Autoritäre Denkfabriken auf dem Vormarsch:

Wie viele Fakten kann man checken, bevor die Synapsen schmelzen?

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Printmedien mit ihrem langsamen "news cycle" tun sich zunehmend schwer in der Konkurrenz mit Online-Medien und den sozialen Netzwerken.
Ein vermummter Mensch liest eine brennende Zeitung

Der klassische Journalismus, der die Banner der Objektivität und Neutralität schwenkt, steht vor einem großen Problem: Vor einem Guerilla-Informationskrieg. Der etablierten Medienlandschaft stehen populistische Netzwerke gegenüber, deren Intention nicht mehr die Durchsetzung eines völkischen Narrativs ist, sondern die vollständige Erosion demokratischer Prinzipien. Mittel der Wahl ist dabei, die Zivilbevölkerung mit so viel und so widersprüchlicher Desinformation zu überwältigen, dass diese irgendwann dankbar den "starken Mann" als ihren Anführer akzeptiert.

60 Prozent aller US-Amerikaner*innen geben einer aktuellen Studie zufolge an, schon einmal völlig widersprüchliche Informationen zu einem Ereignis in den Medien präsentiert bekommen zu haben. Fox News, Dreh- und Angelpunkt konservativer Medienschaffender in den USA, schreckt nicht einmal davor zurück, bewaffnete Milizen in Aufnahmen aus Seattle hineinzuphotoshoppen, um des Präsidenten Narrativ der "linksextremen, gewaltbereiten Antifa-Demonstranten" (so oder so ähnlich) zu untermauern.

Pionier dieser Taktik ist ein alter Bekannter: Steve Bannon, der mit Breitbart News das wohl bekannteste autoritäre "Nachrichtenportal" betreibt. Bannon versucht bereits, über eine neurechte Populistenakademie und politische Allianzen Einfluss auf den europäischen Kontinent zu nehmen. Und als wäre das nicht Crux genug, haben wir in Deutschland bereits unser eigenes Problem mit jenen, die den Diskurs mit zusammenhanglosem Müll fluten, dessen einzige Zwecke Irritation und Agitation sind.

Verbreitung vor allem über soziale Netzwerke

Da wäre beispielsweise der Blog Journalistenwatch. In einem Beitrag für Die Zeit spürt Christian Fuchs dem gleichnamigen Verein hinter der rechtspopulistischen Seite hinterher. Der 2012 von Thomas Böhm in Berlin gegründete Verein für Medienkritik und Gegenöffentlichkeit fördere laut Satzung die "demokratische und staatsbürgerliche Bildung" – später in "Volksbildung" umbenannt – und bekam 2017 die Gemeinnützigkeit zugesprochen. Die Freude darüber drückte der Vorstand auf der Website so aus: "Sie sparen mit jeder Spende Steuern und können so dem Merkel-Regime noch eins auswischen."

2019 war es dann vorbei mit der Absetzbarkeit der Spendengelder, das Finanzamt Meißen – der Verein hatte inzwischen mehrmals den Sitz gewechselt – kassierte den Bescheid endgültig wieder ein. Wie viele Menschen den Blog pro Tag besuchen, lässt sich nicht genau beziffern, Schätzungen belaufen sich auf mehrere Hunderttausend Seitenaufrufe pro Tag. In den sozialen Medien jedoch, insbesondere auf Facebook, sei die Reichweite von Journalistenwatch größer als die vieler etablierter Zeitungen.

Es ist typisch für Desinformation, dass sie sich vor allem in sozialen Netzwerken verbreitet. Eine andere steuerbegünstigte Denkfabrik mit autoritären Tendenzen ist das im sachsen-anhaltinischen Schnellrhoda beheimatete Institut für Staatspolitik (IfS) von Götz Kubitschek. Das IfS versteht sich als Akademie für den Nachwuchs der Identitären Bewegung sowie der AfD – in gewissem Sinne haben wir also bereits unsere eigene "völkische Gladiatorenschule".

Ein niemals endendes Buffet an Schwachsinn

Ein weiteres Beispiel für lawinenartige Desinformationskampagnen in Deutschland liefert aktuell der Koch, der nicht genannt werden darf. In Chats auf Telegram sammeln sich seine Follower, die selbsternannten "Patrioten", und fressen ein niemals endendes Buffet an Schwachsinn in sich hinein. Dass dieser Prozess nicht ungefährlich ist, zeigt die Tatsache, dass mittlerweile sowohl die brandenburg'sche Kriminalpolizei als auch der Militärische Abschirmdienst ermitteln.

Dabei ist die Unterscheidung zwischen opportunistischer Geldgeierei und pathologischem Totalitarismus bei einzelnen Akteuren nur schwer möglich. Wie der erste Skeptiker des Jahres 2020 zeigt, ist die ursprünglich der Hippie- und New-Age-Bewegung entsprungene – und damit eigentlich im Kern freiheitliche – esoterisch-spirituelle Szene bereits fest im Griff rechtsdrehender Geschäftemacher. Setzt man sich an dieses Koches Tisch, so merkt man schnell, wie die Grenze zwischen Realität und Wahn mit jedem servierten Gang weiter verschwimmt, wie die zahllosen konkurrierenden Verschwörungen langsam, aber stetig die gemeinsame Grundlage der Realität erst zer- und dann er-setzen.

Die Tatsache, dass so viele andere Menschen in der eigenen filter bubble diese Falschinformationen glauben und die verstörenden Narrative unterstützen, plus die algorithmischen Strukturen, die selbsterfüllenden Prophezeiungen gleichen, schaffen ein Klima, in dem Undenkbares denkbar, Unsagbares sagbar und Unmögliches möglich geworden ist. Sean Illing fasste es für VOX wahrlich akkurat zusammen: "We're in an age of manufactured nihilism." ("Wir befinden uns im Zeitalter des produzierten Nihilismus.")

Der Teufelskreis aus news cycle und Aufmerksamkeitsökonomie

"Flooding the zone with sh*t", wie Steve Bannon es ausdrückt, führt zu einer völligen Entfremdung des Individuums vom zwischenmenschlichen Diskurs über Gesellschaft und Zusammenleben. Die Mitmenschen werden nicht mehr als Individuen angesehen, sondern als NPCs ("non-player character"), als einer fremden Programmierung unterworfene "Nicht-Menschen", so wie vom Computer gesteuerte Figuren in einem Videospiel. Die Mitwelt formt sich nicht mehr durch spielerischen Diskurs mit ebendiesen Mitmenschen, sondern wird verstanden als von "Kabalen und Eliten" a priori für das Volk erdachter Käfig. Indem sich Menschen diesen Narrativen hingeben, entmachten sie sich selbst und entrechten alle anderen. Retten kann die Welt dann nur noch wahlweise der ominöse "Q" oder der Messias in Gestalt von Donald Trump.

Das ist es, was an all diesen Desinformationsoffensiven so absonderlich ist: Außerhalb der Blase wirken sie beinahe satirisch. Doch die Sogwirkung ist enorm. Außerdem steht zu befürchten, dass die technologischen Mechanismen der modernen Medienwelt den Bannons und Böhms gleich doppelt in die Karten spielen:

Der news cycle, also der Zeitraum, in dem eine Information "veraltet", verkürzt sich zunehmend. Die meisten Menschen sind den 24-hour news cycle gewohnt, der in den 70er- und 80er-Jahren durch die Verbreitung des Fernsehers und damit der täglichen Nachrichtensendung entstanden ist. Vor nicht einmal 100 Jahren, als das Radio gerade seinen Siegeszug in den europäischen Wohnzimmern antrat, betrug die Länge des news cycle noch etwa eine Woche.

Wie Thomas Poell von der Uni Amsterdam in seiner Studie "Social Media, Temporality and the Legitimacy of Protest" herausarbeitet, haben soziale Medien immens zur Beschleunigung dieses Prozesses beigetragen. Problematisch hieran: Je schneller Informationen "veralten", je schneller der Strom an neuen Inhalten wird, desto schwieriger, diese Inhalte in einen höheren Kontext einzuordnen. Poell spricht hier von "episodischer" versus "thematischer" Berichterstattung. Ein Beispiel: Der US-amerikanische Präsident schafft es, mit einer Handvoll Tweets einen kompletten news cycle um sich herum zu konstruieren und somit von eigentlich relevanten Themen abzulenken.

Warum dennoch jedes Medienhaus gezwungen ist, diese Tweets zu behandeln, zeigt ein Blick auf die politökonomische Konstruktion moderner Medien: Die Ökonomie der sozialen Medien ist eine Aufmerksamkeitsökonomie. Shares, Likes und Retweets, das sind bare Euros oder wahlweise Dollars. Bereits 1989 bewiesen Noam Chomsky und Edward Herman in "Manufacturing Consent: The Political Economy of the Mass Media", dass in der liberalen Medienlandschaft vollautomatische Selbstzensurmechanismen existieren, die durch die Notwendigkeit der Nähe zu den Nachrichtenagenturen wie aber auch zu den Werbekunden entstehen. Im Sinne der Profitausrichtung können es sich die Medienhäuser gar nicht leisten, Tweets des US-amerikanischen Präsidenten oder den neuesten populistischen Querschläger irgendeiner AfD-Landtagsfraktion nicht zu behandeln, zu kommentieren und zu kontextualisieren. Gebracht wird, was die Quote steigert.

Müssen wir die Rolle der "Vierten Gewalt" neu denken?

Dass dies ein zweischneidiges Schwert ist, zeigt der in den USA festgestellte "illusory truth effect": Je häufiger eine Aussage wiederholt wird, egal wie falsch sie auch sein mag, desto eher ist jemand geneigt, sie zu glauben und sogar  weiterzuverbreiten. Der Linguist George Lakoff nennt dies den "framing effect". "Wenn ich sage 'Denken Sie nicht an einen Elefanten!', dann können Sie gar nicht anders, als an einen Elefanten zu denken", so Lakoff.

Gleichzeitig jedoch sind Verlage, Magazine und Zeitungen einem Selbstverständnis von journalistischer Ethik verpflichtet, das von manchen Akteuren in den USA wie aber auch in Deutschland mittlerweile in Frage gestellt wird. Angesichts der Tatsache, dass die Populisten von heute kein eindeutiges Narrativ mehr zu verfolgen scheinen, das man debunken und widerlegen könnte, sondern auf eine Taktik der informationellen Vernebelung und inhaltlichen Kompartimentierung setzen, muss man sich fragen, ob die Gebote der Neutralität und Objektivität neu ausdiskutiert werden müssen.

Muss die liberale Demokratie dem eine Bühne bieten, dem Gehör schenken, der sie erodieren will? Muss der Journalismus diejenigen zu Wort kommen lassen, die ihn als den Feind betrachten? Müssen wir die Rolle der "Vierten Gewalt" neu denken, jetzt, wo jeder Mensch mit einem Smartphone zum Medienschaffenden werden kann?

Eines ist jedenfalls klar: Menschen wie Bannon führen eine Schlacht gegen die freiheitliche Demokratie an sich. Ihr Ziel ist der Totalitarismus und die Waffe der Wahl ist das Chaos. Die Denkweise der Populisten, ihre Methodiken und Mechaniken müssen wir diskutieren und verstehen lernen, ebenfalls die Mechanismen moderner Medien und Algorithmen. Schließen wir mit einem Zitat aus Sean Illings Artikel: "Stellen Sie sich das 'zone-flooding' nicht wie eine von einzelnen Personen oder Gruppen erfundene Strategie vor, sondern viel mehr als notwendige Konsequenz der Funktionsweise von modernen Medien."

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