Kritische Anmerkungen gegen antiindividualistische und antiuniversalistische Positionen

Die Identitätslinke und ihre Positionen

Immer wieder ist von einer "Identitätslinken" die Rede. Doch was ist damit genau hinsichtlich bestimmter Auffassungen gemeint und welche Positionen werden dort vertreten? Und wie steht es um deren Einstellung zu individualistischen und universalistischen Prinzipien? Antworten auf diese Fragen formuliert der Politikwissenschaftler Armin Pfahl-Traughber.

1. Differenzierung einer Identitäts- und einer Soziallinken

Die angesprochene Identitätslinke geriet jüngst in die Kritik, da ihr eine inhaltliche Ignoranz gegenüber sozioökonomischen Problemen zugeschrieben wurde. Daher rührt auch die behauptete Differenz von Identitäts- und Soziallinker. Hierzu muss daran erinnert werden, dass sich die politische Linke immer zugunsten der sozial Schwachen positioniert hatte. Demnach meinte man in den Arbeitern die bedeutsamste Bezugsgruppe zu sehen und konzentrierte sich auf Sozial- und Wirtschaftspolitik. Spätestens seit der Mitte der 1960er Jahre erfolgte eine Neuorientierung, entstand doch nun eine Kulturlinke mit anderen Themensetzungen. Diese orientierte sich mehr an Anerkennungs- und Identitätsfragen, wobei Gerechtigkeits- und Verteilungsfragen immer weniger relevant wurden. Gleichzeitig galten nicht mehr die Arbeiter, sondern Minderheiten als Zielgruppe. Und damit ging der Blick auf partikulare Gruppen und weg vom gesellschaftlichen Zusammenhang einher. Bereits früh machte der bekannte Philosoph Richard Rorty darauf kritisch aufmerksam.1

Bestärkt wurden derartige Einwände noch durch den Erfolg von Trump bei den US-Präsidentschaftswahlen 2016. Eine einflussreiche Deutung stellte darauf ab, dass die Arbeiter von den Linken nicht mehr angesprochen worden seien. Diese hätten sich daraufhin durch die populistische Agitation des dann gewählten Präsidenten verführen lassen. Mit dem Engagement für Minderheiten allein habe man eben keine Wahlerfolge verbuchen können. Diese Auffassung wurde auch von dem bekannten Politologen Francis Fukuyama vertreten, kritisierte er doch die linke Fixierung auf Identität und Multikulturalismus und die Ignoranz gegenüber der eskalierenden sozialen Ungerechtigkeit.2 Bereits vor ihm hatten in Deutschland weniger bekannte Intellektuelle wie der Politikwissenschaftler Mark Lilla ähnliche Positionen vertreten. Die breiter in der Gesellschaft kursierenden Interessen seien nicht angesprochen worden, man habe sich mehr auf die Identitätsprobleme von Minderheiten bezogen. Damit sei durch ihre Fehlorientierung die Linke mit für Trumps Wahlsieg verantwortlich.3

Gegen derartige Deutungen erhob sich schnell Kritik, die im Kern darauf abstellte, dass zwischen dem Engagement für "Identität" und gegen "Ungleichheit" kein Widerspruch bestehe. "Kulturelle Anerkennung" und "soziale Gerechtigkeit" schlössen sich als Zielsetzungen nicht aus. Auch bei den Arbeiterinteressen gehe es um Identitätspolitik, was sowohl für die Gegenwart wie die Vergangenheit gelte.4 Bezogen auf eine abstrakte Ebene kann man dieser Grundposition zustimmen, bezogen auf die politische Realität indessen nicht. Damit ist folgende Auffassung gemeint: Das Engagement für die Interessen von Minderheiten schließt nicht das Engagement für soziale Gerechtigkeit aus. Beziehen sich dabei indessen die jeweiligen Akteure primär auf eines der beiden Themenfelder und ignorieren die Zielgruppe der anderen Linken, kann man durchaus einen Gegensatz von Identitäts- und Soziallinker in der Praxis konstatieren. Wenn in Deutschland ein linker Publizist kritisch konstatiert, dass die Arbeiter von den Linken verachtet würden, dann steht dies für eine solche Position.5

2. Ideologische Besonderheiten einer Identitätslinken

Die Differenzierung von einer Identitätslinken und einer Soziallinken lässt jeweils Spezifika erkennen, welche eine genauere Definition der gemeinten Identitätslinken erlaubt. Denn bei der anschließenden Begriffsnutzung geht es nicht um das bloße Engagement für diskriminierte Minderheiten, kann dies doch aus unterschiedlichen Grundpositionen mit verschiedenen Reichweiten heraus erfolgen. Bei der folgenden Bestimmung von besonderen Merkmalen muss aber erneut daran erinnert werden, dass hier eine abstrakte Definition der gemeinten politischen Strömungen erfolgt. Sie weisen einerseits selbst bestimmte innere Differenzen auf und bilden insofern in mehrfacher Hinsicht kein homogenes Phänomen. Diese inhaltliche Anmerkung ist für die vorliegende Erörterung relevant, um nicht mit der Benennung bestimmter Erscheinungsformen die Existenz einer Identitätslinken pauschal zu negieren. Mit der Betonung des abstrakten Charakters für das Gemeinte sollten daher die kritischen Reflexionen nicht als wirklichkeitsfremd zur Seite geschoben werden.

Die Bezeichnung "Identitätslinke" meint fortan die Linken, welche bezogen auf eine diskriminierte Gruppe deren besondere Identität als konstitutive Position für ihr politisches Selbstverständnis ansehen.6 Demnach soll es erstens um die Bekämpfung einer Benachteiligung gehen, wobei zweitens die jeweilige Gruppenidentität den Referenzpunkt darstellt. Bei der Ablehnung von Diskriminierung muss es indessen nicht notwendigerweise einen solchen inhaltlichen Zusammenhang geben. Denn die gesellschaftliche Benachteiligung von den jeweiligen Minoritäten kann auch mit universellen Werten kritisiert werden. In dieser Denkperspektive kommt der Gruppenidentität von Menschen keine Relevanz zu. Sie gelten unabhängig von ihren Identitäten als gleichrangig zu behandelnde Wesen. Demgegenüber meint die Identitätslinke, die kollektive Zugehörigkeit sei sehr wohl relevant. Sie stellt auch deren partikulare Identitätsmerkmale über universelle Werte. Dabei kann eine Kritik an den in den Minoritäten existenten Orientierungen keine Rolle spielen.

Die gemeinte Differenzierung lässt sich anhand eines Fallbeispiels verdeutlichen: Die Bürgerrechtsbewegung der Schwarzen in den USA der 1960er Jahre war keineswegs allgemein identitätspolitisch orientiert. Gerade die um Martin Luther King bestehende Mehrheit verwies auf universelle Werte, wobei auf das Gleichheitspostulat des christlichen Selbstverständnisses wie der US-amerikanischen Verfassung verwiesen wurde. Die Hautfarbe der Menschen sollte bei all dem keine Rolle spielen. Demgegenüber betonten andere Bewegungsbestandteile, dass eine besondere schwarze Identität konstitutiv für das Vorgehen sein sollte. Dazu gehörten die Kreise um Malcom X, der indessen mit diesen Auffassungen eines schwarzen Nationalismus kurz vor seinem Tode brach. Die beabsichtigte Bündnispolitik veranschaulicht auch die gemeinte Differenz: Während die erstgenannten Bestandteile dezidiert weiße Mitstreiter finden wollte, strebte die zweitgenannte Richtung auch hier eine bewusste Separierung an. Deren Anhänger sahen darin eine Gefahr für ihre Identität.

3. "Critical Whiteness" und "Cultural Appropriation" als Konzepte

Eine derartige Ausgrenzung lässt sich bei der gegenwärtigen Identitätslinken nicht mehr feststellen. Ganz im Gegenteil besteht sie mehrheitlich aus weißen Intellektuellen, die das Agieren der Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft aufgrund deren Rassismus kritisch hinterfragen wollen. Dabei kommt zwei Konzepten eine besondere Relevanz zu: "Critical Whiteness", also "kritisches Weißsein", und "Cultural Appropriation", also "kulturelle Aneignung". Auch hier bedarf es zunächst der Anmerkung, dass sich dahinter unterschiedliche Inhalte verbergen können. Gleichwohl sei zunächst eine allgemeine Definition vorgetragen: Mit "kritischem Weißsein" wird davon ausgegangen, dass die meisten Angehörigen der weißen Mehrheitsgesellschaft in einer rassistisch geprägten ungleichen Welt lebten und sie die damit einhergehenden Vorteile für sich nicht reflektierten. Mit "kultureller Aneignung" ist eine kritische Position gemeint, welche die Bezüge auf kulturelle Merkmale von ethnischen Minderheiten durch Weiße als letztendlich rassistisch wahrnimmt.

Beide Auffassungen stehen für die Identitätslinke und deren Selbstverständnis, was hier die Beschreibung wie die Kritik daran erklärt. Zunächst seien einige Anmerkungen zum "kritischen Weißsein" formuliert: Dass auch unabhängig von individuellen Einstellungen und Handlungen ein Individuum von strukturellem Rassismus als Weißer profitieren kann, wird durch diesen Ansatz berechtigterweise thematisiert und befördert möglicherweise selbstkritische Reflexionen. Gleichwohl abstrahiert dieses Denken vom konkreten Individuum, wird doch gleich die ganze Gesellschaft als von strukturellem Rassismus geprägt verstanden.7 Dementsprechend können auch bezogen auf diesen Ausgangspunkt mehrere kritische Positionen zu "kritischem Weißsein" formuliert werden: Erstens geht es um ein dualistisches und pauschales Denken in kollektiven Täter-Opfer-Verhältnissen, zweitens wird damit hinsichtlich des Grades von Rassismus kein Unterschied unter Weißen gemacht, und drittens minimiert man so die dem Individuum eigenen Veränderungspotentiale.8

Die "kulturelle Aneignung" bildet das zweitgenannte Konzept: Es geht dabei um Bezüge auf kulturelle Merkmale von ethnischen Minderheiten oder indigenen Völkern, wobei diese zu rassistisch geprägten Stereotypisierungen und Zerrbildern führen würden.9 Gemeint sind damit etwa Dreadlocks als Frisur von Weißen, obwohl diese Haarmode aus anderen kulturellen Kontexten kommt. Angemessen an den kritischen Einschätzungen ist, dass es solche Aneignungen gibt und sie durch eine Mehrheitskultur erfolgen.10 Gleichwohl muss damit keine Herabwürdigung einer Minderheit, sondern kann gerade deren Wertschätzung damit einhergehen. Noch bedenklicher sind indessen die Annahmen, die hinter einer solchen Grundposition stehen: Sie ignoriert, erstens dass die gegenseitige Aneignung über die Jahrhunderte für Kulturen eine Selbstverständlichkeit war, dass sich zweitens damit auch eine kulturelle Bereicherung und Weiterentwicklung verband, und dass drittens derartige Entwicklungen nur im Namen einer kulturellen Reinheit verhindert werden könnten.11

4. Bedenkliche Aspekte (I): Essenzfixierung

Ein erster bedenklicher Aspekt stellt die Essenzfixierung dar. Gemeint ist damit ganz allgemein ein Denken, das die Erkenntnis des Wesens unterstellt. Demnach hat man den eigentlichen Kern eines Phänomens wahrgenommen. Daraus können exklusive Gültigkeitsansprüche für die vertretenen Positionen abgeleitet werden, berühren sie dann doch nicht nur nebensächliche Aspekte, sondern eben hinsichtlich des jeweiligen Betrachtungsobjekts dessen unterstelltes Wesen. Bezogen auf soziale Gruppen meint dies, dass deren Identitätsmerkmale konstitutiv für ihr jeweiliges Selbstverständnis sind. Es geht dabei nicht um allgemeine Eigenschaften, denn über diese werden verständlicherweise Gruppen definiert und unterschieden. Es geht mit der Essenzfixierung darum, dass diese Gruppen in einem hohen Maße als homogene Phänomene angesehen werden. Dabei fällt der Blick primär auf das angesprochene Identitätsmerkmal, während davon abweichende Gesichtspunkte mit der damit einhergehenden Komplexität ignoriert werden.

Die Identitätslinke denkt dementsprechend Minderheitengruppen essentiell, was mit ihrer Deutung als einheitliche Gruppe mit identischen Interessen wie eben als primäres Opfer von diskriminierenden Vorurteilen einhergeht. Gleichzeitig betrachtet man die benachteiligende "Dominanzkultur", wovon eben die kritisierten Folgen für die unterschiedlichen Minderheitengruppen ausgehen, ebenfalls als homogenes Phänomen. Diese besondere Denkungsart nimmt kaum inhaltliche Differenzierungen vor und entspricht auch nicht der gesellschaftlichen Realität. Denn die Angehörigen der gemeinten Gruppen müssen nicht nur immer und überall Unterdrückte sein. Auch der "Kulturelle Aneignung"-Diskurs ist von einer derartigen Essenzfixierung geprägt, ordnet er doch die jeweiligen Bestandteile der gemeinten Kulturen deren besonderem Wesen zu. Dabei gehen gelegentlich Essenzfixierung und Ethnizitätsfixierung konform, definiert doch die Identitätslinke einige der gemeinten Minderheitengruppen auch über die ethnische Zugehörigkeit.12

5. Bedenkliche Aspekte (II): Homogenitätsdenken

Ein zweiter bedenklicher Aspekt wird im Homogenitätsdenken gesehen. Dabei geht es sowohl um das Bild von einer Gesellschaft wie von einer Gruppe. Beide benötigen einen gewissen Grundkonsens, könnten sie doch sonst gar nicht als besonderes Kollektiv wahrgenommen werden. Es stellt sich dabei aber immer die Frage, inwieweit Abweichungen von den identitätsstiftenden Merkmalen möglich wären. Damit geht es um die Einstellung zum Pluralismus, der als Grundprinzip gegen ein Homogenitätsdenken steht. Eine pluralistische Auffassung sieht einen Gewinn in eingeschränkter Vielfalt. Diese bedingt entgegen verbreiteter Fehldeutungen eben keinen absoluten Interessen- und Werterelativismus. Denn das neopluralistische Denken setzt einen Grundkonsens als "nicht-kontroversen Sektor" voraus, womit eben meist Demokratie, Menschenreche und Rechtsstaatlichkeit gemeint sind.13 Das angesprochene Homogenitätsdenken huldigt aber dem Ideal einer weitgehenden Reinheit, die in einer Gesellschaft für Geschlossenheit und nicht für Offenheit steht.

Das Homogenitätsdenken der Identitätslinken artikuliert sich in den Vorstellungen, welche die diskriminierten Minderheiten als einheitliches Phänomen betrachten. Darauf wurde bereits anhand des dortigen Ethnizitätsdenkens hingewiesen. Es kommt aber darüber hinaus noch ein weiterer Gesichtspunkt hinzu, zeigt sich dieser doch gerade bei den ausgeprägten "Kulturelle Aneignung"-Diskursen. Die damit einhergehenden Einwände setzen voraus, dass kulturelle Besonderheiten eben nur bestimmten Minderheitengruppen eigen sind. Dies wird an dem bereits erwähnten Beispiel deutlich, wonach Dreadlocks eben nur von Individuen aus entsprechenden Kulturen, nicht aber von Weißen getragen werden dürften. Überträgt man diese Grundsatzposition auf andere Kontexte, wird die damit einhergehende Problematik deutlich. Denn demnach dürfte auch Mozart nicht von Schwarzen gespielt werden, denn dies würde ebenfalls für eine "kulturelle Aneignung" stehen, dann aber aus der "Dominanzkultur". Beide Beispiele stehen für ein Homogenitätsdenken des Partikularismus.

6. Bedenkliche Aspekte (III): Kulturrelativismus

Einen dritten bedenklichen Aspekt bildet der Kulturrelativismus. Diese Auffassung besteht im Kern darin, dass existenten Kulturen als eben gewachsene Kulturen besondere Wertschätzungen entgegengebracht werden soll. Dabei gibt es keine normativen Einschätzungen, gelten sie doch als verwerfliche Überlegenheitsattitüde. Insofern sollen alle Kulturen gleichwertig sein, was auch eine externe kritische Perspektive negiert. Sie gilt als unzulässige Einmischung in die inneren Gegebenheiten einer Kultur, wären doch deren konstitutive Grundlagen dann universellen Prinzipien verpflichtet. Demgegenüber steht eine partikulare Denkperspektive, die eben Kulturen eine eigene Souveränität zuspricht. Allen wird ein gleiches Ansehen zuteil. Bei diesem Aspekt werden auch die Differenzen von Kulturpluralismus und Kulturrelativismus deutlich: Die erstgenannte Auffassung akzeptiert alle Kulturen, betont aber etwa Menschenrechte als normative Minimalbedingungen. Der Kulturrelativismus kennt indessen ein derart notwendiges Wertefundament nicht.14

Die Identitätslinke nimmt denn auch bei den gemeinten Minderheiten meist nur deren eigene Unterdrückungssituation wahr. Der Gedanke, dass Unterdrückte auch selbst unterdrücken können, bleibt dabei außerhalb der Wahrnehmung. Daher wird mitunter über Antisemitismus, Frauendiskriminierung oder Homosexuellenfeindlichkeit geschwiegen, wenn es um Angehörige anderer Kulturen geht, wo einschlägige Einstellungen mit zum feststellbaren Selbstverständnis zählen. Die Auseinandersetzung mit derartigen Beobachtungen, die eigentlich linken Grundsätzen widersprechen müssten, führt dann auch zu Legitimationskonflikten. Steht man zu der Ablehnung derartiger Einstellungen oder zur Identität der kulturellen Minderheiten? Die Antwort auf diese Frage erlaubt es auch, die jeweilige Ausrichtung der gemeinten Linken zu erkennen. Es geht dabei um eine kulturpluralistische oder eine kulturrelativistische Auffassung im linken Selbstverständnis. Anders formuliert: Besteht eine Wertegebundenheit oder ein Werterelativismus?

7. Bedenkliche Aspekte (IV): Menschenrechtsrelativismus

Ein vierter bedenklicher Aspekt kann in einem Menschenrechtsrelativismus gesehen werden. Dieses besondere Merkmal ergibt sich aus einer normativen Vorentscheidung, die eben in dem Bekenntnis zu Menschenrechten als Menschen zustehenden Rechten auszumachen ist. Es handelt sich hier um ein individuelles und universelles Prinzip. Dieses schließt auch bewusste Distanzen und kritische Einstellungen gegenüber sozialen Gruppen ein, solange mit derartigen Auffassungen keine pauschalen Herabwürdigungen verbunden sind. Der erstgenannte Aspekt meint etwa, dass einzelne Angehörige bestimmter Gruppen sehr wohl mit deren Selbstverständnis brechen können. Der zweite Gesichtspunkt bezieht sich darauf, dass bestimmte Normen und Praktiken in ihnen einer kritischen Prüfung ausgesetzt werden können. Sofern beide Auffassungen von einem Menschenrechtsprimat geprägt sind, haben sie auch nichts mit einer "gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit" zu tun. Ganz im Gegenteil, sind derartige Einwände von einer Frontstellung dagegen motiviert.

Bezogen auf die Identitätslinke lässt sich indessen konstatieren, dass dort beide kritisch angesprochenen Positionen erkennbar sind. Am deutlichsten kann man diese Einstellung bezogen auf den Islam und die Muslime feststellen. Mitunter artikulierten gerade Autoren an beidem Kritik, die selbst aus dem entsprechenden Kulturkreis kamen oder sich als liberale Muslime verstehen. Beispiele dafür sind etwa weibliche Intellektuelle, welche die Frauendiskriminierung in muslimischen Kontexten problematisieren. Ihnen unterstellten Anhänger der Identitätslinken gar "Islamophobie" und "antimuslimischen Rassismus".15 Darüber hinaus besteht dort kaum eine Bereitschaft, etwa den Antisemitismus oder die Homosexuellenfeindlichkeit unter Muslimen stärker zu thematisieren. Eine Begründung dafür lautet, dies nütze Rassisten und Rechten. Gerade die Ignoranz gegenüber solchen Realitäten führt aber mit zu solchen Wirkungen. Gleichzeitig steht diese Grundsatzeinstellung der Identitätslinken für einen Menschenrechtsrelativismus, auch gegenüber Muslimen.

8. Bedenkliche Aspekte (V): Separierungstendenzen

Und einen fünften bedenklichen Aspekt stellen die Separierungstendenzen dar. Dabei geht es darum, dass die Beschwörung von Identität auch immer Wirkungen hat. Es bedarf je nach der inhaltlichen Begründung für die gemeinte Identitätsform auch konkreter Konsequenzen, welche sich auf die Benennung der Dazugehörigen und die Benennung der Nicht-Dazugehörigen bezieht. Ausgrenzung ist demnach ein objektiver Bestandteil des Identitätsdenkens. Dabei kann es verständlicherweise unterschiedliche Formen und Grade geben, welche bei einer konkreten Einschätzung vor dem gewählten Wertungshintergrund unterschieden werden sollen. Fragmentierung und Partikularität gehen damit einher, sie haben auch Folgen für die Gesamtgesellschaft. Abgrenzungen können für legitimes Freiheitsverlangen stehen, sie können aber auch für erheblichen gesellschaftlichen Konfliktstoff stehen. Diese Dimensionen beziehungsweise Folgen verdienen großes Interesse, wenn es um eine Einschätzung der Identitätspolitiken eigenen Separierungstendenzen geht.

Auch wenn eine Abschottung nicht von der Identitätslinken gefordert wird, läuft ihre Grundauffassung auf eine solche Wirkung hinaus. Das hängt hauptsächlich mit der Annahme zusammen, dass die besondere Identität der Minderheitengruppen von diesen ungehindert gepflegt werden soll. Es geht dabei für deren Angehörige nicht um "geschützte Räume" für die Praxis eigener Wertvorstellungen. Derartiges steht für die Freiheit des Individuums und von Kollektiven, woraus für sich allein keine gesellschaftlichen Probleme entstehen. Anders steht es um die Bestandteile kultureller Identität, die mit der normativen Basis einer offenen Gesellschaft im Konflikt stehen. Gerade der Fundamentalismus und Islamismus unter Muslimen steht dafür. Beide Auffassungen müssen nicht mit Gewalttaten und Terrorismus einhergehen. Den legalistischen Akteuren geht es mehr um einen politischen Einflussgewinn, der Ideologisierung über Separierung betreiben will. Die Identitätslinke befördert zumindest indirekt und unbewusst durch ihren Werterelativismus solche Wirkungen.

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  1. Vgl. Richard Rorty, Stolz auf unser Land. Die amerikanische Linke und der Patriotismus (1998), Frankfurt/M. 1999, S. 73-103. ↩︎
  2. Vgl. Francis Fukuyama, Identität. Wie der Verlust der Würde unsere Demokratie gefährdet (2019), Hamburg 2019. ↩︎
  3. Vgl. Mark Lilla, The End of Identity Liberalism (18. November 2016), in: www.nytimes.com; Mark Lilla, The Once and Future Liberal: After Identity Politics, New York 2017. ↩︎
  4. Vgl. Lea Susemichel/Jens Kastner, Partikularinteressen versus soziale Verantwortung? Linke Identitätspolitik (30. August 2020), in: www.deutschlandfunk.de; vgl. ausführlicher dazu: Lea Susemichel/Jens Kastner, Identitätspolitiken Konzepte und Kritiken in Geschichte und Gegenwart der Linken, Münster 2018, S.21-29 und 39-53. Gleiches betont: Peter Weissenburger, Der etablierte Kampfbegriff, in: taz vom 31. Juli 2020, S. 13. ↩︎
  5. Diese Anspielung ist bezogen auf: Christian Baron, Proleten, Pöbel, Parasiten. Warum die Linken die Arbeiter verachten, Berlin 2016. Der Autor arbeitete seinerzeit als "Neues Deutschland"-Redakteur. Ähnlich ausgerichtet ist folgende Buchpublikation: Roberto J. De Lapuente, Rechts gewinnt, weil Links versagt. Schlammschlachten, Selbstzerfleischung und rechte Propaganda, Frankfurt/M. 2018. Der Autor schreibt häufig als Gast im "Neuen Deutschland". ↩︎
  6. Eine gesonderte Gesamtdarstellung zur Identitätslinken liegt nicht vor. Man findet indessen Beiträge dazu in: Susemichel/Kastner, Identitätspolitiken (Anm. 4).Vgl. auch Sandra Kostner (Hrsg.), Identitätslinke Läuterungsagenda. Eine Debatte zu ihren Folgen für Migrationsgesellschaften, Stuttgart 2019; Johannes Richardt (Hrsg.), Die sortierte Gesellschaft. Zur Kritik der Identitätspolitik, Frankfurt/M. 2018. ↩︎
  7. Vgl. als Auswahl aus einer Fülle an Literatur u.a. Maisha Eggers u.a. (Hrsg.), Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißheitsforschung in Deutschland, Münster 2017; Katharina Röggla, Critical Whiteness Studies, Wien 2012; Martina Tißberger, Critical Whiteness. Zur Psychologie hegemonialer Selbstreflexion an der Intersektion von Rassismus und Gender, Wiesbaden 2017; Martina Tißberger u.a. (Hrsg.), Weiß – Weißsein – Whiteness. Kritische Studien zu Gender und Rassismus, Frankfurt/M. 2001. ↩︎
  8. Vgl. Robin Diangelo, Wir müssen über Rassismus sprechen. Was es bedeutet, in unserer Gesellschaft weiss zu sein, Hamburg 2020, sowie die kritische Besprechung dazu: Mathias Brodkorb, Rassismus auf der Couch, in: Cicero, Nr. 9 vom September 2020, S. 14f. Gegen eine derartige Ausweitung des Rassismus-Verständnisses argumentiert auch: Levent Tezcan, Alles Rassisten? Über eine neuartige Maßlosigkeit in der Rassismuskritik, in: taz vom 28. Juli 2020, S.12. ↩︎
  9. Vgl. als Auswahl aus einer Fülle an Literatur u.a. M. M. Eboch (Hrsg.), Cultural Appropriation, New York 2019; Lauren Michele Jackson, White Negros. When Cornrows Were in Vogue … and Other Thoughts on Cultural Appropriation, Boston 2019; James O. Young/Conrad G. Brunk (Hrsg.), The Ethics of Cultural Appropriation, Malden 2012. ↩︎
  10. Vgl. dazu die Beiträge in folgendem Sammelband: Greg Tate (Hrsg.), Everything But The Burden. What White People Are Taking From Black Culture, New York 2003. ↩︎
  11. Vgl. dazu kritisch: Ursula Renz, Was denn bitte ist kulturelle Identität? Eine Orientierung in Zeiten des Populismus, Basel 2019. ↩︎
  12. Auch Susemichel/Kastner, Identitätspolitiken (Anm. 4), S. 89 bemerken, dass sich der ethnisch geprägte "Essenzialismus, den die KritikerInnnen der kulturellen Aneignung propagierten, … konzeptionell vom rechten Nationalismus …kaum mehr unterscheiden" lässt. Darauf verweist ebenfalls: Krsto Lazarevic, Verhinderte Rechte. Eine Kritik der "Kritischen Weißseinsforschung" in Deutschland, in: Vojin Sasa Vukadinovic (Hrsg.), Freiheit ist keine Metapher. Antisemitismus, Migration, Rassismus, Religionskritik, Berlin 2018, S. 293-313, hier S. 298-303. ↩︎
  13. Diese Auffassung ist in den Beiträgen folgenden hier klassischen Sammelbandes begründet: Ernst Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien (1964), 9. Auflage, Baden-Baden 2011. ↩︎
  14. Vgl. Armin Pfahl-Traughber, Toleranz braucht Grenzen. Ein Plädoyer für Kulturpluralismus und gegen Kulturrelativismus, in: Vorgänge, 46. Jg., Nr. 179/2007, S. 110-119; Armin Pfahl-Traughber, Grundlagen einer Einheit in Vielfalt. Kulturpluralismus statt Multikulturalismus, in: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, Nr. 3 vom März 2016, S. 21-24. ↩︎
  15. Vgl. Armin Pfahl-Traughber, Die fehlende Trennschärfe des "Islamophobie"-Konzepts in der Vorurteilsforschung. Ein Plädoyer für das Alternativ-Konzept "Antimuslimismus" bzw. "Muslimenfeindlichkeit", in: Gedeon Botsch u.a. (Hrsg.), Islamophobie und Antisemitismus – ein umstrittener Vergleich, Berlin 2012, S. 11-28; Armin Pfahl-Traughber, "Islamophobie" und "Antimuslimischer Rassismus" – Dekonstruktion zweier Hegemoniekonzepte aus menschenrechtlicher Perspektive, in: Zeitschrift für Politik, 67. Jg., Nr. 2/2020, S. 133-152. ↩︎