WIEN. (hpd) Die Erzdiözese Wien setzt zu einem Kahlschlag bei ihrer Infrastruktur an – der nicht so heißen darf. Pfarren, vor allem in der Stadt, werden zusammengelegt. Kirchen werden geschlossen. Die Lage dürfte weitaus schlimmer sein, als offiziell kolportiert.
Vergangener Sonntag, halb elf Uhr Vormittag. Die Messe in der Kirche Maria Namen in der Hasner Straße im Wiener Gemeindebezirk Ottakring muss vor wenigen Minuten zu Ende gegangen sein. Eine ältere Dame, offenbar auf dem Heimweg, grüßt den zufällig vorbeikommenden Kolumnisten freundlich aber ostentativ mit “Grüß Gott”. Auf dem kleinen Platz vor der Kirche stehen vielleicht zehn Menschen, auffällig gut gekleidet für die Gegend und die Uhrzeit, und verabschieden sich.
Teil der Gruppe, die sich rasch auflöst, ein Paar mit Kleinkind im Kinderwagen. Er Mitte 30, sie in den späten 20ern. Alle anderen sind sichtbar schon länger in Pension. Das durchschnittliche Alter dürfte, das Kleinkind eingerechnet, kaum wesentlich unter 70 liegen. Das mediane Alter (die Hälfte der Gruppenmitglieder ist jünger, die Hälfte älter) liegt mit Sicherheit jenseits der 70.
Kaum hundert Meter weiter sieht man zwei kleinere Gruppen zu jeweils drei Menschen im gleichen Alter, ähnlich gekleidet. Eine ältere Dame geht auf Krücken. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ebenfalls Messbesucher. Ansonsten gibt es in der näheren Umgebung keinen Ort, an dem sich ältere Menschen gruppenweise treffen würden. Die nächste Aida (Wiener Konditoreikette, Anm.) ist um die zehn Gehminuten entfernt.
Allerhöchstens 60 Messbesucher
Wahrscheinlich stehen noch einige in der Kirche und unterhalten sich mit dem Pfarrer. Einige werden einen anderen Heimweg genommen haben als über die Kreuzung, die der Kolumnist einsehen kann.
Geht man gnädigerweise davon aus, dass der Kolumnist nur die Hälfte oder gar nur ein Drittel der Messbesucher gesehen hat, wie sie nach dem Gottesdienst plaudern oder sich auf den Heimweg machen, macht das höchstens 40 bis 60 Kirchgänger an diesem Sonntag.
Umstände, die die Menschen in Scharen abgehalten hätten, zur Kirche zu gehen, gibt es nicht. Es ist ein ausgesprochen warmer Februarvormittag.
Auch in der Nachbarspfarre kein Massenansturm
Wahrscheinlich war es in der nächst gelegenen Kirche in der Neulerchenfelder Straße, kaum einen Kilometer Gehdistanz entfernt, besser. Dort werden polnische Messen gelesen. Erstaunlicherweise immer noch. Das spätbarocke Gebäude soll auf Wunsch der Erzdiözese demnächst an die serbisch-orthodoxe Kirche übergeben werden. Nach jahrelangem Widerstand der Pfarrmitglieder.
Nur, Massenaufläufe sind auch aus dieser heftig umstrittenen Kirche keine überliefert. Auf gelegentlichen sonntäglichen Spaziergängen gewann auch der Kolumnist nie den Eindruck, die Kirchgänger dort müssten fürchten, keinen Sitzplatz zu finden.
Eine Schätzung, wie viele Menschen die Sonntagsmesse in der Pfarrkirche Neulerchenfeld besuchen, traut sich der Kolumnist nicht zu. Nur so viel: Es liegt mit Sicherheit weit unter den 320 Messbesuchern, die gemäß der Zahlen der Erzdiözese Wien durchschnittlich auf jede Kirche in der Bundeshauptstadt kommen müssten.
An der gemeinsamen Fronleichnamsprozession der beiden Kirchen vergangenes Jahr haben – nach einer Schätzung des Autors - bestenfalls 50 Menschen teilgenommen. Das katholische Leben in diesem Arbeiterbezirk liegt darnieder. Und nicht nur hier.
Nur 38 Prozent Katholiken in Wien
661.037 Katholiken haben laut Gemeinde Wien 2013 in der Stadt gelebt. Das sind knapp 38 Prozent der Bevölkerung. Um die Jahrtausendwende waren es noch 50 Prozent.
Etwa 12 Prozent der Katholiken gehen nach Angaben der Bischofskonferenz jeden Sonntag in die Kirche. Macht in Wien etwa 80.000 Menschen. Offiziell.
Gerade mal 745 katholische Hochzeiten
Für diese für Wiener Verhältnisse überschaubare Zahl an Menschen leistet sich die Erzdiözese nach eigenen Angaben mehr als 250 Kirchen. Glaubt man den kirchlichen Zahlen, macht das pro durchschnittlicher Kirche im Schnitt 320 Messbesucher pro Sonntag. Angesichts der oben geschilderten Beobachtungen des Kolumnisten scheint es, als sei diese nachgerade absurd hohe Zahl ein Ergebnis reichlich kreativer katholischer Schönrechnerei.
Nicht einmal zu freudigen Anlässen nutzen die Wiener die Kirchen noch gerne. Gerade mal 745 katholische Hochzeiten hat es 2012 gegeben
Erzdiözese zieht Reißleine
Das macht reichlich viele Kirchen, die alle regelmäßig vor fast leerem Haus bespielt werden müssen. Das frustriert naheliegender Weise das Personal und die immer kleiner werdende Anzahl an Gläubigen wird das auch nicht zu Begeisterungsbekundungen hinreißen. Außerdem kostet es Geld, die Gebäude zu erhalten. Wenn auch das angesichts üppiger öffentlicher Förderungen das geringste Problem sein dürfte.
Die Erzdiözese zieht mittlerweile auch offiziell die Reißleine. Sie will die Zahl ihrer Pfarren halbieren. Das betrifft auch das Wein- und das Industrieviertel in Niederösterreich, die ebenfalls auf dem Gebiet der Erzdiözese liegen. Dort leben ebenfalls etwa 600.000 Katholiken, aufgeteilt auf etwa 400 Pfarren. Die Zahl der Kirchen dürfte höher sein. Mehrere Pfarrer bespielen mehr als eine Kirche.
Es ist davon auszugehen, dass es auch im ländlichen Bereich der Erzdiözese die eine oder andere Geisterkirche treffen wird. Vermutlich am ehesten jene, die aus den 60er und 70er Jahren stammt, als die Bevölkerung wuchs und mit ihr auch die Zahl der Katholiken. Nichtsdestotrotz erscheint es eine sichere Annahme, dass der Großteil der zu schließenden Kirchen in Wien liegen wird.
Nicht einmal ein Viertel eines Jahrgangs wird katholisch getauft
Dort ist es absehbar, dass sich der Schrumpfungsprozess in den nächsten Jahren deutlich beschleunigen wird. Während in Wien nur etwa 12 Prozent aller Katholiken leben, leben 20 Prozent aller aus der Kirche Ausgetretenen in der Bundeshauptstadt.
Dazu kommt, dass kaum noch Kinder katholisch getauft werden. Im Jahr 2013 waren das laut Gemeinde 4.428. Das ist nicht einmal ein Viertel eines Jahrgangs. Der katholische Schrumpfungsprozess trifft Wien deutlich härter als die auch im Rest des Landes gebeutelte Kirche.
Gleichzeitig sind zehn Prozent der katholischen Bevölkerung Wiens 75 Jahre oder älter. Und sie dürften einen besonders großen Anteil der Kirchgänger ausmachen. In den nächsten Jahren ist zu erwarten, dass die Kirchenbänke deutlich leerer werden.
“Wir schließen keine Kirchen”
Die Zahl der Kirchen zu lichten, erscheint ein logischer Schritt. Allein, nach außen hin will man das so nicht kommunizieren. Von einem Kahlschlag könne keine Rede sein, man werde keine Kirchen zusperren, heißt es offiziell. Nur ein Einzelfällen könne es sein, dass…
Das klingt nach sehr viel Schönfärberei. Pfarren zusammenlegen mag ein wenig das Personal von bürokratischen Aufgaben entlasten. Das ist auch nur eine Zwischenlösung. 2012 wurden in Wien ganze sieben Priester geweiht. Man kann sich ausrechnen, dass das langfristig kaum hinreichen wird, alle 250 Wiener Kirchen mit einem Pfarrer zu beschicken. Zumal nicht alle katholischen Priester in Kirchen eingesetzt sind (mitunter aus gutem Grund). Und das Durchschnittsalter (!) der Priester in der Erzdiözese wird kaum unter 60 liegen.
Tempo der Reform eher gemächlich
Macht mittelfristig noch weniger Pfarrer, die ihre sonntäglichen Auftritte vor noch leereren Kirchen absolvieren. Eile scheint aus Sicht der Erzdiözese allerdings nicht geboten. Das erste Pilotprojekt zur Pfarrenzusammenlegung soll 2015 abgeschlossen sein. Das erscheint reichlich behäbig.
Aber vielleicht wartet man im Erzbischöflichen Palais ja auf ein Wunder, das in den nächsten Jahren die katholischen Implosionen abwendet.
Notizen aus Wien ist monatliche Kolumne unseres Österreich-Korrespondenten.