Kritischer Kommentar zum Transhumanismus

Auch ohne einen Gott braucht es Regeln

KONSTANZ. (hpd) Ich fühlte mich ein Stück weit an Science Fiction erinnert, als ich kürzlich in einem Gespräch mit einem atheistischen Kollegen erstmals ganz bewusst auf eine Ideologie hingewiesen wurde, die mir zwar in der Literatur immer wieder einmal begegnet war, über die ich aber meist lächelnd und amüsiert hinweggeblickt hatte. Doch nun sollte sie ganz praxisnah werden: “Überlege doch mal, der Mensch ist in der Lage, Krankheiten, Behinderungen und Grenzen jeder Art zu überwinden – zwar noch nicht heute, aber schon bald”. Angespielt auf meine eigenen, teilweise durch genetische Defekte hervorgerufenen Beeinträchtigungen, war ich in Gedanken zunächst vollkommen irritiert: War er nun überdreht, von Utopien heimgesucht oder vielleicht doch ernst zu nehmen, mein Gegenüber, der mir offenbar meine Unsicherheit angesehen hatte und gleich fragend ergänzte: “Bist du denn kein Transhumanist?”.

Ich erinnerte mich, dass ich tatsächlich früher einmal über den Begriff stolperte. Aus der Wortherkunft wollte ich mir bereits einen Reim auf die Bedeutung machen, doch das war nicht mehr nötig: Mein Kollege hatte schon Luft geholt und stieg in einen wortgewaltigen Vortrag über den “Transhumanismus” ein, von dem ich letztendlich nur ein paar Fetzen einprägen konnte. Von “Nietzsche” über einen amerikanisch-iranischen “Futuristen”, die “Eugenik” bis hin zu zur “Superintelligenz” – ich wusste nicht so genau, ob ich beeindruckt oder furchtsam sein sollte. Insgeheim dachte ich zuerst an “durchgeknallte” Phantasien, ohne damit jemandem auch nur ein bisschen zu nahe treten zu wollen. Doch so ganz hatte sich mir noch nicht erschlossen, ob ich diese Weltsicht nun verdammen oder doch teilen sollte.

Ich versprach, mich besser zu informieren und setzte mich noch am selbigen Abend an die Recherche. Vorbei an wahrhaftem Humbug, durch Texte voller Fachbegriffe einer digitalisierten Welt hin zu den Versuchen verschiedenster Lexika oder Autoren, die sich an einer einigermaßen verständlichen Definition des “Transhumanismus” mühten, gelang mir langsam ein Verständnis dessen, was heute nicht nur zum Leitbild mancher evolutionärer Humanisten im angelsächsischen Raum zu zählen ist, sondern auch in unseren Breiten immer häufiger Anhänger findet: Die Überzeugung, dass der Mensch “über sich hinauswachsen kann” – mit Technologie, Forschung und Entwicklung die Hürden zu überwinden in der Lage ist, die ihm gesetzt sind. Ob nun durch die Erweiterung der eigenen Horizonte, des bisherigen Wissens und des begrenzten Verstandes: “Transhumanismus” ist als Vorstellung von dauerndem Fortschritt eine Anschauung, die die Freiheit des Menschen als nahezu “unendlich” bezeichnet.

Ich bin sicherlich nicht der Erste, der sich kritisch mit dieser “Bewegung” auseinandersetzt. Viel eher bin ich erstaunt darüber, dass sie auch schon bei uns – weitestgehend undifferenziert – als beinahe “Heilsbringung” vergöttert wird. Ja, der “Trans-Humanismus” geht über das hinaus, was wir bislang als machbar, als möglich ansahen. Er traut dem Menschen Fähigkeiten zu, die ihm in der Vergangenheit verschlossen blieben. Früher noch als “über-menschliche” – und damit als unerreichbar angesehene – Leistungen werden in der Vision eines Transhumanismus nach und nach realistisch. Ob die Ausrottung von Viren durch genetische Manipulationen, die Überwindung von unlösbaren Formeln durch gigantische Computer oder das immer neue Einstellen bisheriger Rekorde durch noch schnellere, noch weitere und noch genauere Techniken – der Transhumanismus traut dem Menschen Vieles (wenn nicht gar Alles) auf dieser Erde (und darüber hinaus) zu. An Selbstbewusstsein mangelt es seinen Vertretern damit nicht, aber möglicherweise an ethischem und moralischem Empfinden?

Nicht nur diese Kritik wird der Lehre vom Transhumanismus häufig vorgebracht. Ich tue mir auch überaus schwer mit dem Gedanken, wie ein evolutionärer Humanist einen entsprechenden Bogen zur transhumanistischen Überzeugung finden soll: Hatte sich die Evolution doch an die Naturgesetzgebung geklammert, die auch dem Humanisten einen Rahmen gibt, die es im Sinne eines (zwischen-)menschlichen Wertmaßstabes zu definieren galt. Doch was wird aus diesem Konstrukt, wenn sich der Mensch plötzlich auch noch über dieses Grundgerüst erhebt? Ja, der Bezug des Transhumanismus zu dem der Renaissance scheint durchaus nachvollziehbar: Als Gegenkonzept zum Gottesglauben platziert der Transhumanist den Menschen abschließend und damit auch endgültig an die Stelle eines Schöpfers und allmächtigen Handelnden. Somit scheinen gar Deismus und Theismus durch eine Weltanschauung abgelöst, die weiter geht als andere humanistische Sichten: Der Transhumanist sieht sich gar in der Position der Überwindung von Naturgesetzen, tangiert damit auch den Pantheismus als eine Form eines “schwammigen” Atheismus – und beansprucht insofern eine Absolutheit, die mir doch eine gewisse Angst einflößt.

Transhumanismus (aus lat. trans 'jenseits, über, hinaus' und humanus 'menschlich') ist eine philosophische Denkrichtung, die die Grenzen menschlicher Möglichkeiten durch den Einsatz technologischer Verfahren erweitern will. Die Interessen und Werte der Menschheit werden als "Verpflichtung zum Fortschritt" angesehen. (wikipedia)

Man könnte davon sprechen, beim Transhumanismus handele es sich um eine besonders ausgeprägte Form eines nahezu wahnhaft wirkenden Narzissmus, der den Menschen derartig überhöht, wie es die Wirklichkeit eben nicht hergibt. Denn bei allem Vertrauen in die Innovationsfähigkeit tut auch dem bislang aus der Evolution am weitesten entwickelten Lebewesen eine gewisse Form von Demut gut – selbst und gerade dann, wenn es keinen Gott gibt. Denn aus Allmachtsphantasien wird rasch auch eine Rangfolge, aus Wachstum alsbald eine Selektion, die letztendlich einem “Schöpfergeist” recht egal sein könnten – den Menschen untereinander aber nicht. Zügelloses Streben nach Entfaltung geht einher mit einem Verdrängen, was der evolutionäre Atheist als “natürliche” Auslese verstehen kann, die unveränderbar scheint und schon in der Vergangenheit ganz selbstverständlich war. Doch ist der Humanismus nicht gerade auch wegen seiner Bindung an das Rationale so populär geworden? Egoistisch dürfte sich zunächst keiner von uns dafür interessieren, was die persönliche Ausdehnung an Enge für den Nächsten mit sich bringt. Aber kann ein Mensch alleine und auch dann überleben, wenn er sich seine Umwelt nach eigener Façon gestalten kann, unabhängig ist und seiner Beliebigkeit Lauf lassen kann – gleichzeitig sozial verkümmert, mit seinem Reichtum an allerlei Intelligenz und Können überfordert ist und eingestehen muss, dass eben doch die Natur es ist, die uns nicht als einsamen “Streiter” vorgesehen hat?

Zwar beharren Vertreter des Transhumanismus in aller Regel darauf, dass ihr Verständnis von einer Verwirklichung des Menschen über seine heutigen Grenzen hinweg unter der Maßgabe stehen müsse, wonach jegliche Errungenschaften der Zukunft ausschließlich zum Wohle Aller dienen sollten. Aber gerade für diesen Standard bedürfte es eines Kontraktes, welcher sich nur aus der reflektierten Betrachtung des Transhumanismus durch seine eigenen Mitstreiter ergeben kann. Wie jede Religion, wie jede Weltanschauung braucht auch diese Ideologie eine beständige Erdung ihrer Visionen, was der Grundannahme des Transhumanismus allerdings zuwider sprechen dürfte. Vielleicht ist es gerade auch deshalb so ruhig um ihn: Denn ist die Zeit wirklich schon reif für eine Überzeugung, die von einer Ausgangslage zehrt, welche nicht nur ungewiss, sondern gleichsam auch unberechenbar scheint? Will sich eine Menschheit auf die einerseits dem Ego des Homo sapiens guttuende Vorstellung der Grenzenlosigkeit einlassen, die auf der anderen Seite dadurch auch zum Missbrauch von Macht verleiten kann? Überheblichkeit hat in der Geschichte selten zu positiven Entwicklungen beigetragen. Eine Idealisierung im Sinne einer Perfektion, die keinen Makel mehr zuzulassen vermag, wird nur derjenige wünschen, der sich überhöht. Und auch, wenn kein Gott existiert, passt diese Anmaßung nicht in eine Welt und schon gar nicht in ein Universum, das uns eben doch täglich aufzeigt, wie eng unser Handlungsspielraum tatsächlich ist.

Der Glaube an einen fortdauernden und scheinbar unlimitierten Progress ähnelt den Wünschen eines libertär geprägten Paternalismus oder einer Freiheit ohne Zügel, wie sie auch in manch neoliberalen Ansätzen heute stilisiert wird. Wenn es keinen Gott gibt, dann ist der Mensch zwar scheinbar keinerlei “Aufsicht” unterworfen, sondern völlig allein auf sich gestellt. Doch dieses Gefühl von unendlicher Eigenverantwortung kennt nicht nur Vorteile. Deshalb muss es in solch einem Modell dann gleichsam der Mensch selbst sein, der sich und seinen Artgenossen diejenigen Regeln aufzeigt, die ansonsten vielleicht nur die “Zehn Gebote” und andere Konventionen widerspiegeln. Ohne eine Übereinkunft besteht ständig die Gefahr der Anarchie, die sich eine Welt nicht leisten kann, in der schon kleinräumiges Chaos zur Gewalt und Ausrottung seinesgleichen beiträgt. Der Transhumanismus braucht als Weltanschauung, die nicht nur eine religiöse Bedeutung, sondern vor allem auch eine politische Wirkung entfaltet, die demokratisch ausgestaltete Kontrollinstanz der wechselseitigen Mahnungen und Überprüfungen. Der Mensch kann nicht nur wachsen, sondern muss sich gleichzeitig gegenseitig beschränken. Denn genau darin liegt ja die proklamierte Überlegenheit unseres Wesens im Vergleich zu den in der Evolution nicht derart fortgeschrittenen Mitbewohnern: Wir sind in der Lage, uns nicht komplementär und korrelativ fressen und bejagen zu müssen, sondern eine Zivilisierung durchlaufen haben, die uns befähigt, mit Augenmaß nicht nur zu denken, sondern uns auch entsprechend zu verhalten.

Ob man es nun Ethik, Moral, Normen oder auch Übereinkommen nennen will: Sie sind es, die jede Form der Überzeugung auf dem Boden der Rationalität halten. Häufig höre ich dann aber, dass sie als menschgemachte Verbote oder Gesetze keinen Anspruch auf allgemeine Verbindlichkeit besäßen, viel zu individuell statt konventionell verfasst seien. Nein, es sind gerade nicht die Festhaltungen einzelner Gemeinschaften, die unserem Miteinander Stabilität geben. Es sind die universell geeinigten Abkommen. Wer, wenn nicht die Menschheit (statt dem Menschen), kann also in jeder Ausprägung des Humanismus‘ die Waage sein, die Balance hält? Auch Transhumanisten sind zum Kompromiss verpflichtet, weil sie in der Gemeinschaft und in der Pluralität verschiedenster Sichtweisen leben. Und damit sind auch sie in der Realität den wesentlichen Grundsätzen verpflichtet, die die Mehrheit in einer vielfältigen Landschaft von scheinbarem Wissen und Glaube schlussendlich teilt. Die auf mich als Herauslösung aus einer Ordnung wirkende Zielsetzung des Transhumanismus bleibt in einer Gesellschaft, die auf Vereinbarungen basiert, unwirklich – und das ist gut so. Denn nicht jeder Traum kann um der Aufgabe gemeinsamer Verpflichtung willen durchgeboxt werden, solange es (glücklicherweise) den Reichtum an vielen Andersdenkenden gibt.

Und so mag es für den Transhumanisten bei allen Gefahren zwar erstrebenswert sein, Menschen ohne “Schönheitsfehler” zu schaffen, das Weltgeschehen zu mechanisieren oder den “Iron Man” irgendwann in vier Stunden zu gewinnen… Solange in unseren Sphären aber noch das “Wir” dem “Ich” überlegen ist, bleibt zwar gedanklich wohl Allerhand möglich, aber Vieles eben doch nicht nötig…