Missbrauch in der evangelischen Kirche:

"Die Spitze der Spitze des Eisbergs"

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Missbrauchsskandal – bei uns doch kein Thema! Lange Zeit hegte die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) die Illusion, dass sexuelle Gewalt eher ein Problem im katholischen Umfeld sei. Doch eine jetzt veröffentlichte Untersuchung zeichnet ein gänzlich anderes Bild. Mindestens 1.259 Beschuldigte, darunter 511 im Pfarramt, und über 2.225 Betroffene listet die ForuM-Studie in EKD und Diakonie.

Es ist die erste umfassende wissenschaftliche Arbeit ihrer Art. Seit Anfang 2021 untersuchte der unabhängige interdisziplinäre Forschungsverband "ForuM" die unterschiedlichen Aspekte von sexueller Gewalt in der evangelischen Kirche und Diakonie, wertete Akten aus und bezog die Erfahrung von Betroffenen in Form von Interviews ein. Das Resultat wurde gestern der Öffentlichkeit vorgestellt.

Ein bedeutendes Ergebnis: Sexuelle Gewalt in der evangelischen Kirche geschieht an vielen Orten. In Kitas, Gemeinden, kirchliche Jugendgruppen, Pfarrhäusern und -familien sowie Heimen und Kollegien – oftmals beeinträchtigen die sozialen, psychischen und körperlichen Folgen den ganzen weiteren Lebenslauf. Betroffen sind meist Jungen (64,7 Prozent), das Durchschnittsalter betrug bei der ersten Tat rund elf Jahre.

Dabei markieren all diese Zahlen nur die "Spitze der Spitze des Eisbergs", wie Studienleiter Martin Wazlawik (Hochschule Hannover) betonte. Denn von den 20 Landeskirchen stellte nur eine einzige dem Forschungsteam ihre Personalakten zur Verfügung. Dabei hätten das laut Vereinbarung zwischen EKD und Forschern eigentlich alle Landeskirchen tun sollen. Somit standen der Forschung meist lediglich Disziplinarakten zur Verfügung, also solche, bei denen es bereits ein Disziplinarverfahren gegen Kirchenleute gab. Zudem konnten einige Landeskirchen nicht ausschließen, dass in der Vergangenheit Akten verloren gegangen waren. Insgesamt eine "schleppende Zuarbeit" durch kirchliche Stellen, kritisierte einer der weiteren beteiligten Forscher, Dieter Dölling. Selbst die katholische Kirche habe das besser hingekriegt, so sein Resümee.

Wie groß die Lücke zwischen erfassten und unentdeckten Fällen sein könnte, demonstrierten die Wissenschaftler durch eine Schätzung. Von einer Landeskirche kennt man die Anzahl Fälle in den Disziplinar- und den Personalakten. Rechnet man diesen Wert auf das Gesamtbild hoch, muss man von 9335 missbrauchten Kindern und Jugendlichen sowie 3497 Beschuldigten ausgehen. Angaben, die mit größter Vorsicht zu betrachten sind, wie die Forscher betonen.

Doch selbst die gesicherten Zahlen reichten aus, dass sich die kommissarische EKD-Ratsvorsitzende Kirsten Fehrs "zutiefst erschüttert" zeigte. Man müsse sich eingestehen, dass in ihrer Kirche die Täter geschützt werden, räumte die EKD-Chefin ein. Gewiss, nach den Skandalen der letzten Monate kommt all dies nicht überraschend. Welche Strukturen sich begünstigend auf sexuelle Gewalt in Kirchen und Gemeinden auswirkten, arbeitet die Studie auf rund 870 Seiten heraus.

Dass dies so umfassend gelungen ist, geht letztlich auf die Initiative von Betroffenen zurück. Einer von ihnen ist Detlev Zander, Mitglied im Beteiligungsforum sexualisierte Gewalt in der Evangelischen Kirche. Er wertet die Studie als Signal, dass sich vieles ändern müsse in der EKD. Zu lange hätten Kirchenleute die Forderungen und Bedürfnisse von Missbrauchsopfern ignoriert. Mit der Studie habe sich das geändert, die Betroffenen seien sprach- und handlungsfähig geworden, "die Verantwortlichen noch nicht", so Zander. Als bedeutende Maßnahme fordert er die Einrichtung einer übergeordneten kirchlichen Stelle, die Missbrauchsfälle dokumentiert.

Tatsächlich tut sich die EKD schwer mit zentralen Einrichtungen. Anders als die hierarchisch organisierte katholische Kirche setzt sie sich aus 20 Landeskirchen zusammen: jede mit eigenen Standards, auch beim Umgang mit Missbrauchsfällen. Welche Unterstützung eine betroffene Person erfährt, variiert von Ort zu Ort. Dieser Föderalismus ist laut Studie einer von mehreren Faktoren, die sexuelle Gewalt begünstigen und die Aufklärung behindern. Hinzu kommen unklare Verantwortungsverhältnisse, aber auch Merkmale, mit denen sich die evangelische Kirche gern als offene, progressive Institution inszeniert, darunter übersteigerte Harmoniebedürftigkeit bei gleichzeitiger fehlender Konfliktkultur sowie unscharfe Grenzen zwischen Privat- und Berufsleben. Wenn nun Änderungen disktiert werden, dürfte auch der "Markenkern" der evangelischen Kirche betroffen sein.

Bereits im Vorfeld der Veröffentlichung hatten EKD und Diakonie zusammen mit der Unabhängigen Beauftragten der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM), Kerstin Claus, eine gemeinsame Erklärung unterzeichnet. Darin verpflichten sie sich zu Einhaltung von Kriterien und Standards bei der Aufarbeitung. Genannt wurden Professionalität, Transparenz und die Beteiligung von Betroffenen.

Auch in der Politik werden Rufe nach Konsequenzen laut. Die bayerische Landtagsabgeordnete Gabriele Triebel (Grüne) fordert eine Prüfung, ob strafrechtlich relevante Tatbestände vorlägen. Es dürfte nicht derselbe schwerwiegende Fehler wie beim Gutachten der Erzdiözese München und Freising gemacht werden, bei dem die Erkenntnisse erst Jahre später für Ermittlungen herangezogen worden seien.

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