Die Evangelische Kirche hat sich in Sachen Missbrauch jahrelang hinter der katholischen Kirche versteckt. Eine nun veröffentlichte Studie zeigt: auch hier ging es vor allem um den Schutz der Täter. Vertuschen, Verschleiern, Verschleppen stand im Vordergrund.
Man stelle sich einmal vor: Ein bundesweit agierendes Unternehmen, dessen Angestellte über Jahrzehnte Tausende Straftaten begangen haben – keine Bagatellvergehen, sondern schwere und schwerste Verbrechen, den sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen. Der Vorstand weiß davon, aber er vertuscht, deckt die Täter und verhängt keine sichtbaren Sanktionen, weder gegen die Täter noch gegen deren Helfer. Normalerweise müsste man die Staatsanwaltschaft einschalten, aber das Unternehmen unternimmt nichts. Und wo kein Kläger, da kein Ermittler. Hier aber geht es nicht um ein gewinnorientiertes Business-Unternehmen, sondern um eine Weltfirma, die als eines ihrer Alleinstellungsmerkmale Barmherzigkeit, Seelentröstung und Glaubwürdigkeit beansprucht: die evangelische Kirche.
Nun hat ein von der Evangelischen Kirche Deutschland beauftragtes Forscherteam einen über 800 Seiten umfassenden Missbrauchsbericht – initiiert und finanziert von der EKD – vorgelegt, in dem von mindestens 2.225 Betroffenen und 1.259 mutmaßlichen Tätern die Rede ist. Die Studie zeigt, wie evangelische Pfarrer und Religionslehrer jungen Menschen sexualisierte Gewalt angetan haben. Das Durchschnittsalter der Betroffenen: Etwa elf Jahre. Es geschah im Gemeindehaus, in der Kirche und in der Kita. Die Täter – fast ausschließlich Männer – nutzten ihr Ansehen und ihre Autorität aus. Sie erniedrigten, erpressten, bedrohten ihre jungen Opfer. Das sei jedoch nur die "Spitze der Spitze des Eisbergs", so der Hannoveraner Professor Martin Wazlawik, der das Forschungsprojekt koordinierte.
Und die Studie belegt: Klerikale Hierarchen versuchten alles, um Aufklärung zu behindern. Vertuschen, Verschleiern, Verschleppen – das stand im Vordergrund. Der Schutz der Täter, nicht das Leid der Opfer. Ein permanenter Skandal.
Die Politik macht einen Kniefall
Daran hat sich bis heute wenig geändert. Auch diesmal hat die evangelische Kirchen-Oligarchie versucht, die Deutungshoheit zu behalten und die Kontrolle über Zahlen und Akten nicht abgegeben. Das Forschungsteam kritisierte die kümmerliche Zulieferung von Daten. So bekamen die Forschenden es nur 780 Personalakten von evangelischer Seite. Als Argument schob die EKD Personalmangel vor. Nur in einer einzigen der 20 Landeskirchen konnten die Forschungsgruppe nicht nur die Disziplinarakten, sondern alle Personalakten einsehen. Trotzdem unternehmen die Autoren der Studie einen Versuch, das wahre Ausmaß des Missbrauchs zu beziffern. Beim Vergleich der vorliegenden Akten habe sich ergeben, dass 57 Prozent der Beschuldigten und 74 Prozent der Opfer in den Disziplinarakten gar nicht auftauchen, heißt es in der Studie. Wenn man dies hochrechne, komme man statt auf 1.259 mutmaßlicher Täter auf knapp 3.500 Beschuldigte und mehr als 9.300 Opfer. Und selbst die Hochrechnungen müssten "mit großer Vorsicht betrachtet werden", schreiben die Wissenschaftler. Sie raten der evangelischen Kirche, endlich kritisch auf sich selbst zu blicken und "weniger in der idealistischen Selbsterzählung zu bleiben". Lange habe sie sich vorgemacht, dass es ein großes Missbrauchsproblem wie in der katholischen Kirche bei ihr nicht geben könne. Zu lange wurde auch hier geschwiegen, relativiert, sich weggeduckt. Zu spät – und oft nur widerwillig – der erkennbarer Wille, die Fälle aufzuarbeiten und die Betroffenen zu entschädigen. Bis heute.
Und die Politik? Sie muss endlich mit dem Aufarbeitungsgesetz um die Ecke kommen, das die Ampelkoalition eigentlich längst angekündigt hat. Bisher übt sie kaum Druck auf die Kirchen aus. Die Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung agiert zu zaghaft, die Parteien halten sich bedeckt und irritierend zurückhaltend. Von Politikerinnen und Politikern, die ansonsten jede Ungerechtigkeit und jeden Sturm im Wasserglas auf ihren Social-Media- Kanälen kommentieren und befeuern, findet sich zu den Ergebnissen der Missbrauch-Studie kein Wort. Die Politik macht einen Kniefall. Wieder einmal.
6 Kommentare
Kommentare
E. Steinbrecher am Permanenter Link
Schon vor Jahren machte ich, in einem meiner Artikel, darauf aufmerksam, das der Unterschied zwischen unseren Amtskirchen, in Sachen physischen Missbrauches, der ist, das die eine Kongregation bereits öffentlich angep
Gerhard Baierlein am Permanenter Link
Der Psychische darf nicht unterschätzt werden!
Gerhard Baierlein am Permanenter Link
Und was ist mit unserer Justiz? müsste diese nicht eingreifen und Ermittlungen beauftragen, ist diese auch derartig religiös unterwandert?
Massnahmen einzuleiten.
Geldstrafen nützen da nichts mehr, da diese alle von unseren Steuergeldern beglichen werden.
Als erste Maßnahme sollte der Religionsunterricht an Grundschulen abgeschafft werden,
damit dort die Kinder nicht schon von Anfang an mit den Gräuelgeschichten der Bibel konfrontiert werden.
Meine persönliche Meinung dazu ist, das Religion KEINE nützlichen Vorteile für die Menschheit hat, sondern nur Probleme verursacht und einzig den Arbeitsscheuen Pfarrern nützt, welche fürstlich von unseren Steuergeldern bezahlt werden.
Religion bringt den heranwachsenden Menschen ein falsches Bild der Realität bei und dieses wird von den Verkündern des selben benutzt um Macht und Ansehen zu generieren.
Die Menschheit ist den Religionen keinerlei Dank schuldig, im Gegenteil diese haben und tun das noch immer, den Menschen nur Kriege, Mord und Totschlag beschert.
Wie lange soll das noch weitergehen, bis die Menschheit aufwacht aus diesem Alptraum?
Dr. Ingeborg Wirries am Permanenter Link
Spätestens jetzt sind die Strafverfolgungsbehörden gefragt/gefordert, die Staatsanwaltschaften der Länder, das Bundesjustizministerium, die Justizministerien der Länder und die Ermittlungsbehörden.
Es ist nicht zu fassen, wie zurückhaltend Politik und Justiz seit 2010 (Aufdeckung der Mißbrauchsfälle am Canisius-Kolleg in Berlin) mit diesen Skandalen bisher umgegangen sind!
Es ist nicht zu fassen, wie sehr sich die deutsche Justiz und die Ermittlungebehörden von der Kirchenlobby gefangen halten lassen. Unabhängige Justiz? Da sind Zweifel angebracht!
Gerhard Baierlein am Permanenter Link
Ich fürchte, die indoktrinierten Strafverfolgungsbehörden werden wieder den Kopf einziehen
und auch diese Verbrechen im Sande verlaufen lassen.
Diese Menschenverachtende Religion hat eine starke Lobby und die, zwar immer mehr werdenden Atheisten, werden einfach ignoriert.
Lange kann das nicht mehr gut gehen.
A.S. am Permanenter Link
Sehr viele unserer Politiker sind Gläubige, d.h. sie glauben das, was die Kirchen erzählen.
Gläubige begreifen nicht, dass sie von ihren religiösen Führern belogen werden.