletzt seine Channel-4-Doku The Root of all Evil?, die bereits einige Argumente von The God Delusion vorweg nimmt.
Inhalt und Kritik
The God Delusion wird im Herbst 2007 von Ullstein in Deutschland veröffentlicht werden, wie der hpd in Erfahrung bringen konnte. Diese Rezension soll schon jetzt einen Einblick in das Buch ermöglichen, das im englischsprachigen Ausland bereits einen großen Einfluss auf die Debatte um die Religion hat. Dafür werden Zitate und Kapitelüberschriften vom Rezensenten ins Deutsche übersetzt.
Kapitel 1: Ein tief religiöser Ungläubiger
In diesem Kapitel kritisiert Dawkins Wissenschaftler, die sich einer religiösen Sprache bedienen, obwohl sie nicht an Gott glauben. Damit verwischen sie die Grenzen der unvereinbaren Gegenpole Wissenschaft und Religion. Es wird auch mit dem Mythos aufgeräumt, Albert Einstein sei religiös gewesen, tatsächlich hat er nicht an Gott geglaubt und musste sich dafür herbe Kritik gefallen lassen. Wie viele Philosophen und Wissenschaftler beschrieb er mit "Gott" die Summe der Naturgesetze- und phänomene.
Im Folgenden setzt sich Dawkins mit dem unverhältnismäßigen Respekt auseinander, der Religionen in unserer Gesellschaft entgegen gebracht wird. Es sieht so aus, als dürfte man sich viel mehr erlauben, wenn man es nur religiös begründet. In England gibt es eine staatlich geförderte Welle von „faith schools“, fundamental-religiöse Schulen, die zahlreiche Kinder sehr einseitig und auf zweifelhafter Basis erziehen. Dort lernen sie, ihr "heiliges" Buch beim Wort zu nehmen. Der große Aufschrei bleibt aus, schließlich geht es um Religion. Man denke auch an den Karikaturenstreit und wie viele westliche Medien sich so verständnisvoll gaben für die verletzten religiösen Gefühle der Muslime, die in keinem Verhältnis standen zur Provokation der rechten Zeitung Jyllands-Posten. Jeder Politiker, jeder Prominente, jede öffentliche Person muss sich Karikaturen gefallen lassen. Warum sollte das mit religiösen Figuren nicht möglich sein, spätestens seit der Aufklärung ist die Parodie der Religion in Europa schließlich Tradition und fester Bestandteil der demokratischen Kultur. Warum nimmt man zum Beispiel die Behauptung, Gott habe etwas gegen Homosexuelle, überhaupt ernst? Was macht Grausamkeiten unbedenklich, wenn sie mit dem Stempel „Religion“ versehen werden? Dawkins jedenfalls nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn er diese Dinge kritisiert.
Kapitel 2: Die Gottes-Hypothese
Im Unterkapitel Polytheismus geht es nur am Rande um polytheistische Religionen, die von der monotheistischen Konkurrenz ähnlich geringschätzig behandelt werden wie der Atheismus. Stattdessen nimmt sich Dawkins die Dreifaltigkeit und die Heiligenverehrung des Christentums vor. Er zeigt auf, dass es nicht einmal so klar ist, ob das Christentum eine Ein-Gott-Religion ist oder nicht. Schließlich werden sowohl dem Heiligen Geist, Jesus, Gott-Vater und heilig gesprochenen Menschen göttliche Fähigkeiten nachgesagt. Dawkins lehnt eine allzu genaue Differenzierung des Gottes-Begriffes ab, was er in einer programmatischen Passage erläutert:
„Ich greife keine spezielle Version von Gott oder Göttern an. Ich greife Gott an, alle Götter, alles und jedes Übernatürliche, gleich wo oder wann sie erfunden worden oder erfunden werden.“
Im Folgenden weist Dawkins nach, dass die Vereinigten Staaten von Amerika nicht auf der christlichen Religion basieren. Hierzu zitiert er Dokumente und Politiker aus der Entstehungszeit der USA. Ein Zitat aus dem Tripolis-Vertrag, den George Washington anfertigte und John Adams 1797 unterzeichnete, belegt diese Behauptung bereits eindrucksvoll:
„(...) Regierung und Staatswesen der Vereinigten Staaten von Amerika basieren in keiner Weise auf der christlichen Religion (...)“
Trotz dieses Umstandes werden Atheisten in Amerika wie Menschen zweiter Klasse behandelt. Dawkins erwähnt einen Fall, in dem ein Atheist einfach nur deshalb ermordet wurde, weil er nicht an Gott glaubte. So etwas kommt dann allerdings eher selten vor.
Nun geht es um den Agnostizismus und warum in der Gottesfrage nichts davon zu halten ist. Zwar kann man nicht beweisen, dass Gott nicht existiert, dies liegt aber nur daran, dass man Nicht-Existenz prinzipiell nicht wissenschaftlich beweisen kann. Es gibt jedoch keinen besseren Grund, von Gottes Existenz auszugehen, wie von der Existenz von Elfen oder Trollen. Dawkins unterscheidet sieben Kategorien vom starken Theisten bis zum starken Atheisten. Er selbst ordnet sich bei Kategorie sechs ein, tendiert allerdings zu sieben. Dies bedeutet, dass er so lebt, als gäbe es keinen Gott, obwohl er es nicht mit absoluter Sicherheit bestimmen kann, er jedoch aufgrund der geringen Wahrscheinlichkeit von Gottes Existenz dazu neigt, zu sagen, dass er weiß, dass Gott nicht existiert.
Der Evolutionsbiologe Stephen Jay Gould brachte eine weit verbreitete Vorstellung auf den Punkt, laut der Wissenschaft und Theologie unterschiedliche Fragen behandeln. Die Wissenschaft behandelt die Fragen, woraus das Universum besteht (Fakten) und wie es funktioniert (Theorien). Die Theologie geht seiner Ansicht nach darüber hinaus und kümmert sich um die so genannten „letzten Fragen“, die von höherer Bedeutung sein sollen. Dawkins legt dar, warum diese Unterscheidung keinen Sinn ergibt und warum etwa die Fragen nach dem Ursprung des Lebens oder nach der Existenz eines Gottes sehr wohl wissenschaftliche Fragen sind.
Dawkins zeigt auf, wie haarsträubend das „Große Gebets-Experiment“ des Arztes Russel Stannard war, laut dem Gebete einen heilenden Effekt auf Kranke hätten haben sollen. Das Ergebnis des Experiments lautete, dass die Kontrollgruppe, für die gebetet wurde, mehr Komplikationen erleiden musste, als die andere. Dies kann man mit dem Vorführungseffekt begründen, also mit der Nervosität und dem Stress der Patienten, die glaubten, jetzt erst recht gesunden zu müssen.
Im nächsten Teilkapitel reagiert Dawkins auf Anschuldigungen von anderen Atheisten, die ihn dafür kritisieren, moderate Gläubige anzugreifen. Er hätte sich mit ihnen verbünden können, um gegen Kreationisten vorzugehen. Dawkins Ansicht zufolge besteht die große Auseinandersetzung jedoch nicht zwischen Evolution und Kreationismus, sondern zwischen Rationalismus und Aberglauben.
Im letzten Teil des Kapitels geht Dawkins auf die Existenz oder Nicht-Existenz von Außerirdischen ein. Er meint, dass dieses Thema der optimale Fall für Agnostizismus sei. Es gibt gute Argumente für und gegen die Existenz von Außerirdischen. Er selbst vermutet, dass sie existieren. Wenn die Wahrscheinlichkeit für intelligentes Leben außerhalb unserer Welt eine Billion zu eins wäre, dann gäbe es immer noch eine Billion Planeten mit intelligentem Leben darauf. Dawkins schätzt, dass es Planeten mit Außerirdischen gibt, die uns so weit überlegen sind, dass wir sie für Götter halten könnten. Der Unterschied besteht jedoch darin, dass sie das Ergebnis einer langen Evolution wären. Solche gottähnlichen Wesen könnten also nicht am Anfang des Universums gelebt und es erschaffen haben, weil dem Zeitpunkt der Schöpfung logischerweise kein Evolutionszeitraum voraus ginge.
Kapitel 3: Argumente für Gottes Existenz
In diesem Kapitel nimmt sich der Wissenschaftsautor die angeblichen Gottesbeweise und andere Argumente für Gottes Existenz vor. Dieses Kapitel ist recht amüsant, denn Dawkins kann sich nicht zurück halten, besonders abstruse Argumente zu parodieren. So verlegt er die Diskussion um das ontologische Gottesargument auf einen Kinderspielplatz, wo es aufgrund seiner Infantilität hingehöre. Er begnügt sich jedoch nicht mit Parodien, sondern widerlegt die vergleichsweise besten Argumente für Gott mal wissenschaftlich, mal philosophisch, je nachdem, was gerade angemessen erscheint.
Kapitel 4: Warum es beinahe mit Sicherheit keinen Gott gibt
Dawkins beginnt dieses Kapitel mit einer Erklärung, warum die Evolutionstheorie eben nicht behauptet, das Leben sei durch Zufall entstanden. An sich ist es nichts Neues, dass natürliche Selektion nicht mit Zufall gleich zu setzen ist, sondern einen evolutionären Mechanismus bezeichnet, der die Lebewesen bevorzugt, welche am besten an ihre Umwelt angepasst sind. Trotzdem wird diese Behauptung von ID-Anhängern immer wieder aufgeworfen.
Hierauf interpretiert Dawkins natürliche Selektion als Bewusstseins-Erzeuger (“Consciousness-Raiser“). Dies bedeutet, dass die Evolution sehr viel besser die Entstehung des Lebens erklären kann als jedes andere Modell und uns einige wichtige Dinge über die Welt erstmals bewusst macht, die vorher im Dunkeln lagen. Es verwundert ihn, dass immer wieder Theologen die Evolution als die Art und Weise verstehen, wie Gott die Welt erschuf, obwohl diese Theorie ohne Gott auskommt.
„Irreduzible Komplexität“ ist eines der wissenschaftlich klingenden Modebegriffe des Intelligent Design. Er bedeutet, dass bestimmte Lebewesen sich nicht allmählich entwickelt haben können, sondern auf einmal erschaffen worden sein müssen, weil etwa ein halbes Auge keinen Sinn ergeben würde. Es gab noch niemals ein Lebewesen mit einem halben Auge, jedoch gab und gibt es Tiere, deren Sehvermögen im Vergleich zu unserem eingeschränkt ist und deren Augen nicht so weit entwickelt sind wie unsere. Bisher wurde noch kein Fall von irreduzibler Komplexität nachgewiesen, wobei Dawkins einräumt, dass ein solcher Fall die gesamte Evolutionstheorie zum Einsturz bringen würde.
Lücken in der Evolutionstheorie sind das nächste Thema, da sie von Kreationisten besonders betont werden. Tatsächlich ist es kein Wunder, dass es Lücken in der Evolutionstheorie gibt. Andernfalls müssten wir zum Beispiel sämtliche Fossilien aller Lebewesen schon entdeckt haben. Kreationisten weisen auch darauf hin, dass laut Evolution alle Lebewesen perfekt sein müssten, etwa immun gegen Gifte. Dawkins argumentiert, dass dies vielmehr für Design gelte, denn warum sollte Gott unvollkommene Geschöpfe entwerfen?
Hierauf nimmt sich Dawkins die planetare und kosmologische Version des anthropischen Prinzips vor. Es ist zwar sehr unwahrscheinlich, dass auf einem Planeten Leben entsteht, es gibt jedoch so viele Planeten, dass es durchaus vorkommen kann. Das selbe gilt für die Existenz eines Universums, das Leben ermöglicht. Es ist zwar sehr unwahrscheinlich, noch viel unwahrscheinlicher ist jedoch die Existenz eines Gottes, der alle Variablen so einstellt und berechnet, dass am Ende unser Universum dabei heraus kommt.
Zuletzt geht Dawkins auf weitere Argumente ein, die ihm gegenüber geäußert wurden. Die Templeton Foundation bezahlt Wissenschaftler dafür, dass sie auf ihren Konferenzen erscheinen, außerdem vergibt sie hoch dotierte Preise für jeden von ihnen, der Christentum und Wissenschaft für kompatibel hält. Laut Dawkins ist dies für viele seiner Kollegen der einzige Grund, sich auf eine solche Weise zu äußern. Er zitiert als Beleg einige gekünstelte Argumente von Wissenschaftlern, die in Verbindung mit der Templeton Foundation stehen. Einer der Vorwürfe, die Dawkins oft entgegen gebracht werden, lautet, seine Religionskritik sei „19. Jahrhundert“. Das bedeutet, er soll keine direkten Fragen stellen wie „Glauben Sie an Wunder?“ oder „Glauben sie an die Jungfrauengeburt?“, weil das die Aufklärer im 19. Jahrhundert getan haben. Heute wird dies als unhöflich angesehen, unhöflich deshalb, weil, wenn die Antwort „Ja“ lautet, sich die Gläubigen damit selbst lächerlich machen könnten. Eine Gefahr, denen sie Dawkins unhöflicherweise aussetzt.
Kapitel 5: Die Ursprünge der Religion
Aus Sicht der Evolution ist Religion eine gewaltige Zeit- und Energieverschwendung. Warum existiert sie trotzdem?
Zunächst einmal stellt Dawkins einige Theorien vor, welche die Religion erklären sollen und argumentiert, warum sie meist nicht funktionieren. Eine dieser Theorien ist die Gruppen-Selektion. Sie besagt, dass Gruppen von Menschen aufgrund ihrer Religion zum Überleben und Fortpflanzen selektiert werden, da sich hierdurch der Zusammenhalt innerhalb der Gruppe erhöhe. Dawkins hält nichts von Gruppen-Selektion. Sie kann zwar vorkommen, stellt jedoch keinen eigenen evolutionären Mechanismus dar, was er überzeugend erläutert. Religion, so seine eigene Theorie, ist vielleicht ein Nebenprodukt anderer Mechanismen. Das könnte so funktionieren:
Die Psyche von Kindern ist darauf eingestellt, ihren Eltern zu glauben. Dabei handelt es sich um einen Überlebensmechanismus. Sie müssen ihren Eltern zum Beispiel glauben, dass sie bestimmte Dinge essen dürfen und andere nicht, damit sie sich nicht vergiften. Es handelt sich um einen Mechanismus, der zur vagen Orientierung dienen soll. Als solcher ist er leicht anfällig für eine Infektionen durch Viren, zum Beispiel Religionen. Die Kinder glauben die Inhalte der Religion ihrer Eltern, auch wenn diese aus evolutionärer Sicht keinen Sinn ergeben. Dawkins weist darauf hin, dass es sich nur um eine von vielen Theorien handelt, und dass sie noch nicht konkret ausgearbeitet wurde.
Um diesen Gedankengang weiter zu verfolgen: Kinder emanzipieren sich in der Pubertät von ihren Eltern bis zu einem gewissen Grad und entwickeln eigene Gedanken. Bei Religionen scheint das nur selten zu funktionieren, schließlich handelt es sich um komplette Weltanschauungen, noch dazu mit dogmatisch vertretenen Inhalten, die aufrecht erhalten werden von der näheren Umgebung der indoktrinierten Kinder. Wenn alle oder fast alle Freunde und Verwandten des Kindes an dieser Religion festhalten, wird das Kind eine minder große Neigung dazu haben, den Glauben in Frage zu stellen. Leider verkennt Dawkins die Bedeutung von sozialen Netzwerken. Auf der Atheistenkonferenz Beyond Belief 2006 wurde er darauf hingewiesen, dass die meisten Menschen lieber ihren Glauben entgegen aller Vernunft erhalten werden, als ihre Familie aufzugeben, falls nötig. In den Vereinigten Staaten offenbar ein großes Problem. An seiner Theorie ändert das jedoch nichts.
Im Folgenden geht Dawkins auf weitere Nebenprodukt-Theorien ein, diesmal seitens der Evolutionspsychologie. Laut dem Psychologen Paul Bloom sind Menschen geborene Dualisten. Das heißt, dass sie Körper und Geist voneinander getrennt betrachten, was Religionen mit ihrer Kreation Seele ausnutzen. Monisten – die meisten Naturwissenschaftler sind Monisten – betrachten Körper und Geist als untrennbare Einheit. Neben vielen weiteren Vorschlägen erwähnt Dawkins die Nebenprodukt-Theorie der romantischen Liebe. Die „besessene“ Form von Liebe, laut der man auf Wunsch des Partners sogar töten würde, sei „verrückt“. Laut dieser Theorie lieben Gläubige Gott, also eine fiktive Person, anstelle einer echten. Zweifellos haben es viele Gläubige schon oft bekundet und bewiesen, dass sie Gott lieben.
Dies erklärt jedoch noch nicht, wie sich Religion verbreitet und wie die Details zustande kommen. Dawkins Memetik zufolge verbreiten sich kulturelle Informationen so ähnlich wie Viren, weshalb er auch des öfteren Religionen als Viren bezeichnet. Die einzelnen Glaubensinhalte wie „Du wirst deinen eigenen Tod überleben“ sind Meme, die sich innerhalb eines Memplexes, wie etwa dem katholischen Glauben, befinden, zu dem mehrere solcher Meme gehören. Ein Mem verbreitet sich desto schneller, je besser es mit der menschlichen Psyche kompatibel ist.
Eine der witzigsten und enthüllendsten Passagen in Dawkins Buch beschäftigst sich mit den Cargo-Kulten von Neuguinea, die unabhängig von der Ursprungsregion auch in Neu-Kaledonien, auf Fiji und in anderen Gebieten entstanden sind. Verschiedene Ureinwohner-Stämme haben festgestellt, dass die weißen Missionare, Soldaten, Verwalter etc. niemals Dinge herstellen oder reparieren. Wenn sie etwas brauchen, wird es auf Frachtschiffen ("cargo-ships") geliefert. Stattdessen tun die weißen Männer viele seltsame Dinge. Sie hören kleinen Kästen zu, die verzerrte Töne von sich geben, sie bauen Mäste mit Kabeln daran und einige von ihnen tragen identische Kleider und laufen immer auf und ab. Keine Frage: Das mussten rituelle Handlungen sein, um die Götter davon zu überzeugen, noch mehr Frachtschiffe zu schicken. Die meisten Cargo-Kulte sind davon überzeugt, dass am Tag der Apokalypse ein bestimmter Messias kommen wird. Bei einem der Kulte trägt dieser Messias den Namen John Frum. Er wird in offiziellen Aufzeichnungen der Regierung vereinzelt erwähnt, aber es ist nicht sicher, ob es ihn wirklich jemals gab. Auf jeden Fall soll er wiederkehren, die weißen Menschen vertreiben, die Kranken heilen und natürlich für reichlich Fracht für die Eingeborenen sorgen. Darauf angesprochen, dass John Frum nun schon seit 90 Jahren nicht mehr aufgetaucht ist, antwortete Hohepriester Nambas: „Wenn ihr 2000 Jahre auf Jesus Christus warten könnt, und er kommt einfach nicht, dann kann ich gewiss länger als 90 Jahre auf John warten.“ Dieses Teilkapitel ist so umwerfend komisch und bezeichnend, dass sich allein dafür schon die Anschaffung des Buches lohnt. Der Dank gebührt allerdings David Attenborough, der diese Kulte erforscht hat.
Kapitel 6: Die Ursprünge der Moral: Warum sind wir gut?
„Warum sind wir gut?“ Dieser Frage voraus gehen müsste eine andere: „Sind wir gut?“ Dawkins jedoch ist ein sehr positiv denkender Mensch, teilweise sogar naiv, wenn es um das Gute im Menschen geht. An sich macht ihn das sehr sympathisch, ganz im Gegensatz zu den Anschuldigungen, die er sich anhören muss. Dazu später.
Dieses Kapitel beginnt mit einigen Briefen und E-Mails, die Richard Dawkins und Brian Flemming, Urheber der Doku The god who wasn‘t there, erhalten haben. Die negativsten Briefe stammen von religiösen Menschen, die meinen, ihre Gewaltfantasien loswerden zu müssen. Einer schreibt, er würde Flemming gerne erstechen und ausweiden, jemand anderes fantasiert einen Krieg gegen Atheisten herbei und weist auf sein geladenes Gewehr hin. Negative Kommentare gab es auch von anderen Menschen, jedoch waren Gewaltdrohungen ausnahmslos religiös motiviert. So viel zu der Behauptung, Moral erfordere Gott.
Nun versucht sich Dawkins an einer evolutionären Begründung von Moral. Er erklärt unter anderem, warum die Theorie des egoistischen Gens mit dem Altruismus vereinbar ist: Wir verhalten uns manchmal selbstlos, um unsere nächsten Verwandten, Träger derselben Gene, zu schützen. Zweitens gilt das Prinzip „Geben und Nehmen“, welches auch zum Tausch von Früchten oder, heutzutage, Gütern geführt hat. Des Weiteren gewinnt man durch altruistisches Verhalten Ansehen und steigt in der sozialen Hierarchie auf. Viertens bewerben wir durch Selbstlosigkeit unsere eigene Person, es handelt sich um eine Art authentisches Marketing. Bei der „extremen“ Version des selbstlosen Verhaltens könnte es sich um ein Nebenprodukt anderer Mechanismen handeln. Hier ist etwa die Aufopferung für einen völlig Fremden gemeint. Die meiste Zeit über hat der Mensch in kleinen Gruppen gelebt, in denen alle miteinander verwandt waren, deshalb konnte er sich nicht für Fremde aufopfern. Heute bemerkt unsere Biologie so zu sagen den Unterschied nicht und glaubt, sie rette einem genetischen Verwandten das Leben. Dawkins merkt selbst an, dass diese Theorie noch nicht völlig überzeugend klingt.
Daraufhin widmet sich Dawkins der Moralphilosophie. Er zitiert eine Studie, laut der religiöse und nicht-religiöse Menschen moralische Dilemmata – spezielle Aufgaben, in denen moralische Entscheidungen gefragt sind – genau gleich beantworten. Gott und Vaterland seien ferner ein unschlagbares Team, was Unterdrückung und Blutvergießen angeht, wobei absolutistische Werte schwer auf anderer Basis als Religion zu verteidigen seien. Tatsächlich haben Diktaturen jeder Art gerne bei ihrer Selbstlegitimation auf Gott verwiesen, oder, wie Mao Zetung, sich selbst zu einer Art Gott erklärt.
Kapitel 7: Das „gute“ Buch und der sich verändernde moralische Zeitgeist
Hier geht es um die Bibel und warum sie kein so gutes Buch ist, wie Christen glauben. Die Hauptaussage des Kapitels ist, dass niemand von uns seine Werte aus der Bibel ableitet. Täten wir das, müssten wir zum Beispiel Frauen unterdrücken, Homosexuelle umbringen und ganze Völker auslöschen. Die wohl unmenschlichste und absurdeste Geschichte, die Dawkins gefunden hat, steht in Richter Kapitel 19: Ein levitischer Priester ist mit seiner Konkubine zu Gast bei einem alten Mann. Die Männer der Stadt klopfen an die Tür und verlangen die Herausgabe des Gastes, um ihn zu vergewaltigen. Stattdessen bietet der alte Mann seine Tochter an und der Priester schickt seine Konkubine nach draußen. Die Männer vergewaltigen sie die ganze Nacht lang. Am Morgen findet der Levite seine Konkubine tot vor der Türe liegen. Er nimmt ein Messer und zerstückelt sie in zwölf Teile, die er an alle Küsten Israels schickt.
Das Neue Testament ist zwar moralisch zahmer, aber keineswegs sinnvoller: Gott schickt seine Inkarnation als Jesus zur Erde und lässt sie foltern und töten, um sie für die Ursünde büßen zu lassen. Es ist klar, dass die Geschichte um Adam und Eva nicht symbolisch gemeint sein kann, da ohne die Ursünde Jesus grundlos gestorben wäre. Man fragt sich außerdem, warum sich Gott für seine Schöpfung selbst umbringt, um dann wieder geboren zu werden und in den Himmel aufzufahren. Er hätte seiner Schöpfung auch so die Sünden vergeben können, ohne großes Theater. Man kann Dawkins Bewertung, dies sei rasender Irrsinn (“barking mad“) kaum abstreiten und denkt man über das Ausmaß nach, den dieser Irrsinn im Laufe der Geschichte mit sich gebracht hat, wird auch sein gelegentlicher Zynismus verständlich. Was die Moral im Neuen Testament angeht, sollte man bedenken, dass Vergebung und Nächstenliebe etc., die Jesus gepredigt hat, nur für Juden gelten sollten, es handelt sich um eine interne Gruppen-Moral. Für Un- und Andersgläubige sieht die Lage anders aus: Sie sollen von den Gläubigen versklavt oder getötet werden, wie es in zahlreichen Stellen der Bibel nachzulesen ist.
Diese interne Gruppen-Moral mit Feindschaft nach Außen gäbe es auch ohne Religion, wie Dawkins anmerkt. Man denke nur an Fußball-Mannschaften und ihre Anhänger, an Sprachen, Rassen und Stämme, welche die Menschen ebenfalls einteilen und oft Verachtung anderer Gruppen mit sich bringen. Religion erweitert die Liste jedoch wie folgt:
• Sie drückt Kindern den Stempel der Religion ihrer Eltern auf die Stirn. Man spricht von einem „muslimischen Kind“, oder einem „katholischen Kind“, obwohl die Kinder selbst noch nicht wissen, was das alles bedeutet.
• Getrennte Schulen. Viele Kinder besuchen religiöse Schulen und werden dort sehr einseitig beeinflusst und teils sogar gegen Mitglieder anderer oder keiner Religionen aufgehetzt.
• Das Tabu des „Aus-Heiratens“. Viele Religionsgemeinschaften untersagen noch immer die Heirat ihrer Mitglieder mit Anhängern anderer oder keiner Religionen.
Nun geht Dawkins auf den „Zeitgeist“ ein. Es handelt sich um eine Art gesellschaftlichen Konsens, was die Werte betrifft. Vor 100 Jahren war es ganz normal, selbst in gebildeten Schichten, Schwarze für minderwertig zu halten und Homosexuelle für krank. Heute hat sich dies zum Glück geändert. Die Ethik unterliegt also einem Wandlungsprozess, Dawkins Ansicht nach wandeln sich die Werte zum Besseren. Manchmal kommt es zu zeitweiligen Rückgriffen auf an sich überwundene Ansichten, wie heute in den tief religiösen USA. Insgesamt beobachtet Dawkins einen Aufwärts-Trend, eine Art kulturelle Evolution. Diese Sichtweise ist typisch für den britischen Oxford-Professor: Trotz seines Skeptizismus blickt er optimistisch in die Zukunft und glaubt, dass am Ende alles gut wird – man könnte das als humanistische Romantik bezeichnen. Auf der Atheistenkonferenz Beyond Belief 2006 wurde er für dieses „hegelianische“ Bild gesellschaftlichen Wandels kritisiert, weil die Nazi-Diktatur dem widerspreche. Dieses Argument ist nicht völlig überzeugend, da es sich bei Hitlers Diktatur um einen kurzzeitigen Rückgriff auf überkommene Vorstellungen gehandelt haben könnte. Schließlich war es gegen Ende des 19. Jahrhunderts im Westen ganz normal, Rassist zu sein und Hitler hat nicht viel später gelebt. Ein anderes Argument, auf das seltsamerweise noch niemand gekommen ist, widerspricht der Zeitgeist-Theorie aber doch: Die Blüte und der Untergang von Hochkulturen. Hätten sich die ägyptischen, griechischen, römischen oder sonstigen Hochkulturen weiter entwickelt, hätten sie gewiss einen ähnlichen Entwicklungsstand wie die heutige Zivilisation erreicht. Auch in diesen Hochkulturen fand schließlich eine moralische Evolution statt, bis sie untergegangen sind. Man könnte wiederum dagegen argumentieren, dass der Humanismus an die griechische Philosophie anschließt und dass sich die heutige Zivilisation insofern bei den Erkenntnissen früherer Hochkulturen bedient. Trotz allem scheint Dawkins Zeitgeist-Theorie zu kurz zu greifen und es ist bedauerlich, dass seine Bildungswut vor Geisteswissenschaften halt macht, trotz seiner vollauf berechtigten Kritik der dort grassierenden postmodernen Philosophie. Eine andere Interpretation der Geschichte legt der sozialistische Literaturwissenschaftler Terry Eagleton vor, der eine Konstanz von Unterdrückung und Armut der Massen betont. Vielleicht ist es auch richtig, was Ian Stewart, Jack Cohen und Terry Pratchett in ihrer Sachbuchreihe behaupten: Die Geschichte ergibt gar keinen Sinn.
Hierauf geht es um die Frage, ob Stalin und Hitler Atheisten waren und was dies aussagen würde. Dawkins belegt überzeugend, dass es nicht klar ist, ob Hitler ein Christ war oder nicht. Mal sieht er sich als Auserwählter Gottes, mal verflucht er das Christentum. Es ist anzunehmen, dass er zumindest einen großen Teil seines Lebens den christlichen Glauben teilte. Was Stalin betrifft: Er war Atheist. Zwar wurde er, wie gerne von ungläubiger Seite festgestellt, streng religiös erzogen, jedoch hat er sich von diesem Glauben gelöst. Was bedeutet dies nun? Es gibt einen wichtigen Unterschied zwischen religiösen Herrschern wie Papst Urban II., der zum Kreuzzug gegen die Muslime aufrief, und atheistischen Diktatoren wie Stalin: Urban II. handelte aufgrund seiner Religion, argumentierte zumindest anhand der Bibel, Stalin dagegen ließ niemanden deshalb ermorden, weil er nicht an Gott glaubte. Er war vielmehr Anhänger einer dogmatischen politischen Ideologie.
Kapitel 8: Was ist so falsch an der Religion? Warum so feindlich sein?
Dawkins erklärt, warum er keineswegs an Konfrontation interessiert ist: Streitgespräche sind selten konstruktiv. Er möchte vielmehr die Religion allgemein kritisieren, weniger bestimmte Gruppen oder Individuen. Bomben werfen, seine Gegner verbrennen oder ihre Wolkenkratzer zerstören möchte er nicht. Trotzdem wird er häufig als „atheistischer Fundamentalist“ bezeichnet. Grund genug, den Unterschied zwischen Wissenschaft und Religion darzulegen:
Zunächst einmal stellt er fest, dass die Behauptung, der Glaube an Beweise sei ebenso fundamentalistisch wie der Glaube an die Wahrheit der Bibel, von Philosophen geäußert wird, die mit dem Kulturrelativismus infiziert seien. Deren Argumente werden gerne von religiösen Menschen übernommen. Genauer geht er in The Devil‘s Chaplain auf diese Denkweise ein, die mit postmoderner Philosophie und dem Studienfach cultural studies zusammen hängt, welches inzwischen auch in Deutschland Verbreitung findet. Demnach versteht jede Kultur etwas anderes unter „Wahrheit“ und „Realität“, weshalb man sie auch nicht objektiv feststellen kann. Dawkins weist darauf hin, dass die Wissenschaft diese Begriffe definiert und auf dieser Basis mit ihnen arbeitet. Die Evolution ist demnach genauso wahr, wie dass sich Australien in der südlichen Hemisphäre befindet. Die Wissenschaft ist stets offen für neue Belege, die Religion meint dagegen, sie kenne die Wahrheit bereits von Anfang an, weil sie in einem heiligen Buch stünde, das sich nicht irren könne.
Hierauf erklärt Dawkins, warum sich religiöse Fanatiker einen absolutistischen Staat wünschen. Damit hat er unrecht, denn der Begriff Absolutismus ist enger definiert. Dies ist jedoch nur ein kleiner Fehler, denn es wird klar, dass von einem totalitären Staat die Rede ist, von einer Theokratie. Im Folgenden geht es um Glauben und Homosexualität, sowie um Glauben und Abtreibung, respektive Sterbehilfe, wobei Dawkins die beiden letztgenannten befürwortet und dies überzeugend begründet. Gegen Homosexualität gibt es aus ethischer Sicht ebenfalls nichts zu sagen.
Nun geht es um die Gefahren eines moderaten Glaubens, also der Religiosität, wie sie momentan die meisten Leute, zumindest im Westen, teilen, die sich selbst als religiös bezeichnen. Auch diese Form von Religiosität meint, der Glaube an Irrationales sei positiv und öffne laut Dawkins dem Fundamentalismus damit Tür und Tor. Tatsächlich nimmt die Zahl von moderaten Gläubigen ab und die Zahl von Fanatikern nimmt zu. So einfach ist es jedoch nicht. Es gibt durchaus viele moderate Gläubige, bei denen keinerlei Gefahr besteht, dass sie auch nur annähernd Fundamentalisten werden könnten. Einer davon ist mit Sicherheit Terry Eagleton, der Dawkins Buch sehr negativ beurteilt. Seiner Ansicht nach war Jesus ein Klassenkämpfer, der sich gegen die römische Besatzungsmacht aufgelehnt hat, eine in Variationen weit verbreitete Interpretation. Eagleton ist ebenfalls ein Vertreter von Humanismus und Aufklärung, wie zum Beispiel seine empfehlenswerte Abrechnung mit der postmodernen Philosophie beweist und seine Kritik am Fundamentalismus ist in keiner Weise weniger deutlich als die von Dawkins (“... eine Art von Wahnsinn“). Aber: Seine Kritik an Dawkins überzeugt nicht. Seine Rezension enthält viele Widersprüche und Eagletons Definition von Gott ist so unverständlich, dass er sie wahrscheinlich nicht einmal selbst glaubt. Eagleton ist das Vorzeige-Beispiel eines an sich sehr intelligenten und humorvollen Menschen, der sich einfach nicht von seinem irrationalen Glauben lösen kann, oder zumindest nicht von der Vorstellung, ein solcher Glaube sei irgendwie positiv.
Kapitel 9: Kindheit, Missbrauch und die Flucht vor der Religion
Hier geht Dawkins näher darauf ein, warum er nicht mit der religiösen Erziehung von Kindern einverstanden ist. Zunächst einmal sollte man ein Missverständnis ausräumen, das leicht auftreten kann, wenn man The God Delusion liest: Dawkins ist gegen ein Verbot religiöser Erziehung. Seine Kritik bewegt sich nicht auf legislativer Ebene, sondern auf intellektueller. Er möchte überzeugen.
Was religiöser Kindesmissbrauch ist, argumentiert er anhand des Katholizismus. Er zitiert historische Fälle, in denen Kinder ihren Eltern genommen wurden, weil jemand die Kinder taufte und sie somit einem anderen Glauben angehörten als ihre Eltern – obskurer Weise darf jeder Katholik jeden Menschen taufen, was diese Menschen für immer zu Katholiken macht, denn offiziell kann niemand aus der katholischen Kirche, sondern nur aus der Steuergemeinschaft, austreten. Insofern könnte auch der Rezensent – ein katholischer Atheist – seine Kollegen beim Humanistischen Pressedienst taufen, was er höflicherweise unterlassen wird.
Sehr weit geht Dawkins, wenn er sagt, dass religiöse Indoktrination von Kindern schlimmer ist als sexueller Missbrauch von Kindern. Er führt als Beispiel einen Brief an, den er von einer Frau erhielt, die katholisch erzogen und in ihrer Kindheit von einem Priester sexuell missbraucht wurde. Sie fand das als Kind zwar „eklig“, hatte aber keine lebenslangen Alpträume davon. Als jedoch ein Schulfreund von ihr starb, glaubte sie, er würde als Protestant zur Hölle fahren und dort ewig leiden müssen. Dies fand sie weitaus schrecklicher als den sexuellen Missbrauch. Offenbar kann so etwas also vorkommen, trotzdem muss man sagen, dass sich Dawkins weit aus dem Fenster lehnt, wenn er das verallgemeinert. Er zitiert weitere Briefe mit dramatischen Geschichten, wie religiös erzogene Kinder sich später von ihrem Glauben befreien konnten. So rührend und glaubwürdig diese Geschichten auch sein mögen, ein wenig einseitig sind sie doch. Man kann nicht davon ausgehen, dass alle religiösen Eltern so fanatisch sind wie die von Dawkins genannten und ihren Nachwuchs auf die Straße setzen, wenn er sich von Gott abwendet. Hier hätte ein wenig Differenzierung gut getan. Recht hat er allerdings, wenn er sagt, dass Toleranz und Pluralität Grenzen haben müssen und dass religiöse Fanatiker diese Grenzen überschreiten.
Im Folgenden kritisiert Dawkins einmal mehr die Blair-Regierung für ihre Unterstützung religiöser Schulen. Er nennt auch das Beispiel Nordirland, wo erwachsene Protestanten katholische Schulmädchen mit Flaschen und Steinen bewarfen, um sie am Betreten ihrer Schule zu hindern. In diesem Fall mag „Loyalisten“ ein Euphemismus für "Protestanten" und „Nationalisten“ ein Euphemismus für "Katholiken" gewesen sein, wie Dawkins feststellt. Entgegen seiner eigenen Aussagen reduziert er jedoch an einigen Stellen den gesamten Konflikt auf Religion. Wenn man sich die Geschichte Nordirlands ansieht, kann davon keine Rede sein. Der nordirische Konflikt entstand vielmehr aus der Auseinandersetzung um den Anschluss an das britische Empire. Gewiss ist es für Scharfmacher äußerst praktisch, dass eine Seite katholisch und die andere Seite evangelisch ist, weil so Unterschiede betont werden können. Der Grund für den Konflikt ist jedoch politischer Natur.
Zuletzt betont Dawkins die Bedeutung der Religion aus wissenschaftlicher Sicht. Zum Beispiel wäre westliche Literaturwissenschaft ohne die Bibel und mittel-östliche ohne den Koran nur sehr reduziert möglich, da es in der Literatur sehr oft Anspielungen auf die Bibel gibt. Shakespeare etwa ist ohne Kenntnis der Bibel kaum zu verstehen. Um an dieser Stelle mit einem seltsamen Vorurteil aufzuräumen: In hoher Literatur wird Religion so gut wie immer kritisch betrachtet. Anspielung ist ungleich Zustimmung.
Kapitel 10: Eine notwendige Lücke?
Hier geht es um die Frage, ob jemand Gott brauchen könnte. Dawkins geht auf das Imaginäre-Freund-Phänomen ein, also, dass Kinder ihre Spielzeuge personifizieren oder Erwachsene ihren Gott, der zu ihnen spricht als eine halluzinierte Stimme. Nun wird die Frage beantwortet, ob der Glaube eine beruhigende und behütende Funktion haben kann. Diese Funktion würde ihn nicht wahr machen, außerdem hält Dawkins eine atheistische Position dagegen: Unser Leben ist so bedeutungsvoll, erfüllt und wunderbar wie wir möchten. Das Leben hat den Sinn, den wir ihm geben. Die Inspiration, die Religion manchen Menschen gibt, kann ebenfalls ersetzt werden. Man denke nur an die vielen ungläubigen Künstler, von Goethe über Mozart bis Heinrich Heine.
Dawkins beendet sein Buch mit einem leider minder gelungenen Gedankenspiel: Der Mutter aller Burkas. Es geht im Prinzip darum, dass wir die Welt ohne die Wissenschaft nur durch einen kleinen Seeschlitz wahrnehmen können, während uns die Wissenschaft einen erheblich größeren Blick auf die Welt gewährt. Zuletzt wirft Dawkins die Frage auf, ob wir irgendwann in der Lage sein werden, auch die letzten Rätsel des Universums zu beantworten.
Fazit
The God Delusion ist das mitunter beste religionskritische Buch, das es gibt. Es ist weder militant noch eindimensional. Vielmehr werden hier die besten Argumente gegen Religion und gegen Gott in jeder seiner Formen erläutert. Sprachlich auf feinstem Oxford-Englisch-Niveau verfasst, ist das Buch humorvoll, intelligent und leicht zu verstehen. Auszusetzen gibt es nur ein paar Kleinigkeiten: Die Zeitgeist-Theorie greift zu kurz, außerdem wird die Bedeutung des Zusammenhangs von Religion und sozialen Netzwerken zu gering eingeschätzt. Vielleicht hätte sich Dawkins sogar mit der Theologie befassen sollen, wie Terry Eagleton es fordert. Deren verworrene Thesen sind nämlich leicht zu widerlegen, was andere Aufklärer gezeigt haben. Auch fällt es negativ auf, dass Dawkins die Debatte so sehr personalisiert. Eagleton hat nicht ganz unrecht damit, dass er fast so oft von sich selbst redet wie von Gott. Trotz allem darf man hoffen, dass die Gottes-Wahnvorstellung auch in Deutschland erscheinen wird. An die Adresse ungläubiger Wissenschaftler sei diese Bitte von Richard Dawkins weiter gegeben:
„Ich mache mir Sorgen, als einsame Stimme verkannt zu werden – nach dem Motto: ‚Oh, das ist typisch Dawkins, er meckert immer herum.‘ Ich wünschte, mehr meiner Kollegen würden aufstehen und sich mir anschließen, weil sie nämlich überwiegend mit mir einer Meinung sind.“
Andreas Müller