Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte lehnt Klage muslimischer Eltern ab

Schweiz: Muslimische Mädchen müssen an koedukativem Schwimmunterricht teilnehmen

Der Europäische Menschenrechtsgerichtshof (ECHR) in Straßburg hat heute in letzter Instanz entschieden, dass zwei muslimische Mädchen aus Basel dem Schwimmunterricht mit Jungen nicht fernbleiben können. Eine entsprechende behördliche Teilnahmeverpflichtung verstoße nicht gegen die individuelle Glaubens- und Religionsfreiheit.

Geklagt hatten die Eltern zweier Mädchen, denen im Jahr 2010 Bußgelder in Höhe von insgesamt 700 Schweizer Franken (ca. 650 Euro) auferlegt worden waren. Sie hatten im Jahr 2008 ihre damals sieben und neun Jahre alten Mädchen mit Bezug auf ihren strengen muslimischen Glauben aus dem Unterricht genommen hatten. Die aus der Türkei stammenden und inzwischen eingebürgerten Eltern sahen sich in der auferlegten Teilnahmepflicht am Schwimmunterricht in ihrer Religionsfreiheit verletzt. Entsprechend klagten sie sich durch die Instanzen, bis das Schweizer Bundesgericht 2012 das Verhalten der Behörden als rechtskonform einschätzte und die Klage der Eltern abwies. Daraufhin zogen diese vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (Aktenzeichen 29086/12).

Unter dem Vorsitz des Spaniers Luis López Guerra kamen die Richter in Straßburg kamen nun einstimmig zu dem Urteil, dass dies nicht der Fall sei und keine Verletzung des 9. Artikels der Europäischen Menschenrechtskonvention vorliege. In der Pressemitteilung des Gerichts heißt es, dass die Auflage der Schulbehörden, am koedukativen Schwimmunterricht teilzunehmen, die individuelle Religionsfreiheit der Eltern durchaus infrage stelle. Sie stelle allerdings keine Verletzung der Religionsfreiheit dar, weil der Schule eine besondere Rolle bei der sozialen Integration insbesondere bei Kindern ausländischer Herkunft zukomme. Das Interesse, die soziale Integration der Kinder durch die vollumfängliche Teilnahme am Schulunterricht zu erleichtern, wiege schwerer als das Interesse der Eltern an einem getrennten Schwimmunterricht. Beim Schwimmunterricht gehe es für die Kinder nicht nur darum, schwimmen zu lernen, sondern vor allem um die Teilnahme an diesen Aktivitäten mit allen anderen Schülern, unabhängig von deren Herkunft oder den religiösen beziehungsweise weltanschaulichen Ansichten ihrer Eltern.

Die Richter berücksichtigten bei ihrem Urteil auch, dass die Schweizer Behörden den Eltern bereits entgegengekommen waren und angeboten hatten, den Mädchen beim Unterricht das Tragen eines Burkinis zu erlauben, um „die Auswirkungen der Teilnahme der Kinder am gemischten Schwimmunterricht auf die religiösen Überzeugungen ihrer Eltern zu reduzieren“. Den Eltern hatte das nicht ausgereicht.

In der Schweiz blieb das Urteil bislang unkommentiert, der Fall war aber bereits 2013 recht umstritten – auch unter türkeistämmigen Politikern, wie die die Basler Zeitung belegte.

Valentin Abgottspon von den Schweizer Freidenkern erklärte gegenüber dem hpd: "Wir von der Freidenker-Vereinigung der Schweiz begrüßen dieses Urteil. Wir setzen uns stets dafür ein, dass Kindern kein religiöser Stempel aufgedrückt wird, dass sie möglichst wenig religiös oder anderweitig fundamentalistisch-ideologisch vereinnahmt werden. Es kann nicht angehen, dass die Trumpfkarte Religion beziehungsweise Religionsfreiheit allzu oft sticht, wenn es um Angelegenheiten der Erziehung und Bildung geht." Selbstverständlich stehe das Thema Schulpflicht und das Erziehungsrecht der Eltern in einem Spannungsfeld, erklärt Abgottspon, der als Lehrer an der Oberstufe tätig ist. Kinder gehörten niemals einfach so ihren Eltern. Abgottspon bezog für die Freidenker-Vereinigung auch Position zur grundsätzlichen Frage der Geschlechtertrennung im Schulunterricht: "Eine ungleiche Behandlung der Geschlechter sowie eine Forderung nach Geschlechtertrennung scheint uns nicht mehr zeitgemäß: Diese Art von Sexismus darf von der offenen Gesellschaft nicht toleriert werden."

Auch in Deutschland wird vor dem Hintergrund der Religions- und Glaubensfreiheit einerseits und der Integrationsziele andererseits seit Jahren über den koedukativen Sport- und Schwimmunterricht diskutiert und prozessiert. Im Dezember veröffentlichte das Bundesverfassungsgericht erst eine Entscheidung vom 8. November, in der sie eine ähnlich gelagerte Klage wie die, über die nun der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschied, abwies. Aus der Verfahrensdokumentation geht hervor, dass das Verfassungsgericht die Teilnahme am gemischtgeschlechtlichen Schwimmunterricht für zumutbar hält und in der Teilnahmeverpflichtung keine Verletzung der Religionsfreiheit erkennen kann (1 BvR 3237/13). Bereits 2013 hatte das Bundesverwaltungsgericht entschieden, dass religiös begründete Unterrichtsbefreiungen nur in Ausnahmefällen erlaubt sind.