Kommentar

Margot Käßmann und der Terror

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BERLIN. (hpd) Soll man Terroristen mit Liebe begegnen? Die ehemalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Margot Käßmann, hat einiges Aufsehen provoziert mit ihrer Behauptung, Christen dürften nicht mit Gewalt auf den islamischen Terror reagieren, sondern mit Liebe und Gebet.

"Jesus hat eine Herausforderung hinterlassen: Liebet eure Feinde! Betet für die, die euch verfolgen! Er hat sich nicht verführen lassen, auf Gewalt mit Gewalt zu antworten. Für Terroristen, die meinen, dass Menschen im Namen Gottes töten dürfen, ist das die größte Provokation." Ist das wirklich eine christliche Haltung? Würde Jesus heute etwa auf den Anschlag in Lahore so antworten wie Margot Käßmann?

Nun, für diejenigen Christen, die gern die Überlegenheit ihres heiligen Buchs – also des "neuen" Testaments – gegenüber den heiligen Büchern der Juden und Muslime herausstreichen, ist diese Schlussfolgerung zwingend. Gegenüber dem "alttestamentarischen Gesetz der Rache, Aug um Auge, Zahn um Zahn" haben sich Christen oft mit ihrem "Gesetz der Liebe" gebrüstet, und Ähnliches gilt für jene Passagen im Koran, die zur Unterwerfung der Ungläubigen und zum Mord an den Juden aufrufen.

Der Kontext ist entscheidend

Demgegenüber gilt es festzuhalten, dass jedes dieser Bücher im Kontext seiner Entstehung zu lesen ist. Jesus von Nazareth lebte, als Palästina römisches Protektorat war. Jüdische Fundamentalisten, Extremisten und Nationalisten waren mit der Herrschaft Roms und seiner jüdischen Statthalter nicht einverstanden und predigten den bewaffneten Aufstand wie die Zeloten oder den Rückzug ins Reine wie die Essener. Wo der historische Jesus wirklich stand, ist schwer auszumachen. Die Römer kreuzigten ihn – dies immerhin scheint als Faktum festzustehen, allein schon, weil es ein Skandalon ist – als "König der Juden", das heißt, mit der Methode, die sie für Banditen, Räuber und Aufständische reservierten, und mit der Begründung, er habe sich zu einem Führer seines Volkes aufschwingen wollen.

Seine Anhänger, so viel steht fest, leisteten dagegen keinen nennenswerten Widerstand. Erst Jahrzehnte nach seiner Kreuzigung brach der bewaffnete Widerstand aus, mit katastrophalen Folgen für die Juden. Die Evangelien in der uns überlieferten Form wurden nach der Zerstörung des Tempels durch die Römer verändert, um Hinweise auf diese Ereignisse als Prophezeiungen aus dem Mund des Gekreuzigten aufzunehmen. Möglich auch, dass sie auch sonst redigiert wurden, um Jesus und seine Anhänger friedlicher erscheinen zu lassen, als sie es zu seinen Lebzeiten gewesen waren.

Denn eines war klar, und das zu erkennen war die große Leistung des Gründers der neuen Religion, Saulus aus Tarsus im heutigen Syrien: Mit einem direkten Aufstand gegen Rom war nichts zu gewinnen außer dem Tod. Jedoch bedeutete der Liberalismus des Imperiums – für den die Apostelgeschichte mehrere Beispiele liefert – und die Existenz einer einflussreichen jüdischen Diaspora, dass man den Versuch wagen konnte, den neuen Glauben friedlich zu verbreiten. Zwar gaben sich die frühen Christen gern blutdürstigen Endzeitvisionen hin, wie die Offenbarung des Johannes beweist; in der Praxis waren sie jedoch quietistisch und loyal gegenüber den römischen Behörden, die sie als "von Gott eingesetzt" anerkannten, wie Saulus/Paulus lehrte. Als das Christentum drei Jahrhunderte später zur Staatsreligion avancierte, war es im Inneren mit der Toleranz und nach außen mit der Friedfertigkeit vorbei, und dafür fanden sich denn auch die nötigen theologischen Begründungen, zum Beispiel die Lehre vom gerechten Krieg.

Es ist also völlig absurd, die Lehren des Jesus von Nazareth, etwa das "Liebet eure Feinde" oder "Haltet die andere Wange hin" außerhalb ihres Kontextes zu lesen und auf eine Situation zu übertragen, die Jesus weder kannte noch sich vorzustellen vermocht hätte. Möglich sogar, dass er, wenn man seine Ausführungen gegen Reiche ernst nimmt, und wenn man bedenkt, wie das Christentum seine Lehre inzwischen verfälscht hat, man denke nur an die Lehre von der Dreifaltigkeit, eher mit den heutigen Fundamentalisten des Einen Gottes sympathisieren würde als mit den häretischen Anbetern des Mammon.

Was würde Luther dazu sagen? 

Niemand wusste das besser als Martin Luther, und das müsste Margot Käßmann als "Botschafterin für das Lutherjahr" 2017 eigentlich wissen. Ich zitiere Karl F. Grimmer aus dem Sonntagsblatt, der die Positionen des Reformators, wie sie von der Evangelischen Kirche verstanden werden, gut zusammenfasst:

Martin Luther wollte die Bergpredigt nicht als Forderung, sondern als Evangelium verstanden wissen. Die Bergpredigt handelt von den Früchten des Glaubens. Als Anleitung zum Leben in der Welt der Sünde ist sie nicht geeignet. Allenfalls kann man, so neuere Interpretationen Luthers, durch die Bergpredigt sein Scheitern erkennen und auf die Rechtfertigung allein aus Gnade verwiesen werden.

Anders gesagt: Die Forderung nach der Feindesliebe (und so weiter: Armut, Keuschheit, Gottvertrauen) soll uns ein schlechtes Gewissen machen. Da wir so nicht handeln können, sind wir auf die Gnade (und also die Kirche) angewiesen. Toll.

"Allerdings hat Luther die Möglichkeit, den Forderungen der Bergpredigt nachzukommen, nicht völlig ausgeschlossen", so Grimmer weiter. "Aber der Christ steht nur für sich selbst unter dieser Forderung, er kann die andere Backe hinhalten usw. Sobald er Verantwortung für andere hat, in seiner Familie oder einem öffentlichen Amt, wiegt diese Verantwortung schwerer. Dann muss mit allen Mitteln des weltlichen Regiments das Lebensnotwendige getan werden, notfalls mit der Durchsetzung von Gewalt." Genau. Und wenn‘s gegen die Papisten, die Bauern oder die Juden ging, dann schwelgte Luther in Gewaltfantasien, die einem Osama bin Laden in nichts nachstanden. Immerhin war er nicht so verlogen wie seine heutige Botschafterin.

Und Hitler? Und Stalin?

Verlogen hinsichtlich der Botschaft Jesus und Luthers, und realitätsblind gegenüber der Geschichte. "Millionen von Menschen wären gerettet worden, wenn Hitler frühzeitig getötet worden wäre", wendet Miriam Hollstein von der BamS zu Recht ein. Käßmann antwortet: "Sie wären gerettet worden, wenn sich alle Christen dem Holocaust entgegengestellt hätten. Wenn Soldaten sich geweigert hätten, nach Stalingrad zu ziehen. Es braucht keinen Tyrannenmord, wenn es einen Geist des Widerstands gibt." Gewiss doch. Da es aber diesen Geist nicht gab: Was dann?

Und weiter: "Ja, eine solche Haltung wird belacht und sie wird auch viele Menschen überfordern. Weil es der menschliche Instinkt ist, Rache zu üben. Aber auf den Hass nicht mit Hass zu antworten, das ist die Herausforderung. Die größten Persönlichkeiten in der Geschichte sind nicht Stalin, Hitler oder Pol Pot, sondern Martin Luther King, Mahatma Gandhi oder Aung San Suu Kyi, die nicht mit Gewalt reagierten." Ähm, Moment: Hitler, Stalin und Pol Pot wären Rächer gewesen? Leute, die mit "Hass auf Hass antworteten"? Und wer hat sie gestoppt? Bestimmt nicht die Gandhis dieser Welt, sondern im Falle Hitlers ein Winston Churchill – mit Gewalt; im Falle Stalins ein Harry Truman – mit Gewalt; im Falle Pol Pots die vietnamesische Armee und Heng Samrin – mit Gewalt.

Auch Gandhi, Martin Luther King und Aung San Suu Kyi (über die das letzte Wort der Geschichte noch nicht gesprochen ist) müssen – wie Jesus und Paulus – im historischen Kontext gesehen werden. Gandhi etwa kämpfte gegen das Britische Empire, das letztlich unfähig war, ihn zu besiegen, weil es die eigenen Ideale und Grundsätze, die Gandhi übernahm und gegen die Kolonialherrschaft wandte, nicht verraten wollte und konnte. In Großbritannien selbst genoss Gandhi große Sympathien. Martin Luther King klagte die Rechte der schwarzen Bürger der USA ein, die ja in der Verfassung verankert waren; wie Gandhi wusste er, dass seine symbolischen Aktionen in den freien Medien Resonanz finden und die Politiker zum Handeln zwingen würden. Weder Gandhi noch King hätten gegen Stalin oder Hitler etwas ausrichten können, und heute so etwas zu suggerieren ist nicht nur naiv, sondern unverantwortlich und im eigentlichen Sinne unchristlich.

Nachveröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Autors.