Evangelische Kirche Deutschland

Das schwere Erbe des Otto Dibelius (1)

Vor 50 Jahren starb Otto Dibelius, der langjährige EKD-Vorsitzende und Bischof von Berlin-Brandenburg. Sein Name steht für eine schwere Gedächtnislücke in der evangelischen Kirche.

Wochen vor seinem Tod schrieb der 86jährige an Freunde, er fühle sich wie einer, der im Umzug steht. "Habe und Gepäck hat man vorausgeschickt. Nun wartet man auf die Abfahrt, bei der man die alte liebgewordene Landschaft noch einmal an sich vorbeiziehen sehen wird; aber das Herz ist doch schon frei für das, was kommen wird." – Das Gepäck aber blieb zurück; am 31. Januar 1967 hinterließ Otto Dibelius der Kirche eine schwere Hypothek, an der die EKD bis heute schwer trägt. Doch von vorn:

Obwohl die Reformation vor fünfhundert Jahren begann, ist die evangelische Kirche in Deutschland als eigenständige Organisation keine hundert Jahre alt. Erst mit dem Ende des Kaiserreichs hatte das Kapitel Staatskirche ein Ende gefunden. "Ecclesiam habemus! Wir haben eine Kirche!", verkündete Otto Dibelius in seinem im Dezember 1926 erschienenen Buch "Das Jahrhundert der Kirche", das mit dem Jahr 1918 begonnen hatte. Der damalige Kurmärkische Generalsuperintendent schrieb: "Das Ziel ist erreicht. Gott wollte eine evangelische Kirche. Seinem Willen mussten beide dienen, die aufbauen und die da zerstören wollten." Allerdings wollte der Allmächtige ganz sicher nicht, dass die evangelische Kirche zum Sammelbecken antidemokratischer Kräfte avancierte…

Im November 1918 hatten deutsche Pastoren nicht nur den Ersten Weltkrieg verloren, sondern auch ihr Oberhaupt (der jeweilige Landesfürst war immer auch Landesbischof). In der neuen Republik stand die evangelische Kirche plötzlich ohne Führung da. Pfarrer und Superintendenten fürchteten um ihre Einkünfte, ihre Stellung. Was sollte denn werden? Aus dem Religionsunterricht an den Schulen? Oder aus den jährlichen Staatsleistungen? Das gemeine Volk war nun der Souverän und bestimmte die Regierung; eben diese brauchte die Kirche nicht mehr, jedenfalls nicht für ihre Legitimation. Mehr noch: Die neue Regierung strebte sogar eine Trennung von Staat und Kirche an.

Mit den Wahlen zur verfassungsgebenden Nationalversammlung am 19. Januar 1919 war aus evangelischer Sicht die Katastrophe eingetreten: eine Koalition aus SPD und Zentrum, aus Sozialisten und Katholiken! Als die Träger des "organisierten Vaterlandsverrats" am 28. Juni 1919 den "Schandvertrag von Versailles" unterschrieben, wandten sich die Generalsuperintendenten aller preußischen Kirchenprovinzen an ihre Gemeinden: "Das Verlangen, uns als einzig Schuldigen am Kriege zu bekennen, legt uns eine Lüge in den Mund, die schamlos unser Gewissen verletzt. Als evangelische Christen erheben wir vor Gott und Menschen feierlich heiligen Protest gegen den Versuch, unserer Nation dieses Brandmal aufzudrücken. Wie man auch urteilen mag über einzelne Handlungen der Regierung unseres Kaisers: fest steht die Reinheit seines Wollens, die Makellosigkeit seines Wandels, der Ernst seines persönlichen Christentums und seines darin tief begründeten Verantwortlichkeitsgefühls. Mit äußeren Mitteln vermögen wir ihn nicht zu schützen, aber hier unsere Bitte: im Einklang mit Millionen deutscher Männer und Frauen rufen wir unsere Gemeinden auf, in dieser Not den Kaiser und seine schwerkranke, in den Werken christlicher Barmherzigkeit vorbildlich bewährte Gemahlin nebst unseren deutschen Führern und Helden mit dem Wall unserer Fürbitten zu umgeben (…)."

Bei den angekündigten Fürbitten sollte es nicht bleiben; in den folgenden Jahren organisierte die Kirche der Altpreußischen Union regelrechte Pilgerreisen ins niederländische Dorn, zu "Feldgottesdiensten" beim immer noch als rechtmäßig empfundenen Summus Epscopus Wilhelm II. Die evangelische Treue zum abgesetzten Kaiser und preußischen König fand ihre Fortsetzung im Kampf gegen den von SPD und KPD 1926 initiierten Volksentscheid zur Enteignung der Fürstenhäuser. Der Deutsche Evangelische Kirchenausschuss erklärte dazu: "Die geplante entschädigungslose Enteignung bedeutet die Entrechtung deutscher Volksgenossen und widerspricht klaren und unzweideutigen Grundsätzen des Evangeliums." Von unzähligen Kanzeln wurde gegen den Volksentscheid gepredigt. Auch deshalb kamen am Ende nur 14.441590 Ja-Stimmen statt der geforderten 20 Millionen für die Enteignung zusammen.

Unterdessen hatte sich der 28. Juni 1919 als "Tag der Schande" tief ins nationalprotestantische Bewusstsein eingebrannt. Zehn Jahre nach der Unterzeichnung des Versailler Vertrages rief die Deutsche Evangelische Kirche diesen Tag zum "Trauertag" aus. Zur historischen Stunde, zwischen 15.00 Uhr und 16.00 Uhr, als damals die "Novemberverbrecher" mit ihrer Unterschrift den "Schandvertrag" besiegelt hatten, läuteten reichsweit in den evangelischen Kirchen die Glocken.

"Tag von Potsdam"

Von den großen Sozialmilieus dieser Zeit zeigte sich keines so offen und aufnahmebereit für die Ideologie der Nazis wie das kleinbürgerlich-evangelische. Der deutsche Protestantismus mit seinen Kirchen, Institutionen und Vorfeldorganisationen war die Haupteinbruchsstelle der Nationalsozialisten. – Für diese verheerende Entwicklung steht der Name Otto Dibelius, der noch 1951 den Nationalsozialismus mit der Säkularisierung erklären sollte.

Das Gros der evangelischen Amtsträger begrüßte den Niedergang der parlamentarischen Demokratie und die Entwicklung hin zu einer totalitären Diktatur. Zeugnis davon gibt die Dibelius’ Predigt am "Tag von Potsdam": "Wir wollen wieder sein, wozu uns Gott geschaffen hat. Wir wollen wieder Deutsche sein! Durch Gottes Gnade ein deutsches Volk!" Der 21. März 1933 war bis dahin der schwärzeste Tag in der (an dunklen Kapiteln nicht gerade armen) Geschichte des deutschen Protestantismus. Die evangelische Kirche machte sich zum Komplizen des faschistischen Terrors. Für die Siegesfeier der Nazis stellte sie den Raum zur Verfügung und sparte nicht mit dem Segen. Historiker schätzen die Zahl der bis zum 21. März durch SA und SS Ermordeten bei fünf- bis sechshundert Menschen. Mindestens Fünfzigtausend waren bereits in Konzentrationslagern eingesperrt.

Otto Dibelius nahm Mord und Terror billigend in Kauf; in den Lagern verschwanden eh nur Leute, die man in der Kirche oft genug zum Teufel gewünscht hat: Kommunisten, Sozialisten, Asoziale. Bemerkenswert auch der Bibelvers, den er seiner Predigt vorangestellt hatte: "Ist Gott für uns, wer mag wider uns sein?" (Röm 8, 31).

Otto Dibelius (links) und Konrad Adenauer, 1957 - Bundesarchiv, B 145 Bild-F005314-0028 / CC-BY-SA 3.0
Otto Dibelius (links) und Konrad Adenauer, 1957 - Bundesarchiv, B 145 Bild-F005314-0028 / CC-BY-SA 3.0

Wie es der israelische Historiker Saul Friedländer schreibt, war es mit Otto Dibelius der damals prominenteste evangelische Geistliche in Deutschland, der dann am 4. April 1933 in einer Rundfunkrede, die in den USA ausgestrahlt wurde, das NS-Regime verteidigte, die Brutalitäten in den Konzentrationslagern bestritt und allen Ernstes behauptete, der staatlich organisierte Boykott jüdischer Geschäfte, Ärzte und Rechtsanwälte wäre ein Akt berechtigter Notwehr gewesen, der "in absoluter Ruhe und Ordnung verlaufen" sei.

Tage zuvor hatte Dibelius den inhaftieren KPD-Vorsitzenden Ernst Thälmann besucht. Jedoch nicht im Sinne des Evangeliums, Matthäus 25, Vers 36: "Ich bin gefangen gewesen, und ihr seid zu mir gekommen" – in den Augen des Otto Dibelius war Thälmann nicht der Geringste unter den Brüdern Jesu, sondern ein bolschewistischer Umstürzler. In seiner Rundfunkrede erklärte Dibelius: "Wir haben die kommunistischen Führer im Gefängnis besucht. Sie haben uns übereinstimmend gesagt, dass sie durchaus korrekt behandelt würden. An den Schauernachrichten über grausame und blutige Behandlung der Kommunisten in Deutschland ist kein wahres Wort."

Zur selben Zeit schrieb Dibelius an seine Pfarrer: "Meine lieben Brüder! Für die letzten Motive, aus denen die völkische Bewegung hervorgegangen ist, werden wir alle nicht nur Verständnis, sondern volle Sympathie haben. Ich habe mich trotz des bösen Klanges, den das Wort vielfach angenommen hat, immer als Antisemiten gewusst. Man kann nicht verkennen, dass bei allen zersetzenden Erscheinungen der modernen Zivilisation das Judentum eine führende Rolle spielt."

Wenig später, im August ’33, wurde Dibelius seiner kirchlichen Ämter enthoben. Fortan engagierte er sich in der Bekennenden Kirche gegen die Übermacht der "Deutschen Christen" und für die mehr als 100 vom Berufsverbot bedrohten evangelischen Pfarrer mit jüdischer Herkunft.  

Mann der Stunde

Nach dem Krieg sollte es in der evangelischen Kirche keine wirkliche "Stunde null" geben, die nationalprotestantische Prägung wirkte bis Ende der 1960er-Jahre fort – dafür aber gab es einen Mann der Stunde: Otto Dibelius, der 1945 noch meinte, die Demokratie werde in Deutschland keinen Erfolg haben, weil sie eine fremde Ideologie sei. Vom Berliner Bezirk Zehlendorf aus rief er die alten Strukturen der Brandenburger Provinzialkirche wieder ins Leben. Und wie selbstverständlich reklamierte Dibelius dabei die wichtigsten Leitungsfunktionen für sich. Durch einen "souveränen Akt der Selbsternennung", so der Historiker Manfred Gailus, trug er jetzt den Titel "Bischof von Berlin", war Präsident des Konsistoriums und noch dazu Generalsuperintendent der Kurmark und (ein extra Amt) Generalssuperintendent von Berlin. Darüber hinaus stand Dibelius noch dem Evangelischen Oberkirchenrat vor, der verbliebenen altpreußischen Rumpfkirche. Diese im deutschen Protestantismus einmalige und von der Kirchengeschichtsschreibung nie hinterfragte Ämterhäufung lässt sich nicht allein aus der damaligen Notsituation der Kirche begründen.

Ein trauriges Beispiel für das menschliche Klima unter Bischof Dibelius ist der von den Nazis 1940 des Amtes enthobene Superintendent von Berlin-Spandau, Martin Albertz – für Manfred Gailus der eigentliche "Spiritus Rector" des Berliner Kirchenkampfes. Otto Dibelius hätte Albertz vollständig rehabilitieren können, doch er unternahm keinerlei Versuche, ihn in sein früheres Amt wieder einzusetzen. Überhaupt wurden nach dem Krieg nur relativ wenige Pastoren der Bekennenden Kirche, wie Heinrich Grüber und Kurt Scharf, in der Berlin-Brandenburgischen Bischofskirche auf Leitungsebene eingebunden. Manfred Gailus fragt: "Um wie viel wäre die konservative Berliner Bischofskirche und ihre Nachkriegsführung kleiner geworden und moralisch geschrumpft, wenn sie im Kirchenkampf bewährte Personen wie Niemöller, Günther Dehn, Wilhelm Jannasch, Willi Ölsner, Franz Hildebrandt, aber auch Agnes von Zahn-Harnack, Eliesabeth Schmitz, Elisabeth Schiemann und manche anderen freien Geister zurückgerufen hätte? Sie waren offenbar unerwünscht."

Gleichwohl in allen Landeskirchen nach Kriegsende die Leitungen ausgetauscht wurden, sollte eine Selbstbesinnung zur eigenen Rolle in der Nazidiktatur lange Zeit ausbleiben. Stattdessen avancierte die Kirche zum Sprachrohr im Kampf gegen die "Siegerjustiz". Die Kirche, die solange zu Unrecht und Mord geschwiegen hatte, stritt jetzt für die Rehabilitation früherer NSDAP-Mitglieder und forderte die Freilassung verurteilter Kriegsverbrecher. Der württembergische Landesbischof Theophil Wurm, in den ersten Nachkriegsjahren EKD-Ratsvorsitzender, beklagte 1949 das "unselige Kollektivprinzip", das bei der Entnazifizierung zur Anwendung käme. Die Bestrafung erfolge nicht aufgrund begangener Vergehen oder Verbrechen, sondern aufgrund der Zugehörigkeit zu einer Menschengruppe. "Davon sind insbesondere Mitglieder der Waffen-SS-Formation betroffen." Zur gleichen Zeit erging an die alliierten Siegermächte ein "Wort der EKD zur Kriegsgefangenen- und Internierten-Frage", in dem es hieß: "Gebt die kriegsgefangenen Frauen und Männer zurück! Sorgt für Freigabe der Internierten! Lasst ab von dem Sonderrecht gegen die Besiegten! Beendet die Auslieferung von Kriegsgefangenen für Kriegsverbrecherprozesse! Gebt wenigstens den Angeklagten deutsche Verteidiger! Gebt den Verurteilten eine Appellationsinstanz und lasst über ihnen Gnade walten!"

EKD-Vorsitz

Im selben Jahr ließ sich Otto Dibelius auf der ersten ordentlichen Synode der EKD in Bielefeld-Bethel zum Ratsvorsitzenden wählen. Und obwohl er einst dem Reichstag, in dem erstmals die Nazis mit den Deutschnationalen über eine eigene Mehrheit verfügten, seinen Segen erteilt hatte, plagten ihn keine Skrupel, ebenso bei der Eröffnung des 1. Deutschen Bundestags am 7. September 1949 die Festpredigt zu halten. Zwar fand Dibelius gänzlich andere Worte, im Mittelpunkt stand der Psalm: "Ich schwöre und will’s halten, dass ich die Rechte deiner Gerechtigkeit halten will" (Ps.119, 106) – auf seine Predigt und Rolle aber beim "Tag von Potsdam" ging der Bischof mit keiner Silbe ein. Und dabei blieb es auch.

Sein Stellvertreter im Rat der EKD, Johannes Lilje, verkündete damals das Ende aller Aufarbeitung: "Der Augenblick ist gekommen, mit der Liquidation unserer Vergangenheit zu einem wirklichen Abschluss zu kommen. (…) Wir haben von Gott eine Frist bekommen für die Klärung unserer eigenen Vergangenheit. Nach menschlichem Urteil ist die Frist vorbei."

(wird fortgesetzt)