Göttliche Ratingagenturen?

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Daumen runter / Foto: elbephoto /clipdealer.de / Montage: Evelin Frerk

FREIBURG. (hpd) Die Ratingagenturen Moody‘s und Fitch sind wieder aktiv und stufen reihenweise Banken, ganze Länder in ihrer Kreditwürdigkeit herab. Was legitimiert diese Zensoren der Wirtschaft, wer gibt ihnen diese Macht und warum können sie Investoren beeinflussen?

Ein Kommentar von Fritz Gebhardt + Renate Auer

Nehmen wir mal an, es gäbe keine Ratingagenturen, keine Zensoren der Wirtschaft, was würde geschehen? Alle Länder, Betriebe, Kommunen würden sich ins Unendliche verschulden und dann? Nichts und dann. Statt von schwarzen Zahlen lebte die Menschheit von roten Zahlen.

Rote Zahlen sind schwarze Zahlen – für die Gläubiger. Wie der Name sagt, sind Gläubiger Menschen, die glauben. Sie glauben, dass sie Geld besitzen, obgleich sie es nicht in Händen halten. Das ist in elektronischen Zeiten die Normalität.

Die meisten Transaktionen finden nicht mit Geldtransportern statt, sondern sind blitzschnelle Zahlungsvorgänge rund um den Globus. Da könnte einer an einem Tag ein ganzes Vermögen verlieren und er hätte es nicht bemerkt, weil er just an diesem Tag seine Zahlen nicht inspizierte und sein Vermögen am nächsten Tag sich wieder um das Vielfache vermehrte.

So treiben es kluge Aktienbesitzer. Fällt der Börsenwert ihrer Papiere, werden sie im Tresor verstaut, ihre Besitzer vergessen sie, bis der Dax wieder steigt. Auch hier ist Marx widerlegt. Das materielle Sein ist längst zu einem Fastnix geschrumpft, das fiktive Bewusstsein beherrscht in rasend schnellen Bewegungen die Weltwirtschaft.

Kollektiver Glaube

Privates Bewusstsein allerdings reicht nicht, um die Stabilität des Mammons zu gewährleisten. Es muss ein kollektiver Glaube sein, der die Menschheit verbindet, zumindest die Gläubiger mit den Schuldnern. Solange der Gläubiger überzeugt ist, dass der Schuldner seine Schulden zahlt, kann dieser sich bis in den Himmel verschulden. Schwindet der Glaube des Gläubigers, ist's um den zahlungsunfähigen Schuldner geschehen, und wäre dieser von seiner Tüchtigkeit und zukünftigen Liquidität noch so überzeugt.

Das Thomas-Theorem, wonach Situationen wirklich sind, die von Menschen als wirklich definiert werden, könnte auch im Neuen Testament stehen: euer Glaube wird Berge versetzen. Die Amerikaner reden lieber von Träumen, weil Glauben zu sehr an bibelfeste Hinterwäldler erinnert. Realisiert eure Träume ist die Übersetzung der Sonntagspredigt: Wenn ihr's glaubt, wird es wahr werden.

Das Gemeinsame von Kapitalismus und Glaube ist – der Glaube. Glaube woran? An die beliebige Veränderbarkeit der Natur und die Beherrschbarkeit der Welt. Noch bin ich ein solistisches Nichts, ein elendes Häufchen, eine bedeutungslose Gruppe, ein Völkchen am Rande des Weltgeschehens. Doch morgen, im nächsten Jahr, nach Jahrhunderten, am Ende einer so genannten Geschichte oder Heilsgeschichte werde ich im Zentrum des Geschehens stehen und alle Macht in Händen halten.

Der Glaube ist nicht nur theoretisches Fürwahrhalten. Er ist Antrieb und Motor unseres Tuns und Handelns. Bin ich felsenfest von meinen Träumen, Visionen, Glaubensverheißungen überzeugt, werde ich alles tun, um sie in Raum und Zeit zu realisieren.

Alles hängt davon ab, ob die Motivation, identisch mit dem Glauben, zum Motor des Handelns wird oder ob sie auf antriebsloser Ebene bloßen Fürwahrhaltens verharrt. Überwiegen die Zweifel, wird der Glaube kraft- und saftlos bleiben.

Säkularisation!?

Lassen wir das Gerede von der Säkularisation. Die Moderne ist au fond religiös, wenngleich in wechselnden Maskierungen und Konkretisierungen. Die Stimme der autonomen Vernunft ist an den Rand gedrängt.

Eine offenbarungsversöhnte Vernunft ist die Phantasmagorie deutscher Päpste und protestantischer Pfarrersöhne. Der gläubige Mensch ist ein leidender und ehrgeiziger Mensch. Er erfindet Gott, um sein Elend zu beheben und mit zukünftiger Macht zu kompensieren. Den Akt der Erfindung leugnet er, um sich seiner Erfindung zu unterwerfen. Denn in seiner Not und Angst fürchtet er sich, die Verantwortung für sein Schicksal zu übernehmen.

Gottgleichheit beruht auf dem geheimen Wunsch, wie Gott Urheber alles Guten zu sein, unschuldig aber an allem Schlechten. Das ist die heutige Lage des religiösen, in der Wolle säkular gefärbten modernen Menschen. Er schwankt zwischen Ohnmacht und Allmacht, benötigt die absolute Anerkennung, Urheber alles Guten zu sein, an allem Bösen aber schuldlos.

Die Psychologie des Abendlandes, identisch mit dem Mythos der Theologie, ist noch nicht geschrieben. Vergesst Ödipuskonflikt, Penisneid und andere Schmankerl. Der Westen ist stolz auf seine überlegene Religion.

Von ihr bis ins Mark geprägt zu sein, lehnt er hingegen in suizidaler Verbissenheit ab. Seine Eigenarten führt er weit zurück auf seine tierischen Vorfahren. Doch von den Ereignissen in Jerusalem und Athen will er unberührt geblieben sein. Das Positive hingegen soll ausschließlich die Frucht des Glaubens sein.

Kapitalismus und Glaube beruhen gleichermaßen auf Glauben. Der Fähigkeit des Menschen, per Imagination Zukunft zu entwerfen, um Raum und Zeit zu beherrschen. In dieser Fähigkeit ist der Westen allen andern Kulturen weit überlegen, die auf solche Weltbeherrschungsmotivationen verzichten konnten.

In seinem Buch „Wohlstand und Armut der Nationen“ mit dem Untertitel „Warum die einen reich und die andern arm sind“, gibt David Landes seiner selbstgestellten Frage die klare Antwort: Weil der Westen in unvergleichlichem Maße glaubensfähig war und seinen Reichtumserwerb als Frucht göttlichen Vertrauens vollstreckte. Christen und Juden waren sich einig, „dass sie ihren Reichtum und ihre Macht von Gott erhalten hatten und beides nur unter der Bedingung genossen, dass sie sich ordentlich betrugen.“

Was heißt ordentlich betragen? Dass man lebt, um zu arbeiten, und nicht, um glücklich zu werden. „Wenn man eine hohe Produktivität will, dann sollte man leben, um zu arbeiten und das Glück als einen Nebeneffekt nehmen.“ Mit anderen Worten, man muss das Genesiswort befolgen: „Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen.“ Wer arbeitet, um glücklich zu sein, geht in die Irre. Keine Chance für das Glücksbruttosozialprodukt. Der Mensch ist für die Produktion, die Produktion nicht für den Menschen da.

Agenturen des kollektiven Glaubens

Ratingagenturen sind Agenturen des kollektiven Glaubens. Solange sie segnend die Arme heben, fließen Wohlstand und Macht. Senken sie ihre göttlichen Zensuren, beginnt der Fluch der von Gott Verlassenen.

Die Ökonomie als Erbin der Theologie in Wirtschaftsdingen verharrt im Stadium des sacrificium intellectus. Sie opfert ihre Vernunft auf dem täglichen Altar eines natur- und menschenschädlichen Wohlstands. Man muss in seiner Wahrnehmung vollständig zerrüttet sein, im jetzigen Stadium des galoppierenden Irrsinns den homo oeconomicus als homo rationalis zu definieren. Und dafür Preisgelder in Millionenhöhe zu kassieren.

Was wollen sie? Wollen sie den Niedergang der Weltwirtschaft? Entweder sind sie selbst suizidal deformiert oder sie erhoffen sich Riesenprofite vom Untergang derer, die sie als unliebsame Konkurrenten oder Feinde betrachten. Entweder sind sie vor Habgier verblendet oder apokalyptisch-untergangssüchtig. Ein homo rationalis sähe anders aus. In beiden Fällen müsste man ihnen schon gestern die Lizenz entzogen haben.

Inzwischen haben die Ratingagenturen beschlossen, die gewählten Regierungen wegen erwiesener Unfähigkeit abzulösen und die Finanzgeschäfte in eigene Hände zu nehmen. Merkel soll sich noch mit dem einleuchtenden Argument widersetzen, sie hätte bislang eh nicht anderes getan, als die Direktiven der Standard & Poor's-Rechenmaschinen peinlich genau zu befolgen. Die Einserschülerin Angie fürchtet nichts mehr, als eine Herabsetzung ihrer Verhaltens-Zensuren. Ihr Trippel-AAA soll schon gefährdet sein.

Schulden sind kein Versagen der Zuständigen, Schulden sind gewollt. Im klassischen Griechenland konnte der athenische Staatsmann Solon von vorne beginnen, weil er die überschuldeten Bauern und Handwerker entlastete und so dem Gemeinwesen die Chance des Neuanfangs gab. Auch die Althebräer kannten das Hall- oder Jubeljahr, wo in regelmäßigen Abständen alle Schulden verfielen und das Volk auf wirtschaftlichen Neuanfang rückte. Diese Tradition wurde schnell aufgegeben, wenn sie je praktiziert wurde. Höchste Zeit, sie zu reaktivieren.
 

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