Replik auf einen FAZ-Artikel

Evangelische Theologen für assistierten Suizid?

Unlängst schienen die Kirchenrepräsentanten Reiner Anselm, Isolde Karle, und Ulrich Lilie sich in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung für eine Öffnung kirchlicher Einrichtungen gegenüber Suizidassistenz auszusprechen. Das wäre erfreulich gewesen. Wenn sie sich am Ende nicht in einen Widerspruch begeben hätten: Den Entzug der Grundlage geschäftsmäßiger Suizidbeihilfe anzumahnen, gleich nachdem sie doch zuvor gerade für die geschäftsmäßige Organisierung selbiger durch kirchennahe Organisationen plädiert hatten. Das passt nicht zusammen. Eine Analyse.

Bundesverfassungsgericht

Bald ist es ein Jahr her, dass das Bundesverfassungsgericht Paragraph 217 StGB für rechtswidrig erklärte, der auf Wiederholung angelegte (dies ist die Bedeutung des juristischen Begriffs "geschäftsmäßig") und somit auch die professionelle Suizidhilfe in Deutschland fünf Jahre lang kriminalisiert hatte. Das Gericht hat dem Deutschen Bundestag keinerlei Auftrag erteilt, sich hier erneut an Gesetzen zu versuchen. Für den Fall, dass er es doch tut, hat es ihm klare Grenzen gesetzt. Es darf somit also alles so menschenfreundlich liberal bleiben, wie es seit dem Urteilsspruch der Richter ist. Das Grundrecht, über das eigene Lebensende zu entscheiden und Hilfe Dritter in Anspruch nehmen zu können, darf weder ausgehebelt noch mit hohen Hürden behindert werden.

Das Bundesverfassungsgericht hat – worauf seither häufig hingewiesen wird – klargestellt, dass niemand zur Leistung von Suizidhilfe verpflichtet werden darf. Natürlich! Menschen die negative Handlungsfreiheit zu nehmen, Suizidhilfe zu unterlassen, wäre so wenig mit Selbstbestimmung vereinbar, wie es das Verbot des Hilfeleistens zuvor gewesen war. Schade, dass Selbstbestimmung für manche Zeitgenossen keine Selbstverständlichkeit ist – jene zur Hilfeleistung, wie jene zur Hilfeunterlassung.

Analogie zur sexuellen Selbstbestimmung

Diese Überlegung vollziehe man gerne einmal anhand eines vergleichbar sensiblen Selbstbestimmungsrechts nach, dessen Infragestellungen gerade bei jungen Menschen heutzutage auf null Toleranz stieße: Das der sexuellen Selbstbestimmung. Auch aus ihr ist mitnichten ein Anspruch abzuleiten, wonach andere einem zu erotischen Freuden zu verhelfen hätten. Selbstbestimmung ermöglicht eigene wirksame Willenserklärungen, aber zu Konsens gehören immer zwei. Mit der Größe einer Gemeinschaft steigt überdies aber die Wahrscheinlichkeit, dass tatsächlich zwei Menschen zueinander finden, ein hilfesuchender, und ein hilfsbereiter. Einem Liberalen mutet es grotesk an, wenn solche Dinge extra erwähnt werden (müssen).

Unterlassene Hilfeleistung

Das gilt für Individuen. Für den Staat nicht unbedingt. Im deutschen positiven Recht gibt es den Tatbestand der unterlassenen Hilfeleistung. Darunter kann verstanden werden, dass ein frisch verunfallter Mensch akut davor zu beschützen ist, zu versterben. Es wird aber kaum darunter verstanden, dass eine sterbensgewillte Person davor zu schützen sei, gegen ihren Willen weiterleben zu müssen. Weil bei der unterlassenen Hilfeleistung nicht von persönlichen Präferenzen und Selbstbestimmung ausgegangen wird, sondern von dem Dogma, Leben absolut zu erhalten. Dabei ist auch und gerade wer aufgrund seines Leidens zeitnah sterben möchte, doch häufig auf Hilfe angewiesen, wenn es auch nicht um Sekunden geht.

Vor dem Hintergrund dieses Gedankens lässt sich sehr wohl die plausible Forderung aufstellen, dass der Staat die Verwirklichung des Menschenrechts auf Suizid sowie Hilfe dazu für solche, die darauf angewiesen sind, gewährleisten müssen sollte. Er könnte Suizidhilfe selbst ermöglichen, indem er Helfende anständig bezahlt und ihre Professionalisierung fördert, wie andere heilende und pflegende Gesundheitsberufe auch. Privat organisierte Vereine sollten dabei nicht eingeschränkt oder benachteiligt werden, sondern müssen eine Option für Skeptiker von Staat und Kirchen bleiben, die mit Sorgen beobachten, wie Selbstbestimmung durch diese regelmäßig in Frage gestellt wird. Ein "Dilemma", wonach ein Konflikt zwischen Personen bestünde, von denen die einen selbstbestimmt Suizidhilfe in Anspruch nehmen möchten, während die anderen nicht zur Leistung davon genötigt werden wollen, existiert jedenfalls nicht, sondern wird von Theologen allenfalls konstruiert. Solcherlei ist ja nicht deren einzige Konstruktion, denn wissenschafts- und logikaverse Personenkreise sehen vor ihrem inneren Auge bekanntlich vieles, was weniger fantasievollen Gemütern verborgen bleibt, inklusive autoritäre Verhaltensgebote aus anderen Quellen als der menschlichen Erkenntnis.

Freitod = Heroismus?

So kursiert in Theologenkreisen auch die Behauptung, dass mit Suizid in ernstzunehmendem Umfang eine Heroisierung einhergehe, gerade wenn der Ausdruck "Freitod" Anwendung finde. Kaum ein Theologe kann es anderen ersparen, das zu erwähnen. Dies erläutere er doch gerne einmal den vielen Tausenden, die in Deutschland jährlich einsam und grausam, am Strick oder auf Zugschienen, sterben! Angesichts horrender Zahlen an einsamen Suiziden und noch viel mehr Suizidversuchen mit erschütterndsten Folgen im Falle ihres Scheiterns, mutet Gerede von Heroismus als reiner Zynismus an. Heroismus ist ein Problem jener, die über ihn fantasieren, und die derlei Narrativ erzeugen. Gerade Bibelgeschichten und theologisches Storytelling triefen allenthalben vor Pathos und destruktiver Melodramatik.

Analogie zur Selbstbestimmung des Aufenthaltsorts

Man stelle sich einmal einen Republikflüchtling aus der DDR vor, der sich anhören müsste, dass er nur deshalb durch Schießanlagen gerannt oder in Lebensgefahr durch die Berliner Spree getaucht sei, weil er das bestimmt als heldenhaft empfinde. Vielleicht empfanden manche ihn sogar als Held. Das ist aber dann deren Sache, nicht seine. Es ist ihre Verklärung, ihre Legendenbildung, ihre Projektion auf seine Person, aber nicht die des Menschen selbst, der einfach nur in Selbstbestimmung in einem freieren Land leben wollte.

Wie auch Heroismus und Symbolik nicht die Angelegenheit desjenigen sind, der in stillem und vertraulichem Rahmen selbstbestimmt sterben möchte, sondern allenfalls die von Voyeuren und Skandalisierern. Heroisierung gibt es weniger in Zusammenhang mit Suizid als mit Weiterleben. Es gibt unzähliges affirmatives Spruchwerk, wonach das Leben eine Prüfung sei, Leid dazu gehöre, man Stärke zeigen müsse und sich nicht unterkriegen lassen dürfe, man nie aufgeben dürfe, auch unter Inkaufnahme starker Schmerzen. Der Tod wird seltener verherrlicht als das Leben, mit all seinen Härten und Unmenschlichkeiten. Es ist ja persönlich erfreulich, soweit ein Theologe oder ein Gesundheitspolitiker noch nie echte Härten des Lebens erfahren hat, die ihn Sinn und Zweck seines Weiterlebens in Frage stellen ließen. Theologen und Gesundheitspolitiker sind aber keine Fitnesstrainer, die dafür bezahlt werden, ihre Klienten dazu anzufeuern, nicht aufzugeben. Ein Krankenbett ist kein Fitnessstudio. Im Krankenbett soll man einfach sterben dürfen, wenn man es möchte. Heroisierung ist eher dort zu beobachten, wo Personen für das vermeintliche Wohl ihrer Gruppe oder Sippe ihre höchstpersönlichen Bedürfnisse zurücknehmen sollen und eigene Schmerzen ausgehalten werden, weil geglaubt wird, anderen etwas schuldig zu sein.

Nein, bestimmt keine Heldenverehrung, aber doch persönlicher Respekt ist da jenen zu zollen, die in der Lage sind, empathisch loszulassen und von einem Angehörigen Abschied zu nehmen, der aufgrund von Schmerzen und Leid selbstbestimmt aus dem Leben scheiden möchte. Ihn zum Weiterleben zu zwingen versuchen, weil man ihn vermissen würde, wäre eine äußerst widersprüchliche Interpretation von Nächstenliebe.

Druck

Zahlreiche Theologen, die Schultern von Menschen mit moralischen Ansprüchen und Schuld beladen, und Druck erzeugen, indem sie mahnen, dass "jede Entscheidung für eine Selbsttötung" auch "Auswirkungen auf die unmittelbar Beteiligten und die Gesellschaft als Ganzes" habe, sind kaum in der Lage anzuerkennen, dass nahezu jeder signifikante Fortschritt in Sachen Menschlichkeit im Laufe von zweitausend finster ideologischen Jahren gegen den Widerstand von insbesondere christlichen Religionsdogmen erkämpft wurde, gerade indem mutige Menschen gegen Kirchengebote verstießen und damit anderen den Mut verschafften, es gleichzutun.

Eine Gesellschaft muss – soweit sie einen liberalen Anspruch hat und Autorität und Unmündigkeit ablehnt – ertragen, dass gelebte Selbstbestimmung andere inspiriert und beeinflusst, wenn religiös Gläubige es auch für Sünde halten mögen. Wie schon gegen Ehescheidung, Homosexualität, Schwangerschaftsabbruch und vieles mehr, werden die christlichen Kirchen ihre feindselige Haltung gegen Selbstbestimmung über das Lebensende aufgeben müssen. Da stellt sich doch die Frage, warum Staat und Gesellschaft nicht gleich komplett die Kirchen aufgeben sollten.

Selbstbestimmung, Autonomie, Egoismus?

Die Ächtung von Selbstbestimmung als kulturelles Phänomen wird regelmäßig damit zu rechtfertigen versucht, dass auf Beziehungen, auf Verpflichtungen und auf Verantwortung Einzelner gegenüber dem Kollektiv hingewiesen wird, die zu berücksichtigen seien. Damit, wie mit Moral und Schuld allgemein, werden Menschen dazu versklavt, nach fremden Weltanschauungen zu leben. Ein Einfordern von Selbstbestimmung wird schnell mit Unterstellungen und Vorwürfen beantwortet, wonach Individualität überhöht werde. So wird denen, die friedlich sterben wollen, ihr Körper zum Gefängnis gemacht, in dem sie unfriedlich gefangen gehalten werden. Wer leben muss, weil andere es möchten, der kann sich als entrechteter Sklave sehen. Als lebendes Spielzeug anderer und ihrer Moralpräferenzen.

Derweil muss er sich anhören, dass sein Freiheitsanspruch eine "Verabsolutierung des Selbstbestimmungsrechts" sei. Im Rahmen des "christlichen Bilds des Menschen" muss man sich offenbar immer erst um andere kümmern, bevor man an sich denken darf und an eigene Schmerzen, Leid, Qual oder einfachen Unwillen. Die eigenen Ansprüche, in persönlichen, intimsten Angelegenheiten nicht mit fremder Ideologie und Moral behelligt zu werden, werden als übersteigerter Individualismus und Egoismus ausgelegt.

Apropos christliches Menschenbild: Juden, Moslems, Hindus, Angehörige fernöstlicher Glaubensgemeinschaften oder Atheisten haben die Ausgestaltung ihrer höchstpersönlichen Lebenssphären demnach weiterhin gefälligst am christlichen Menschenbild auszurichten. Das Christentum prägt in Deutschland noch immer mit größter Selbstverständlichkeit eine Leitkultur, weil es an Ort und Stelle über Jahrhunderte mit Zwang dominierte. Und es noch immer die Politik im Griff hat, denn hinter einem Pfarrer steht eine ganze Kirchengemeinde, die seinen Wahlempfehlungen folgt, weshalb es ihn nicht zu verärgern gilt.

Christen müssen sich umgekehrt keine Verhaltensgepflogenheiten aus anderen Weltanschauungen vorschreiben lassen, sondern dürfen ihren Riten und Zeremonien unbehelligt nachgehen. Zahlreiche europäische Christen haben auch im 21. Jahrhundert noch nicht begriffen, dass Religionsfreiheit weder exklusiv noch eine Einbahnstraße ist.

Staat und Kirche

Für einen Atheisten sind die Inhalte christlicher Weltanschauung irrelevant. Sie gelten für ihn nicht. Sie sind ihm allenfalls noch ein politisches und juristisches Ärgernis, soweit er dadurch schikaniert wird. Vielen Christen leuchtet nicht ein, dass eine Trennung von Staat und ihrer Kirche deshalb erforderlich ist, weil Christen nur einen Teil des Staates, im Sinne von Bevölkerung, ausmachen. Christen sind nur eine Fraktion. Eine, die gerade in Debatten zum Thema Selbstbestimmung leider zu häufig erkennen lässt, dass viele ihrer Vertreter weiterhin einen totalitären Absolutheitsanspruch haben, weil der ihrem Glauben und ihrer Ideologie inhärent ist.

Viele Atheisten sind Konsequentialisten. Konsequentialisten interessieren sich – im Gegensatz zu Deontologen – für Menschen und deren Gefühle, anstatt für Prinzipien. Mehr Konsequentialismus täte der kontinentaleuropäischen Kultur gut.

Was christliche Theologen meinen, wenn sie von einer Zurückweisung sprechen, die dafür zu gelten habe, "dass der assistierte Suizid zur gesellschaftlichen Normalität wird", kann dahingestellt bleiben. Was im Endeffekt empirische Normalität wird, entscheiden in einer liberalen Gesellschaft keine Technokraten und keine Moralideologen, sondern Menschen in der Akkumulation ihrer jeweils selbstbestimmten Entscheidungen. Planwirtschaftler und Autokraten planen gesellschaftliche Entwicklungen vom Ende her und zwingen Menschen, das zu dessen Eintritt Erforderliche einzuhalten. Liberale lassen sich hingegen davon überraschen, zu welchem Ergebnis sich individuelle Selbstbestimmung am Ende aufaddiert. Dass Selbstbestimmung als Normalität gilt, auch und insbesondere in Sachen Lebensende, ist für Liberale das Selbstverständlichste, derweil es für autoritäre Moralideologen das Unangenehmste ist.

Konsequentialismus

Von Christen ist auch regelmäßig zu hören und zu lesen, dass nur Gott über das Lebensende entscheiden dürfe. Ihr eigener Gott natürlich. Über die Lebensenden aller, auch der Juden, Moslems, Hindus, Atheisten und übrigen Gesellschaftsmitglieder. Ist das nicht ein Angriff auf Religionsfreiheit, wenn nicht gar eine Kriegserklärung an andersartig religiös Gläubige? Als Christ wäre ich doch einstweilen froh, dass ich meine Religion weitestgehend unbehelligt praktizieren darf und niemand auf die Idee kommt, den Spieß umzudrehen und mich zur Einhaltung der Moral seines Glaubens zwingt. Dagegen, dass Christen, selbstbestimmt wie sie es sein dürfen und sollen, sich niemals für Suizidhilfe entscheiden würden, haben Liberale nichts einzuwenden. Und übrigens, die Frage sei bitte gestattet, versündigen Mediziner sich denn nicht, wenn sie erfolgreich das Leben von Menschen verlängern, anstatt sie Gottes Willen zu überlassen?

Wenn Theologen darauf hinweisen, dass "Selbstbestimmung anzuerkennen und zu fördern" "selbstverständlich nicht" bedeute, "jede Handlungsweise gutzuheißen oder sich gar mit ihr zu identifizieren" und "Respekt" "noch lange nicht" heiße, dieses Handeln zu begrüßen oder zu befördern, wird deutlich, dass sie offenbar tatsächlich in Erwägung gezogen haben, dass etwas anderes als dies legitim sein könnte. Das lässt einen Liberalen frösteln. Auf solche Gedanken muss man erstmal kommen. Egal, ob es tatsächlich Voltaire war oder ein anderer, der sagte: "Ich bin anderer Meinung als der Ihrigen, aber ich verteidige mit meinem Leben ihre Freiheit, sie äußern zu dürfen." Manchen Christen bleiben solch liberale Einstellungen ewig fremd.

Respekt

Könnte jemand das theologische Spitzenpersonal in Deutschland einmal darauf hinweisen, dass es auch eine Frage von Respekt ist, ob man Andersgläubigen, die es nicht interessiert, trotzdem regelmäßig damit in den Ohren liegt, dass das Leben eine "Gabe Gottes" sei?! Das sind Parolen für Predigten innerhalb der eigenen Kirchengemeinde, als dem Ort uneingeschränkter Interpretation und Ausgestaltung der eigenen Religionsfreiheit. Für gesellschaftsweite integrierende Debatten sind sie ungeeignet.

Einem Menschen, der leben möchte, ist zu wünschen, dass er das schönste Leben leben kann, das ihm möglich ist. Das Leben wertzuschätzen bedeutet keine Überhöhung oder Heroisierung des Lebens, sondern bedeutet für jeden selbstbestimmten Menschen einzig das, was er selbst sich über sein eigenes Leben überlegt hat. Entsprechendes gilt für Sterben und Tod. Ein würdevolles Sterben ist jeweils das Sterben, das der Sterbende selbst als ein würdevolles Sterben für sich erachtet. Menschen sind davor zu schützen, dass andere über den Wert ihres Lebens und entsprechend auch über den Sinn oder Unsinn ihres Sterbens bestimmen, und sei es auch, dass sie dabei nur die Bibel oder den Lieben Gott zitieren.

Im Nachgang des Bundesverfassungsgerichtsurteils drängen Moralisten und Paternalisten nun ungeduldig darauf, dass Suizidhilfe zumindest im schmalen Rahmen dessen, was das klare und rechtslogische Urteil noch möglich lässt, reguliert wird. Kaum ist der status antes Paragraph 217 StGB wiederhergestellt, wird erneut versucht, Freiheit auszuhöhlen. So fordern manche, dass suizidgewillte Personen Pflichtberatungsangebote wahrnehmen müssen sollen. Und finden, dass sie eine Unbedenklichkeitsprüfung bei einem Arzt über sich ergehen zu lassen hätten. Doch wer die Situation schon immer unangenehm fand, von anderen ungebeten nach seinem Äußeren oder Inneren bewertet zu werden, sei es auf dem Heiratsmarkt oder in der Schule, der wird sich auch am Lebensende keiner Persönlichkeitsprüfung unterwerfen und keiner Zwangsberatung aussetzen wollen.

In der grundsätzlichsten und selbstverständlichsten Frage von Selbstbestimmung, über die sensibelste aller Freiheitsangelegenheiten eine Pflichtberatung aufsuchen zu müssen, kann auch als größte aller Demütigungen empfunden werden. Etwas, das Paternalisten und Regulierer allerdings selbst dann kaum interessiert, wenn man ihnen vor Augen führt, dass sie damit Menschen in hochriskante Do-it-yourself-Suizidversuche treiben, die sonst professionelle, sichere und menschenfreundliche Suizidhilfe in Anspruch genommen hätten. Wie viele Personen tatsächlich unbegleitete Suizidversuche unternehmen werden, kann nur befürchtet werden; unter Fachleuten besteht jedoch große Einigkeit darüber, dass es die Anzahl vollendeter Suizide nicht um ein Zwei- oder Drei-, sondern um ein Vielfaches übersteigt. Ärzte tragen im Übrigen bereits mehr als genug Arbeitslast und Verantwortung. Ihnen noch mehr aufzulasten, ist unverantwortlich.

Schutzkonzept?

Wie so häufig ist Vorsicht vor Etiketten wie "Schutzkonzept" angebracht, das Paternalisten für erforderlich erachten. Dahinter kann zu verstecken versucht werden, dass Menschen in der Verwirklichung ihrer selbstbestimmten Entscheidungen mit Regulierung schikaniert werden. Selbstbestimmung ist in der Tat stets gefährdet, "durch die Erwartungen, die das eigene Umfeld an die Einzelnen richtet". Suizidhilfeorganisationen haben umfangreiche Erfahrung damit, dass Menschen an sie herantreten, die erzählen, dass sie bei Äußerung ihres Suizidwillens im Kreise der Familie mit Widerspruch und Vorwürfen zu rechnen hätten, dass sie sich mit niemandem tabufrei unterhalten können, das Risiko von Stigmatisierung und Ausgrenzung spüren, und dass sie darunter erheblich leiden. Hier vollzieht sich sehr viel stilles Leid hilfsbedürftiger Menschen. Die Befürchtung, Angehörige moralisch zu empören oder durch Suizidverwirklichung gar die Reputation der Familie zu beschädigen, belastet zahlreiche hochbetagte und schwerkranke Menschen, die sich so in einem Dilemma sehen. Auch für "verrückt" erklärt werden zu können, sorgt viele.

Das zu bedenken ist wichtig, denn allenthalben ist das Gegenteil zu hören, wonach viele Menschen sich mit Suizidgedanken tragen würden, weil sie fürchten, Angehörigen zur Last zu fallen, da sie pflegebedürftig sind oder gar, dass böswillige Angehörige ihre pflegeabhängigen Familienmitglieder zum Suizid drängen könnten. Auf diese Weise könne sich eine Kultur entwickeln, in der die Hilfsbedürftigen einfach entsorgt würden. Für einen liberalen Selbstbestimmungsverfechter ist eines so schlimm wie das andere. Misstrauen in gesunde Familien, in denen die Großeltern geliebt werden, hineinzustreuen, ist aber nicht nur gefährlich, sondern zeigt auch, dass selektiv nur eine Seite der Medaille angesehen wird. Angehörige neigen weitaus eher dazu, die Offenbarung eines Suizidwillens zu unterdrücken, als ihn zu respektieren – geschweige denn, ihn niederträchtig zu unterfüttern. Leider respektieren sie ihn zu selten! Wenn es auch aus Liebe geschieht, hat das häufig fatale Folgen.

Druckerzeugung?

In der Tat kann es niemanden erfreuen, wenn ein subtiler "Druck" erzeugt wird, "und untergründig eine bestimmte Normierung des Sterbens" propagiert wird, so wenig es erfreuen, als vielmehr nur bedauern lassen kann, wenn ein subtiler Druck auf Angehörige erzeugt wird, wonach sie am Lebensende alle medizinischen Möglichkeiten auszuschöpfen hätten, um noch wenige Stunden oder Tage leidvolles Leben aus einem sterbenden Körper herauszuquetschen. Ganz besondere Vorsicht ist geboten, wenn jemand auf "Freiverantwortlichkeit"  zu sprechen kommt, die bei selbstbestimmten Entscheidungen vorliegen müsse. Oft leitet er damit gleich die Forderung ein, dass sie jemandem abzusprechen sei. Dabei ist erwachsenen Bürgern Freiverantwortlichkeit ganz standardmäßig zu unterstellen. Ärzte haben Freiverantwortlichkeit nicht aktiv zu beurteilen. Lediglich bei Auftreten von Indizien auf Nichtvorliegen von Freiverantwortlichkeit hat ein Arzt von der passiven Beobachtung zur Benennung überzugehen.

Auf die Idee, die Freiverantwortlichkeit einer Person in Frage zu stellen, die trotz schlimmer Beschwerden entschlossen ist weiterzuleben, kommt derweil kaum ein Theologe. Es geht immer nur in eine Richtung. Auf die Idee, dass es "zum Schutz der Selbstbestimmung sinnvoll und auch legitim" sei, "von Suizidwilligen zu verlangen, sich vor Inanspruchnahme eines assistierten Suizids von einer anerkannten Stelle beraten zu lassen", schon eher. Verunglimpfende Implikationen, wonach andere "Organisationen", womit nur privat organisierte Suizidhilfevereine gemeint sein können, "möglicherweise durchaus eigennützig und nicht im Interesse des Lebensschutzes" handelnd sein könnten, man selbst aber nicht, sind unappetitlich. Wenn Kirchen den Verdacht abwehren wollten, wonach gerade sie selbst sich eigennützig verhalten, sollten sie vielleicht zunächst darauf drängen, dass endlich die "Kirchensteuer" abgeschafft und durch ausdrücklich freiwillige Mitgliedsbeiträge ersetzt wird. Unerfahrene Berufsanfänger werden schließlich auch nicht hinreichend davor gewarnt, dass ihnen Mitgliedsbeiträge zu einer Kirche vom Lohn einbehalten werden. Niemand schickt sie in eine Pflichtberatung. Ein Erfordernis, sich mit Vollendung des achtzehnten Lebensjahres bewusst für eine Finanzierung von Kirchen auszusprechen, wäre die geeignetere Standardeinstellung. Bis dahin wäre Zurückhaltung bei Unterstellungen angebracht.

Bescheidenheit!

Ein Beratungskonzept, das Anknüpfung "an die Vorstellungswelt des sterbewilligen Menschen" mit Weitung dessen Horizonts vorsieht, würde erfordern, ihm inspirierende Perspektiven aus sämtlichen Weltanschauungen nahezubringen. Würde dies "Gemeindepfarrern" und christlichen "Seelsorgern" überlassen, wäre eine einseitige Beschallung mit Auffassungen aus der Echokammer christlicher Weltsicht zu erwarten. Das spricht gerade gegen eine Einbeziehung von Kirchen in Suizidassistenz. Der eigene Anspruch, dabei "reflektiert, prozessorientiert, respektvoll, solidarisch und realistisch" vorzugehen, reicht nicht aus, um einen Vertrauensvorschuss zu begründen. Seelsorger täten gut daran, wenn sie solchen Menschen, die sich in moralischer Schuld, in Verantwortung und in der Illusion, immer allen alles recht machen zu müssen, gefangen fühlen, bestätigen, dass sie auch mal an sich selbst und an die eigenen Schmerzen und Ängste denken, und auch sterben dürfen.

Eine Weltanschauung, nach deren Religionsinterpretation und Selbstverständnis Beziehungen für das Menschsein eine besondere Bedeutung haben, wird hochgradig unglaubwürdig, wenn sie nicht dem gegenseitigen Respekt zwischen Menschen und uneingeschränkter gegenseitiger Zubilligung von Selbstbestimmung allerhöchste Priorität einräumt. Um eine "Brandmarkung" der Unvereinbarkeit mit christlichem Glauben – ob es um assistierten Suizid oder anderes geht – muss ein Theologe sich aber nicht sorgen, denn die braucht Atheisten, Juden, Moslems, Hindus und Diverse nicht interessieren, solange eine Trennung zwischen Staat und Kirchen vorliegt. Christliche Moral hat keinerlei inhaltlich legitimierte Autorität über Andersgläubige. Entweder haben die sich anderen Autoritäten unterworfen oder sie denken selbst.

Beihilfe? Begehen?

Übrigens: "Beihilfe" ist ein antiquierter Ausdruck, der außerhalb des Strafrechts kaum mehr Verwendung findet. Ebenso wie "begehen". Aber es wird wohl kein Ende nehmen, dass Christen und Konservative sie bewusst auf Suizidhilfe anwenden, um die Konnotation des Ungehörigen zu nähren.

Der hier veröffentlichte Artikel war als Replik auf den eingangs bereits erwähnten Artikel gedacht (der leider hinter einer Paywall verborgen ist) und sollte ebenfalls in der FAZ erscheinen. Die FAZ hat sich dann aber gegen eine Veröffentlichung entschieden. Deshalb hat der Autor diese Replik dem hpd zur Verfügung gestellt.

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