Der moderne Nostradamus

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Dr. Rudolf Steiner, 1900 / Fotograf unbekannt / Quelle: wikipedia

WIEN. (hpd) Die deutschsprachige Welt, vor allem Österreich, erlebt einen Hype um den Anthroposophen Rudolf Steiner. Dessen Geburtstag jährt sich heuer zum 150. Mal. Für viele Anlass genug, ihn zum Vater der Moderne schlechthin zu erklären. Eine Analyse.

Das renommierte Wiener Museum für Angewandte Kunst (MAK) erklärt Rudolf Steiner in der Ausstellung „Die Alchemie des Alltags“ zu einem der „umstrittensten und einflussreichsten Reformer des 20. Jahrhunderts“. Auf ähnliche Weise huldigt WDR 3 Steiner in einem eigenen Feature: „Steiners Impulse wirken bis heute fort, am sichtbarsten in der alternativen Heilkunde, dem Bio-Landbau oder der Waldorf-Pädagogik.“ Die Wiener TU widmet Steiner eine zweitägige Enquete. Ein so genanntes internationales Ehrenkomitee hat einen deutlich Österreich-Schwerpunkt. Und so weiter und so fort.

Missionierungskampagne

Nicht selten steckt der noch von Steiner gegründete Pharma- und Kosmetikkonzern Weleda hinter den Veranstaltungen, wie etwa im Museum für Angewandte Kunst, wo Weleda als Sponsor genannt wird. Aber das reicht nicht, um den Hype zu erklären. Auch kann man mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausschließen, dass derartig viele Waldorf-Schüler an den Schalthebeln diverser beteiligter Einrichtungen sitzen, um eine so breit gefächerte Missionierungskampagne zu orchestrieren. Nichts anderes ist der Veranstaltungs- und Ausstellungsreigen zum 150. Geburtstag des wohl bekanntesten deutschsprachigen Esoterikers.

Wer sich durch die Steiner-Huldigungen klickt, kommt aus dem Staunen nicht heraus. Ein unkritischer Mensch kann Steiner nach Abschluss der Lektüre nur für den Vater der Moderne schlechthin halten. Biologische Landwirtschaft, Alternativmedizin, Ökobewegung, moderne Architektur, ja Kunst überhaupt, moderne Musik, ethische Banken, die Grünen, Diskussionen um soziale und ethische Verantwortung – es scheint gar nichts zu geben, was dieser Mensch nicht inspiriert hat. Zitat: „Uwe Werner entdeckt in Rudolf Steiners Menschenverständnis ein antizipatorisches Element und skizziert, wie er bereits am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts eine ethische Auffassung des Menschen entwickelt, die sich nach der Katastrophe in der Jahrhundertmitte in zunehmendem Maße durchsetzt und heute hinsichtlich der Würde des Individuums in den Allgemeinen Menschenrechten Gestalt angenommen hat.” Der Text könnte genauso gut von einer der Seiten stammen, die sich mit Steiner „journalistisch“ oder „wissenschaftlich“ auseinandersetzen. Dass sich die wenigsten Autoren auch nur eine Zeile von Steiner gelesen haben, darf als gegeben vorausgesetzt werden. Es genügt, dass sich renommierte Künstler und einige Wissenschaftler und Wirtschaftsbosse als Steiner-Fans outen. Da muss man nicht mehr nachfragen.

In Steiner wird alles hineininterpretiert, was gerade hip ist. Alles, womit man sich vom vermeintlich technokratischen oder „materialistischen“ Mainstream abkoppeln kann. Es müssen nur irgendwo die Worte „nachhaltig“, „ganzheitlich“ oder „alternativ“ vorkommen – sei es in Steiners umfangreichen Oeuvre, sei es in irgendeiner Interpretation. Der Mann hat alles gewusst, alles inspiriert. Vor allem hat er Laufmeter über Laufmeter schwer- bis unverständlicher Texte zu allem und jedem hinterlassen. Texte, die auf göttlicher Offenbarung beruhen.

Steiner ist wie Nostradamus

Der einzige, dem eine ähnlich breite Rezeption widerfährt, ist Nostradamus. Die Parallelen zwischen ihm und Steiner drängen sich geradezu auf. Auch er hat eine Sammlung schwer- bis unverständlicher Texte hinterlassen, in die seine Jünger alles und jedes hineininterpretieren. Irgendeine irgendwie verständliche Aussage findet sich schon – wie bei Steiner. Auch Nostradamus hat sich auf höhere Eingebung berufen und hielt, ähnlich wie Steiner, die meisten seiner Mitmenschen für zu dumm, um sein Werk zu verstehen. Beide schreiben unter offenbar manischem Druck. Mit dem kleinen Unterschied, dass sich renommierte Künstler, Wissenschaftler, Unternehmer oder Politiker kaum als Nostradamus-Jünger outen würden. Man weiß, der Mann war durchgeknallter Astrologe. Steiner gilt als Philosoph und Reformer. Warum auch immer.

Der Vergleich zu Nostradamus ist weniger willkürlich, wenn man in die Tiefe geht. In beiden Fällen hielten sich die Propheten/Philosophen beim Schreiben streng an die Mode. Inhaltlich wie stilistisch. Dass in beiden Fällen mehr oder weniger große psychische Auffälligkeiten die jeweiligen Stile erschwerten, kommt erschwerend hinzu. Nostradamus war, seiner Zeit entsprechend, überzeugt, der Lauf der Sterne sage etwas über die Zukunft aus. Und, hier war er Avantgarde, sah er vor allem Zyklen als bestimmendes Element. Steiner schwamm ganz im Esoterik-Mainstream seiner Zeit. Da wird dauernd das „Geistige“ betont, demgegenüber der Körper minderwertig ist, die Reinkarnation kommt vor, Hellsichtigkeit ist eine natürliche Eigenschaft Berufener – und dass man krude Theorien zur Entstehung des Menschen entwickelt, versteht sich von selbst. Der letzte Schrei der damaligen Zeit ist, wenn man irgendwo auch Atlantis vorkommen lassen kann, zumal in Verbindung mit rassistischen Theorien. Steiner und Jörg Lanz (von Liebenfels) stehen sich weitaus näher, als den meisten Steiner-Jüngern bewusst oder lieb ist. Beide verkörpern in ihrem Wahn auf sehr ähnliche Weise die Mode des „alternativen“ Bürgertums der Epoche, das ein Gegengewicht zur materialistischen und wissenschaftlichen Weltauffassung sucht.

Gegengewicht zur materialistischen und wissenschaftlichen Weltauffassung

Der Unterschied zwischen Lanz und Steiner liegt darin, dass Lanz seine Heilsvorstellungen in ein nie dagewesenes Gestern projiziert und Steiner seine Wahnvorstellungen in der Gegenwart ansiedelt, in einer Art ewiger Wahrheit („wahre Wirklichkeit“) – ganz wie Nostradamus, der die Welt in Zyklen dachte.

Dass Steiner sich nebenbei mit Landwirtschaft und Architektur befasste, darf wenig überraschen. Er griff nur zeitgenössische Überlegungen auf und wandelte sie für seine Zwecke ab. Am „ersten Goetheanum“ etwa ist nichts wirklich Revolutionäres zu entdecken. Architektonisch nicht unschön, aber mit Rundungen und viel Licht haben damals auch andere gebaut. Steiner ist auch hier weniger Schöpfer neuer Gedanken als begnadeter Abkupferer von Bestehendem, das er als seine eigenen Gedanken ausgibt. Genauso verhält es sich mit seinen Überlegungen zu sozialen Problemen. „(Der dreigliedrige Organismus) Die Kernpunkte der sozialen Frage in den Lebensnotwendigkeiten der Gegenwart und Zukunft“ schwimmt mit im Strom unzähliger Publikationen der damaligen Zeit, die die Entwicklung in Richtung Faschismus vorzeichnen. Othmar Spanns „Der wahre Staat“, eines der ideologischen Hauptwerke des Austrofaschismus, stützt sich auf ähnliche Überlegungen.

Begnadeter Abkupferer

Zu Zeiten des Nostradamus gierte die Welt nach einer vorhersehbaren Geschichte. Seit der Industrialisierung und den wissenschaftlichen Fortschritten giert ein Teil der Welt nach einer „ganzheitlichen“ Erklärung, nach einer Weltformel. Wer auch immer diese vorgibt liefern zu können, wird seine Aufmerksamkeit finden. Vor allem, wenn man einen scheinbaren Sinn konstruieren kann, etwas „Höheres“ in die Welt interpretieren kann.

In gewisser Weise erklärt das, warum beide bis heute ihre Anhänger finden, wenn auch in unterschiedlichen Kreisen. Nostradamus-Anhänger sind heute eher leicht beeindruckbare und manipulierbare Menschen mit etwas Bildung, der durchschnittliche Steiner-Fan ist ein überdurchschnittlich gebildeter Künstler oder Unternehmer auf Sinnsuche. Im Kern streben sie nach ein- und demselben. Der leicht fassbaren Erklärung der Wirklichkeit, nach (emotionaler) Sicherheit in einer Welt, die immer komplexer wird. Beide brauchen eine messianische Gestalt, auf die sie sich beziehen können – und von der sie so gut wie nichts wissen. Was sie wissen müssen, beten ihnen die vor, die mit den messianischen Gestalten Geld verdienen. Sei es ein Nostradamus-„Forscher“, der sein jüngstes Werk verkaufen will, sei es der Weleda-Konzern, seien es die Waldorf-Schulen oder der Rudolf-Steiner-Verlag. Von den Sehnsüchten nach einer einfachen und harmonischen Welt lässt sich ganz gut leben. Je mehr man diese Sehnsüchte rationalisiert, desto besser.

Der eine wird zum Propheten schlechthin erklärt, der alles aber auch wirklich alles vorhergesagt hat, der andere zum Erfinder der Moderne schlechthin, ohne den es nicht einmal die Menschenrechte gebe. Menschen, die diese modernen Mythen analysieren, werden als kaltherzig, dumm und wissenschaftsgläubig attackiert. Die „materialistische“ Sicht der Kritiker beneble ihre Sinne und mache es ihnen unmöglich, das Wesentliche, die Wahrheit zu sehen, heißt es in beiden Fällen. Die Unterschiede sind fließend. Steiner ist ein moderner Nostradamus. Dass er vergleichsweise viele und vergleichsweise einflussreiche Anhänger hat, liegt daran, dass er noch nicht so lange tot ist. Und daran, dass er zu Lebzeiten einen Kult um seine Person geschaffen hat, der in zahlreichen Einrichtungen wie Waldorf-Schulen und Weleda-Konzern bis heute gepflegt wird.

Vielleicht ist das der einzige wesentliche Unterschied zwischen Nostradamus und Steiner: Nostradamus richtet heute keinen Schaden mehr an. Die Waldorf-Schulen gibt es noch immer.

Christoph Baumgarten