(hpd) Auf der Habenseite der monotheistischen Religionen wird gerne verbucht, dass ohne sie keine Werte existieren würden oder zumindest kein Anreiz, sich an irgendwelchen Werten zu orientieren. Buchautor Alfred Binder setzt sich in einer vierteiligen Serie mit dieser Behauptung auseinander.
Bisher wurde dargestellt, dass bei der Diskussion über Werte meist nicht zwischen Werten, Tugenden und Normen unterschieden wird. Es scheint keine spezifischen christlichen Werte zu geben, da Werte, Tugenden und Normen immer Ausdruck gesellschaftlicher Verhältnisse sind.
Das Christentum ist aber nur eine Version eines feudalen Weltbildes, deshalb ist anzunehmen, dass sich die christlichen Werte auch in anderen feudalen Gesellschaften finden. Bei den "Werten" Demut, Gehorsam, Nächstenliebe und Familie ist das auch der Fall. Auch die moralischen Normen sind nicht spezifisch christlich. Die moralischen Kerngebote finden sich in allen Gesellschaften und sie brauchen weder zur Begründung noch zu ihrer Durchsetzung einen Gott.
III. Monotheistische Religionen, Moral und Menschenrechte
Die christlichen Kirchen suggerieren nicht nur, erst das Christentum habe die wahre Moral hervorgebracht, sondern es sei auch der Erfinder und Hüter der Menschenrechte. In Wirklichkeit lehnten die christlichen Kirchen die Menschenrechte ab. Für sie besaß, überspitzt formuliert, nur Gott Rechte, die Menschen besaßen ausschließlich Pflichten.
Nach der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948 gehören unter anderem folgende Rechte zu den Menschenrechten, "kein Sklave oder Leibeigener sein zu müssen, nicht gefoltert, nicht zur Heirat gezwungen zu werden und das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit, einschließlich des Rechts seine Religion zu wechseln" (Artikel 18).
Weder die Bibel noch der Koran wenden sich gegen die Sklaverei, die Zwangsehe oder die Folter, sie selbst drohen sogar mit ewiger Folter. Weder das Christentum noch der Islam kennen ursprünglich Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit. Im Gegenteil. Unter allen Religionen gebärdeten sich die monotheistischen am intolerantesten.
Wo immer sie über die Macht verfügten, zerstörten sie die Kultur vorangegangener oder alternativer Weltanschauungen und töteten die Menschen, die sich ihren Herrschaftsansprüchen widersetzten. Die Überzeugungsarbeit, welche die Christen bei der Christianisierung des römischen Reiches leisteten, fast der Historiker Ramsay Mac Mullen so zusammen: "Zum Schweigen bringen, verbrennen und zerstören waren jeweils Erscheinungsformen der theologischen Beweisführung." In den 100 Jahren nach 390 wurden alle "heidnischen" Priesterinnen und Priester des römischen Reiches, die nicht konvertieren wollten, getötet, und fast alle nichtchristlichen Tempel und über 99% der "heidnischen" Kunstwerke zerstört. Von der Jahrtausende alten ägyptisch-griechisch-römischen Kultur des Mittelmeerraumes, die über eine Million Bücher hervorgebracht hatte, blieben einige Hundert übrig.
Dass dieser fanatisch intolerante Geist nicht ausgestorben ist, bewiesen unter anderem die muslimischen Taliban, die Ende des 20. Jahrhunderts über 2000 Jahre alte Buddhastatuen in Afghanistan in die Luft sprengten.
Diese Verbrechen und der Geist der Intoleranz, der sich in diesen Verbrechen manifestiert, empfanden diese Religionen nicht als einen Widerspruch zu ihrem Glauben, ihren Rechten und zu den Ansprüchen ihres Gottes. Im Gegenteil, sie versicherten sich, ein Recht auf diese Verbrechen zu haben.
Der erste Mensch, der Folter theoretisch rechtfertigte, war der Hl. Augustinus (4. Jahrhundert), neben Thomas von Aquin der wichtigste Theologe des Christentums. Und Thomas von Aquin (13. Jahrhundert) verlangte die Todesstrafe für Menschen, die es wagen sollten, sich vom christlichen Glauben zu verabschieden.
Weitere moralische Heldentaten des Christentums seien nur stichwortartig genannt: Die Kreuzzüge, die Inquisition, mit Folter als Methode zur Wahrheitsfindung, Verbrennungen auf Scheiterhaufen und Vierteilung, die Billigung der Sklaverei, die Billigung und Unterstützung der Ausrottung von 95% der Ureinwohner Nordamerikas und der Jahrhunderte langen Ausbeutung der Indios Südamerikas.
Weltanschauliche Intoleranz war über Jahrtausende ein positiv besetzter Wert der monotheistischen Religionen; für den Islam in der Praxis bis heute, denn in keinem islamischen Land existiert eine nennenswerte weltanschauliche Toleranz. Religionsaustritt wird in vielen islamischen Ländern mit dem Tode bestraft. Dass die islamische Türkei eine relativ weltanschauliche Toleranz kennt, ist ihrem westlich orientierten Staatsgründer und Islamgegner Kemal Atatürk zu verdanken, der das Sultanat und Kalifat, das bedeutet den Islam als Staatsreligion, abschaffte.
Die katholische Kirche wehrte sich bis in die Mitte des vergangenen Jahrhunderts, die Menschenrechte anzuerkennen. Rechte wie Selbstbestimmung und Religionsfreiheit stehen ja auch diametral zu einer feudalen Gehorsamsideologie.
Intoleranz und mit ihr verschwistert, bedingungsloser Gehorsam, predigte und verteidigte die katholische Kirche noch im 19. Jahrhundert. 1832, ungefähr 1.500 Jahre nachdem das Christentum Staatsreligion geworden war, nennt Papst Gregor der XVI., in der Enzyklia "Mirari vos", die Forderungen nach Glaubens- und Gewissensfreiheit "Wahnsinn". Meinungs- und Pressefreiheit führen zum "Verderben der Kirche und des Staates".
Gregor weist auch darauf hin, dass schon die Apostel das Verbrennen von Büchern praktizierten und verbietet Katholiken, sich an demokratischen Wahlen zu beteiligen. Und selbstverständlich stellt sich, wer sich "der Obrigkeit entgegenstellt, ... auch gegen die Anordnungen Gottes."
Für seinen Nachfolger Pius IX., Papst von 1846 bis 1878, waren Religions-, Meinungs- und Gewissensfreiheit ebenfalls widerchristlich. Ganz im Sinne unserer Behauptung, dass die Großreligionen ihren Ursprung in feudalen Herrschaftssystemen haben und ihre religiösen Lehren diese Systeme widerspiegeln, galt für Pius IX. die Monarchie als die gottgewollte Ordnung. 1874 verbot er italienischen Katholiken die Teilnahme an demokratischen Wahlen. Im Jahre 2000 sprach ihn Papst Johannes Paul II. selig.
Die katholische Kirche war übrigens 1965 so großzügig, Glaubens- und Gewissensfreiheit den Menschen zuzugestehen. Dies geschah nach heftigen Debatten am Ende des 2. Vatikanischen Konzils in der "Erklärung zur Religionsfreiheit". Glaubens- und Gewissensfreiheit werden seitdem gerne als originär christlich behauptet.
Dass der Geist der Intoleranz noch immer kräftig in den Köpfen der katholischen Kirchenführung spukt, zeigte die Volksabstimmung auf der europäischen Insel Malta im Mai des Jahres 2011(!). Zur Wahl stand, ob Ehescheidung nun erlaubt sein sollte. Die katholische Kirche war dagegen, wie sie auch gegen die Einführung von Kondomen in Irland war und immer und überall gegen die der Anti-Baby-Pille ist.
Gegen Ehescheidung, Anti-Baby-Pille und Kondome zu sein, ist eine absolut unmenschliche Position. Allein im südlichen Afrika soll es 25 Millionen Aids-Waise geben. Wie begründet die katholische Kirche ihre absolut unmenschlichen Positionen? Sie seien der Wille eines übernatürlichen Wesens namens Gott. Dieses Verhalten der katholischen Kirche zeigt, dass sie geistig letztlich noch genauso im Mittelalter beheimatet ist wie die islamischen Fundamentalisten. Die Positionierung auf Malta offenbart auch, was für die katholische Kirche Toleranz heute bedeutet, nämlich nichts. Sie will immer noch Menschen, ob sie nun Mitglieder ihres Vereins sind oder nicht, per Gesetz vorschreiben, wie sie zu leben haben.
Überall, wo Religionen, ob mono- oder polytheistisch, an der Macht waren und wo sie wieder an die Macht gelangt sind, gibt es keine Selbstbestimmung der Menschen, keine Meinungsfreiheit, keine Wahlfreiheit und keine Gleichberechtigung, weder der Geschlechter noch der Menschen an sich.
Zwar haben nicht nur die Religionen ein Problem mit der Toleranz, aber sie haben ein spezielles und besonders großes, weil sie die Vernunft diskreditieren und auf einer Übervernunft, auf Intuitionen und Gefühlen als scheinargumentative Schlupflöcher beharren. Wer glaubt, über der Vernunft zu stehen oder über eine besondere zu verfügen, der glaubt auch, besondere Rechte zu haben.
Weltanschauungen, welche die Vernunft und die Logik als unzureichend behaupten, um ihre Anschauungen zu verstehen, müssten eigentlich die tolerantesten von allen sein. Sie sind seltsamerweise die intolerantesten, sie sind immer Weltanschauungen von Diktaturen.
Religionen sind vollkommen unüberprüfbare Überzeugungssysteme und allein deshalb haben ihre Vertreter kein Recht, unter Berufung auf diese Überzeugungssysteme, an gesellschaftlichen Diskussionen teilzunehmen, genauso wenig wie jemand, der an Verfolgungswahn leidet. Diesen Vergleich ziehe ich bewusst, denn es gibt keinen prinzipiellen Unterschied zwischen dem Glauben, übernatürliche Wesen sagen mir, was ich tun muss und beobachten mich pausenlos, und jemand verfolgt mich pausenlos. Letzteres kann allerdings, wenn es denn wichtig ist, überprüft werden, ersteres nicht.
Können Religionen aufhören, Ansprüche gegenüber Nichtgläubigen zu erheben? Die monotheistischen wohl nur schwer, sie "haben zugleich mit der Wahrheit, die sie verkünden, auch ein Gegenüber, das sie bekämpfen. Nur sie kennen Ketzer und Heiden, Irrlehren, Sekten, Aberglauben, Götzendienst, Idolatrie, Magie, Unwissenheit, Unglauben, Häresie und wie die Begriffe alle heißen mögen für das, was sie als Erscheinungsformen des Unwahren denunzieren, verfolgen und ausgrenzen." So der Ägyptologe Jan Assmann.
Normen, Tugenden und Werte bedürfen nicht der Religion, sie haben sie auch nie benötigt. Denn nicht die Religionen bringen sie hervor sondern der Mensch in Interaktion mit den materiellen Verhältnissen, also den ökologischen, ökonomischen und sozialen Gegebenheiten. Die Religionen sind selbst ein Produkt dieser Interaktion. Welchen Werten und Normen sich der Mensch verpflichtet fühlt, ist eine Frage, die nur er selbst entscheiden kann.
Alfred Binder
Alfred Binder hat Bücher zum Zen-Buddhismus und zur Kritik der Religionen verfasst. Der vorliegende Essay fasst Ergebnisse seiner soeben erschienenen kurzen Kritik der monotheistischen Götter "Jahwe, Jesus und Allah" zusammen.
Alfred Binder: Jahwe, Jesus und Allah. Eine kurze Kritik der monotheistischen Götter. Reihe Kritikpunkt.e. Aschaffenburg 2013, Alibri; 165 Seiten, kartoniert, Euro 10.-, ISBN 978-3-86569-121-7
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