Interview mit dem Leiter des Berliner Büros des "European Council on Foreign Relations" (ECFR)

"Die EU verträgt keinen Hegemon"

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Reichstagsgebäude, Sitz des Bundestags
Reichstagsgebäude

Der Politikwissenschaftler Josef Janning gibt der Bundesregierung eine Mitschuld an der Vertrauenskrise in der Europäischen Union. Sie sei in der Flüchtlingskrise, in der Staatsschuldenkrise und beim Streit um das Dublin-System mit Positionen hervorgetreten, die stärker und dominanter wahrgenommen worden seien als je zuvor. "Kooperative Systeme funktionieren jedoch nicht gut mit einem Hegemon, selbst wenn dieser noch so wohlwollend ist", warnte Janning im Interview.

Herr Janning, die Briten wollen die Europäische Union verlassen, in weiteren Staaten wachsen die Rufe nach einem Austritt, europakritische Parteien sind überall im Aufwind. Wie schlecht steht es um das Vertrauen in der EU?

Das Misstrauen in die Politik ist insgesamt stark gewachsen, aber auf EU-Ebene ist es umso größer, da die Menschen diesen Apparat noch weniger überschauen und verstehen können. Das machen sich die europakritischen Bewegungen zunutze. Sie behaupten: Wenn wir die EU entmachten und die nationale Souveränität wieder herstellen, lösen wir unsere Probleme. Dabei vergessen sie, dass Zuständigkeiten einst auf die europäische Ebene übertragen wurden, weil die Staaten gemerkt haben, dass sie wichtige Ziele nicht allein, sondern nur gemeinsam erreichen können.

Die EU greift heute aber auch viel stärker in das Leben der Menschen ein als früher. Ist es nicht verständlich, dass dies vielen Sorgen bereitet?

Europapolitik ist keine "Lorbeerbaum-Angelegenheit" mehr, sie berührt heute die unmittelbaren Interessen der Staaten. Es geht um zentrale Themen wie Währung, Beschäftigung und Einwanderung, alle bergen großen innenpolitischen Zündstoff. Die nationalen Regierungen haben darauf auch reagiert. Sie sagen den Menschen, sie müssten keine Angst vor Europa haben, denn sie selbst träfen die Entscheidungen im Europäischen Rat. Doch das ist ein Teufelskreis. Sie müssen sich nun den Vorwurf gefallen lassen, Teil des Systems zu sein. Der Versuch, die Bürger so zu beruhigen hat unter den Begleitbedingungen insgesamt schwindenden politischen Vertrauens und dem Getrommel der Populisten den Vertrauensverlust noch vergrößert.

Umfragen zufolge sind 80 Prozent der Bürger in den 28 Mitgliedstaaten mit ihrem Leben zufrieden, zwei Drittel bezeichnen ihre finanzielle Situation als gut. Trotzdem steht nur noch eine Minderheit der EU vertrauensvoll gegenüber. Wie ist das zu erklären?

Die Menschen setzen das eine nicht direkt mit dem anderen in Beziehung. Viele sagen: Uns geht es zwar gut, aber in der EU und der Welt gibt es so viele Probleme, es könnte uns bald schlechter gehen. Die Konsequenz daraus sind Forderungen nach einem Austritt aus der EU. Es ist schon erstaunlich, dass ein insgesamt so erfolgreicher Prozess wie die europäische Integration ausgerechnet von denen, die am meisten von ihm profitieren, als so schäbig angesehen wird.

Was sind die Gründe dafür?

Ein Grund ist, dass die größten Vorzüge, wie Frieden, Wohlstand und freier Handel, zu Selbstverständlichkeiten geworden sind. Wir beobachten das auch in anderen Lebensbereichen. Den Menschen fällt es sehr leicht, sich an eine größere Wohnung zu gewöhnen, aber davon wieder ein Zimmer abgeben zu müssen, ist für viele unvorstellbar. Das heißt, Erträge sind schnell konsumiert, aber sie generieren dauerhaft kein hohes Maß an Zustimmung. Wir nennen diesen Effekt das "sozialpolitische Missgeschick der Integration".

Gerade in Südeuropa geht es aber vielen tatsächlich sehr schlecht, die Jugendarbeitslosigkeit ist erschreckend hoch.

Das stimmt, doch es greift viel zu kurz, dafür die EU oder die Regeln der Währungsunion verantwortlich zu machen. Etliche EU-Staaten brauchen eine erheblich Verbesserung ihrer Regeln und ihrer Regierungsqualität, um diese Krise zu überwinden. Dies kann nicht durch Brüssel "verordnet" werden, sondern muss vor Ort geschehen.

Der European Council on Foreign Relations (ECFR) ist eine "Denkfabrik", die Analysen zu Themen europäischer Außenpolitik bereitstellt und es sich zum Ziel gesetzt hat, als Fürsprecher einer kohärenteren und stärkeren europäischen Außen- und Sicherheitspolitik aufzutreten. (Wikipedia)

In Ihren Worten: Warum sollten die Menschen der Europäischen Union und ihren Institutionen vertrauen?

Die EU erlaubt es uns, so zu sein, wie wir früher waren: zergliedert in viele, in sich stimmige Räume mit eigenen Regierungen, eigener Kultur und Sprache, in denen wir heute in Frieden und Wohlstand leben können. Wir vernichten keine Menschenleben und keinen Wohlstand mehr, indem wir uns die Schädel einschlagen, wie wir es über viele Jahrhunderte gemacht haben.

Dennoch nimmt die Bereitschaft zur Zusammenarbeit massiv ab. So stößt die im September 2015 vereinbarte, verbindliche Quote zur Umverteilung von Flüchtlingen in Europa noch immer auf Widerstände, Ungarn will Anfang Oktober erst das Volk dazu befragen. Wie soll angesichts solcher Alleingänge das Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten wieder wachsen?

Die Entscheidung, die Sie ansprechen, hat eine klassische europäische Genese. Es taucht ein Problem auf - die Flüchtlingskrise -, und die Kommission unterbreitet Vorschläge, wie es zu lösen ist. Früh zeichnete sich in diesem Fall ab, dass es eine bunte Gruppe von Staaten gibt, die keine Quote will. Es war daher aus meiner Sicht ein Zeichen fehlender Klugheit, dass die Kommission auf ihrer Linie geblieben ist. Denn es hätte Alternativen gegeben, etwa den Aufbau eines großen, handlungsfähigen EU-Flüchtlingsfonds. Damit hätten all jene Staaten unterstützt werden können, die Flüchtlinge aufnehmen. Die Gegner der Quote hätten das kaum ablehnen können, ohne ihr Gesicht zu verlieren.

Warum war das dann keine Option?

Deutschland hätte, obwohl es bereits viele Flüchtlinge aufgenommen hat, den größten Beitrag in den Fonds einzahlen müssen - etwa 20 Prozent. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hätte all ihren europapolitischen Mut zusammennehmen müssen, um den Bürgern das zu vermitteln. Zwar hätte Deutschland auch den Großteil der Zahlungen aus dem Fonds erhalten. Aber Geld war hier selbst auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise nie ein Problem. Es war die große Zahl der ankommenden Menschen. Und da wollten viele, auch Merkel, lieber ein Exempel statuieren: Wir möchten die Polen zwingen, Menschen aufzunehmen, weil wir ihnen zeigen wollen, dass wir die besseren Menschen, die besseren Europäer, sind. Das darf man in der europäischen Politik nie tun. Damit schafft man kein Vertrauen, man untergräbt es.

Sie geben der Bundesregierung eine Mitschuld an der Krise der EU?

Ja, Deutschland hat großen Anteil daran. Auch in der Staatsschuldenkrise und beim Streit um das Dublin-System ist die Bundesregierung mit Positionen hervorgetreten, die stärker und dominanter wahrgenommen wurden als je zuvor. Kooperative Systeme funktionieren jedoch nicht gut mit einem Hegemon, selbst wenn dieser noch so wohlwollend ist.

Was bedeutet das für die künftige deutsche Europapolitik?

Deutschland sollte mehr in die Weiterentwicklung und Stärkung der politischen Mitte in der EU investieren. Damit meine ich nicht die Mitte zwischen Links und Rechts, sondern den Raum der integrationsbereiten Mitgliedstaaten. Das Schengen-System entstand einst aus einer Koalition der Gründerstaaten; solche Initiativen brauchen wir heute wieder. Es sollte in dieser heterogenen Union eine Art Zentrum geben, aus dem heraus Ideen entstehen, die Europa voranbringen können.

Sie meinen eine Art Kerneuropa, wie Wolfgang Schäuble und Karl Lamers (beide CDU) es 1994 formuliert haben?

Ja, doch es muss flexibler gedacht werden. Schäuble und Lamers haben die Schengen-Staaten als den Kern gesetzt. Das Konzept der politischen Mitte hängt aber nicht davon ab, diesen Kern abschließend zu definieren. Es betont vielmehr die Notwendigkeit, Staaten in diese Zone zu holen. Europas Regierungen müssen außerdem wegkommen von der Fixierung darauf, Dinge zu verhindern. Es geht darum, zu gestalten! Die Flüchtlingskrise zeigt, dass selbst ein so dicker Fisch wie Deutschland ein solches Problem nicht dauerhaft allein bewältigen kann. Selbst Merkel kann Gefolgschaft nicht erzwingen, und sei Deutschland auch noch so groß und stark.

Derzeit wird von vielen Seiten die Einführung von Referenden auf europäischer Ebene gefordert. Kann durch mehr Bürgerbeteiligung tatsächlich mehr Vertrauen entstehen?

Referenden erzeugen nicht mehr Vertrauen, sie institutionalisieren das Misstrauen. Sie entwerten die repräsentative Demokratie. Das ist ein bisschen so, als wenn Sie sich erst mal den Piloten ansehen, bevor Sie mit dem Flugzeug fliegen. Sieht der müde aus, fühlt der sich wohl? Ein besseres Instrument zur Vertrauensbildung ist die Europäische Bürgerinitiative, die aber noch ziemlich unterentwickelt ist. Das Interessante daran ist, dass die Bürger damit nicht nur Gesetzesvorhaben korrigieren, sondern auch eine konkrete Gesetzgebung initiieren können.

Was schlagen Sie noch vor?

Europäer müssen mehr miteinander reden als übereinander. Wir müssen stärker fragen, was wir selbst tun können, statt Resolutionen dazu zu verabschieden, was andere geben sollen. Der "European Council on Foreign Relations" (ECFR) hat den europäischen Zusammenhalt in den EU-Staaten gemessen. Die Ergebnisse zeigen, dass die Basis für gemeinsames Handeln auch in der Krise trägt, aber dass mehr Begegnung und Austausch unter den Menschen nötig ist. Die Europäer müssen die Dichte ihrer Verflechtung erleben können. Die klassischen intermediären Institutionen der Zivilgesellschaft, wie Gewerkschaften, Kirchen und Verbände, tun dazu noch zu wenig, und zugleich schwindet ihr Einfluss. 

Wie sieht die EU Ihrer Meinung nach, sagen wir, im Jahr 2030 aus? Wird sie verloren gegangenes Vertrauen zurückgewinnen können?

Ich könnte mir vorstellen, dass die EU 2030 nicht mehr existiert. Der Ausstieg der Briten könnte zur Keimzelle ähnlicher Schritte werden. Entscheidend ist, ob es gelingen wird, auf wichtige Fragen gemeinsame Antworten zu finden. Warum sollten die Staaten sonst weiter politisches Kapital, Loyalität und Vertrauen in diesen Prozess investieren? Ich setze allerdings mehr auf ein europäisches Momentum, das ein zweites Szenario wahrscheinlicher macht. Danach wird es 2030 eine flexiblere EU geben, in deren Mitte einige Staaten mehr in die Integration investieren. Wünschenswert wäre zum Beispiel, dass sie auch nach außen stärker auftritt. So könnte sie eigene Flüchtlingslager in Jordanien und dem Libanon aufbauen, anstatt den Vereinten Nationen Geld dafür zu geben. Solche Dinge erwarte ich in Zukunft von der EU.

Das Gespräch führte Johanna Metz für die Wochenzeitschrift "Das Parlament". Das Interview wird am 29. August 2016 in der Zeitschrift erscheinen.