Rekonstruktion mithilfe historischer Unterlagen

Forschungsreisender Georg Wilhelm Steller erhält ein Gesicht

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Georg Wilhelm Steller (1709 - 1746)
Georg Wilhelm Steller (1709 - 1746)

BERLIN. (hpd) Der Sibirien-Forscher und zugleich erste Europäer, der Alaska betrat, Georg Wilhelm Steller (1709 - 1746), erhält nach fast 300 Jahren ein Gesicht. Über den Forscher ist kaum etwas bekannt, dabei war er einer der herausragenden Forschungsreisenden seiner Zeit.

Als er 1746 die west-sibirische Stadt Tjumen vom Osten her kommend erreicht, ist er bereits schwach und ausgelaugt. Ein schweres Fieber hat Georg Wilhelm Steller befallen, und daher nimmt er das vergleichsweise "milde" Klima der Region vermutlich kaum noch wahr.

Im November ist die Tura, der Fluss, dessen Quellen im Ural-Gebirge liegen und der die die Stadt Tjumen zerteilt, völlig zugefroren. Temperaturen zwischen -20 und -30°C konservieren eine dicke Schneeschicht. Bizarre Eiszapfen-Formationen verzieren die Fensterläden und Hausfassaden der vorwiegend aus Holz gefertigten Gebäude. Die malerische Stadt im Eis ist die letzte Station im Leben des Arztes und Naturforschers Georg Wilhelm Steller. Im Alter von nur 37 Jahren verstirbt er unter der Pflege zweier deutscher Wundärzte, die in Tjumen ansässig sind.

Doch auch nach seinem Tode bleibt der Naturforscher, der 1709 in der Freien Reichsstadt Bad Windsheim geboren wurde und ab 1737 im Auftrage der russischen Zarenkrone eine sehr bedeutende Rolle während der sogenannten Zweiten Kamptschatkaexpedition inne hatte, nicht vor weiterem Unglück verschont. Da er Lutheraner ist, wird ihm eine Beerdigung auf einem Friedhof versagt. So kann er schließlich nur außerhalb der Friedhofsgrenzen zu Grabe getragen werden. Dort jedoch wird sein Leichnam schon bald Opfer von Grabräubern, so dass er erneut bestattet werden muss. Zu allem Übel verschwindet sein Grab in der Folge in den Fluten der Tura.

Schnell gerät auch sein Name in Vergessenheit, obwohl Georg Wilhelm Steller sicherlich als einer der herausragenden Forschungsreisenden seiner Zeit bezeichnet werden muss, ist es doch vor allem ihm zu verdanken, dass Sibirien wissenschaftlich erschlossen werden konnte, dadurch den Rang eines Landes phantastischer Mythen und Legenden verlor und sich zu einem greifbaren Bestandteil der reellen Welt erhob.

Heute ist Tjumen, das 1586 auf den Ruinen der Tartaren-Stadt Chingi-Tura errichtet wurde, eine blühende moderne Großstadt. Wer wie ich aus dem Westen kommend hier ansässig wird, bemerkt gar nicht, dass er sich im Land der Tartaren, unweit der Grenze zu Kasachstan befindet. Große Einkaufszentren bieten längst all das feil, was Konsumenten aus Mitteleuropa, zum Beispiel aus Deutschland, gewohnt sind. An jeder zweiten Straßenecke befindet sich eine gut sortierte Apotheke. Die medizinische Versorgung ist tadellos. Heute wäre Georg Wilhelm Steller hier sicher erfolgreich therapiert worden.

Zunehmend erinnert sich die Welt an jenen deutschstämmigen Pionier, der im Auftrage des russischen Zaren den Osten Sibiriens erkundete und unter dem Kommando des berühmten Entdeckers Vitus Bering an dessen großer Seeexpedition nach Nordamerika teilnahm. Die zweite Kamtschatkaexpedition wird auch als "große nordische Expedition" bezeichnet. Hierbei war Steller ein sehr bedeutsamer Protagonist. Nicht nur war er maßgeblich an der geografischen Erkundung insbesondere Ostsibiriens beteiligt. Auf sein Konto gehen auch unzählige neu entdeckte Tier- und Pflanzenarten. Die Bering’sche Seeexpedition jedoch erwies sich für Steller als durchaus problematisch. Das Verhältnis zwischen Steller und Bering galt als zerrüttet, wofür manche Forscher ein gegenseitiges Konkurrenz-Empfinden verantwortlich machten. Tatsache ist, dass Steller bei Bering auf erbitterten Widerstand stieß, als er den Wunsch äußerte, die heutige Kayak-Insel (am Golf von Alaska) zwecks wissenschaftlicher Proben-Entnahme aufzusuchen. Er setzte jedoch erfolgreich seinen Willen durch, wenngleich ihm für seine Studien ein nur kleines Zeitfenster eingeräumt wurde. Seine durch Forschungsdrang geprägte Hartnäckigkeit ließ Georg Wilhelm Steller so am 30. Juli 1741 zum ersten Europäer werden, der einen Fuß auf den Boden Alaskas setzte. Als das Forschungsschiff "St. Peter" schließlich 1741 an der heutigen Beringinsel strandete und Vitus Bering dort verstarb, war es vorwiegend der Überlebensstärke und der medizinischen Kompetenz Stellers zu verdanken, dass die Mannschaft überlebte und zurück nach Kamtschatka gelangen konnte.

Die internationale Georg-Wilhelm-Steller-Gesellschaft e.v. mit Sitz in Halle/ Saale hat es sich zur Aufgabe gemacht, an jenen Entdecker zu erinnern, der damals seinen Forschungsauftrag in Sibirien mit ungewöhnlich großer Hingabe erfüllte.

Doch auch Tjumen hat die historische und wissenschaftliche Bedeutung des großen Forschers, der hier einst zu Tode kam, längst erkannt. Zu seinem 300. Geburtstag im Jahre 2009 wurde daher ein Gedenkstein errichtet, für den die Stadt großzügig einen repräsentativen Standort zur Verfügung stellte.

Eines jedoch blieb trotz aller Bemühungen des Gedenkens ein Mysterium. Wie soll man sich den Entdeckungsreisenden vorstellen, dessen Forschungsdrang so stark ausgeprägt war, dass er auch nach Schiffbruch und in schwerer existenzieller Not seine naturkundlichen Tätigkeiten fortsetzte und beispielsweise unter widrigen Bedingungen die heute nach ihm benannte Stellersche Seekuh beschrieb? Ein zeitgenössisches Porträt ist nicht überliefert.

Wer sich für den Entdecker interessiert, suchte bislang vergeblich nach einer bildlichen Darstellung. Dies hat sich nun geändert. Am 10. März 2016 wurde an der Tyumen State University feierlich ein Ölgemälde der Öffentlichkeit präsentiert, das im Stile der Darstellungsweisen des 18. Jahrhunderts eine Rekonstruktion Stellers zeigt. Initiiert wurde diese Rekonstruktion durch den Vize-Rektor der Universität, Dr. Andrei Tolstikov, um durch die Existenz eines Bildnisses eine angemessenere öffentliche Wahrnehmung des bedeutenden Entdeckers zu fördern. Der russische Historiker Valery Lendenev und der Künstler A. Makarov erschufen hierbei ein Porträt des Sibirien-Forschers, das auf verschiedenen historischen Quellen basiert. So wurden beispielsweise detailgetreue Aufzeichnungen seiner privaten Hinterlassenschaften hinzugezogen, um Stellers Kleidung in Übereinstimmung mit der damaligen Mode in Europa authentisch darzustellen.

Eine Gesichtsrekonstruktion wurde bereits im Jahre 2009 durch Makarov und Lendenev anhand einer historischen Abbildung durchgeführt. Das Ergebnis ist in der Zeitschrift "Aus Sibirien" seinerzeit zur Veröffentlichung gebracht worden. Die Grundlage für die Rekonstruktion der individuellen Gesichtszüge liefert unter anderem Stellers eigenes Werk aus dem Jahre 1774 mit dem Titel "Beschreibung von dem Lande Kamtschatka". Der Reisebericht enthält nämlich zahlreiche Zeichnungen, die unter anderem durch den Maler und Weggefährten des Entdeckers, Johann Christian Berckhan, angefertigt worden waren.

Lendenev stellte die begründete Hypothese auf, dass die Berckhan‘sche Darstellung eines Schamanen mit auffällig europäischen Gesichtszügen in Wahrheit Stellers Antlitz zeigt. Daher dienten diese Gesichtszüge als Vorlage für die Rekonstruktion. In der Tat hat sich Steller in seinem Kamtschatka-Buch ausführlich nicht nur mit religiösen Gebräuchen, sondern auch mit der traditionellen Kleidung der Itelmenen befasst. Seinem 27. Kapitel über "die Kleidung der Itelmenen" kann eindeutig entnommen werden, dass der Naturforscher jedes einzelne Kleidungsstück ausführlich hinsichtlich der Form, der Herstellungsweise und der Stoffeigenschaften studiert hat. Zur Beurteilung des Tragekomforts sowie des Verhaltens der Materialien bei Witterungs-Veränderungen hat Steller traditionelle Garderobe gemäß eigenen Aussagen zudem regelmäßig selbst getragen. Die Plausibilität der Annahme, dass er in dieser Kleidung daher auch vor Berckhan posierte kann also durchaus überzeugen.

Valery Lendenev behauptet übrigens von sich, ein Nachkomme jenes Kopisten und Übersetzers Jakob Johann Lindenau zu sein, der dem Historiker und Sprachforscher Johann Eberhard Fischer (1697-1771) unterstellt war und mit ihm zusammen an der großen Nordischen Expedition teilgenommen hat. Der russische Forscher Lendenev kann seine besondere Begeisterung für jene große Entdeckungsreise des 18. Jahrhunderts daher also auch auf ganz persönliche familiäre Beziehungen zum damaligen Geschehen zurückführen. Das Ergebnis der fertigen Rekonstruktion in Form eines Gemäldes zeigt Steller als einen Großen seiner Zeit, der sich nicht nur durch eine universelle Bildung hervortat, sondern mit unerschöpflichem Tatendrang erheblich dazu beitrug, die größte zusammenhängende Landmasse der Welt besser zu verstehen.

Längst haben sich zahlreiche moderne Forscher auf die Spuren Stellers begeben und studieren Vulkanaktivitäten auf Kamtschatka oder setzen sich ein für den Erhalt einzigartiger Lebensräume, wie beispielsweise dem des vom Aussterben bedrohten Sibirischen Tigers.

Auch die Tyumen State University beteiligt sich unter Verwendung modernster Methoden an der Erforschung Sibiriens, wobei sie rege Kooperationen mit deutschen Einrichtungen pflegt. So wird bereits seit Jahren erfolgreich ein Projekt zur Klimaforschung durchgeführt, das Wissenschaftler der Universität Münster koordinieren. Ich selbst bin als Milbenforscher diesem Projekt angegliedert und zumeist vor Ort in Tjumen. Denn obgleich wir Sibirien heute wesentlich besser kennen als Steller nur zu hoffen wagen konnte, ist die riesige Landmasse in vielerlei Hinsicht noch immer eine terra incognita, zum Beispiel im Bereich der Milbenforschung.

Georg Wilhelm Steller war ein Kind der Aufklärung. Als Mitglied der Petersburger Akademie der Wissenschaften verfocht er eine vernunftorientierten Gesellschaft, in der logische Erkenntnisse die früheren Dogmen zur Beschaffenheit der Welt, die auf religiösem Glauben basierten, ablösen sollten. Auf jene Zeiten eines einschneidenden gesellschaftlichen und kulturellen Wandels kann heute nicht oft genug hingewiesen werden. Denn im eigentlich fortschrittlichen 21. Jahrhundert greifen zunehmend moderne Formen des Kreationismus um sich, auch in Deutschland, deren Ziel es ist, das Wissen zu schmälern und die Glaubensbereitschaft zu erhöhen. Wir müssen uns hiergegen zur Wehr setzen, denn nur ein wissenschaftlich begründetes Verständnis unserer Umwelt kann dazu beitragen, diese dauerhaft zu erhalten.