Alle Kinder haben das Recht auf genitale Unversehrtheit

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Im Mai 2019 hielt Jérôme Segal, Assistenzprofessor an der Universität Paris-Sorbonne, Forscher und Journalist in Wien und Botschafter von intaktiv e. V., einen Pecha-Kucha-Vortrag auf der Jubiläumsfachtagung der Deutschen Gesellschaft für Prävention und Intervention bei Kindesmisshandlung,-vernachlässigung und sexualisierter Gewalt e. V. (DgfPI). Inzwischen haben Jérôme Segal und Viola Schäfer, die Vorsitzende von intaktiv, einen Fachartikel zum Vortrag mit dem Titel "Alle Kinder haben das Recht auf genitale Unversehrtheit" verfasst, der im Dezember in der zweiten Jahresausgabe der Fachzeitschrift der DGfPI veröffentlicht wurde.

Mit freundlicher Genehmigung der Autoren veröffentlicht auch der Humanistische Pressedienst diesen Text:

"Alle Kinder haben das Recht auf genitale Unversehrtheit"

Von Dipl.-Psych. Viola Schäfer und Dr. Jérôme Segal

1. Operative Eingriffe in die genitale Unversehrtheit von Kindern

Weibliche Zirkumzision (auch als "Genitalbeschneidung" und "weibliche Genitalverstümmelung" bezeichnet) ist im mittleren sowie teilweise nördlichen Afrika, im Nahen Osten sowie in Teilen des Fernen Ostens (insbesondere Indonesien) verbreitet. Aber auch in der Türkei, in Indien, in Australien und Kolumbien kommt sie innerhalb bestimmter Gruppen vor. Sie kann in unterschiedliche Schweregrade eingeteilt werden: Typ I umfasst die Amputation der Klitorisvorhaut sowie die teilweise oder vollständige Entfernung des äußerlich sichtbaren Teils der Klitoris. Typ II beinhaltet die teilweise oder vollständige Entfernung des äußerlich sichtbaren Teils der Klitoris und der inneren Schamlippen mit oder ohne Beschneidung der äußeren Schamlippen. Bei Typ III (auch Infibulation genannt) handelt es sich um die schwerwiegendste Form der weiblichen Zirkumzision: Die Vaginalöffnung wird mit Bildung eines deckenden Verschlusses verengt, indem die inneren und/oder die äußeren Schamlippen aufgeschnitten und zusammengefügt werden, mit oder ohne Entfernung des äußerlich sichtbaren Teils der Klitoris. Für Urin und Menstruationsblut wird dabei nur eine kleine Öffnung belassen.

Die männliche Zirkumzision ("Jungenbeschneidung") ist weltweit noch stärker verbreitet. So kommt sie, traditionell und religiös bedingt, in ganz Mittel- und Nordafrika sowie im arabischen, osmanischen und nah-östlichen Raum, in Indonesien, Malaysia, den Philippinen und in Mittelaustralien vor. Zudem sind "routinemäßige" Säuglingsbeschneidungen an Jungen nach der Geburt in den USA, Kanada, Südafrika, Australien und Neuseeland verbreitet. Zirkumzisionen bei Phimose [1], die in der Regel im Kindesalter durchgeführt werden, sind besonders in Mittel- und Südeuropa verbreitet. Dabei wird bei Jungen in aller Regel das vollständige Präputium (die Vorhaut) entfernt. Durch Verlust der besonders dicht mit Nervenenden besetzten und oberflächensensitiven Vorhaut gehen 50 Prozent der Penishaut und der sensibelste Anteil des Penis verloren. Das Fehlen der Vorhaut führt zudem regelhaft zu einer Hyperkeratinisierung (Verhornung) der Glans (Peniseichel), da diese nicht mehr durch die Vorhaut umhüllt und feuchtgehalten wird. Eine weitere regelhafte Folge sind postoperative Entzündungen (O’Hara et al. 1999, Kim et al., 2007, Frisch et al. 2011). Bei näherer Betrachtung von Zirkumzisionen an Jungen fallen neben den bereits genannten Folgen zudem weitere mögliche postoperative Komplikationen auf. So fand beispielsweise eine Studie (Thorup, J. et al. 2013) in einer Stichprobe von 315 beschnittenen Jungen eine Komplikationsrate von 5,1 %, die unter anderem Meatusstenosen (Verengungen der Harnröhrenmündung) und weitere Beeinträchtigungen, welche oftmals wiederum zu weiteren Operationen führten, beinhaltete. Viele männliche Betroffene leiden zudem unter schwerwiegenden psychischen Spätfolgen und fühlen sich durch die Entfernung ihrer Vorhaut verstümmelt. Auch in diesem Zusammenhang werden von Menschenrechtsaktivisten, die sich für von Zirkumzisionen negativ betroffene Männer einsetzen, auch die Begriffe "Vorhautamputation" und "Männliche Genitalverstümmelung" anstelle von "Beschneidung" gefordert beziehungsweise verwendet.

In Bezug auf das Recht auf genitale Unversehrtheit aller Kinder sollten auch intersexuelle Kinder berücksichtigt werden. Damit sind Kinder gemeint, deren körperliche Geschlechtsmerkmale nach der Geburt weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht eindeutig zugewiesen werden können. Zwecks sozialer Konformität wurde Eltern von Ärzten häufig zu geschlechtszuweisenden oder -verstärkenden Operationen möglichst früh in der Kindheit geraten, wobei es in der Regel zur Entfernung von Teilen der Geschlechtsorgane kam. Das dabei "zugewiesene" Geschlecht entspricht allerdings häufig nicht dem individuell empfundenen Geschlecht, was oft lebenslanges Leid zur Folge hat. Um intersexuellen Menschen die "starre" Zuweisung in ein männliches oder weibliches Geschlecht künftig zu ersparen wurde am 22.12.2018 im Personenstandsregister eine dritte, mit "divers" benannte, Geschlechtsoption eingeführt.

2. Die Lage in Deutschland

Vergleicht man die Prävalenzen von Genitaleingriffen an Kindern in Deutschland, so lassen sich im Jahr 2014 ca. 50.000 an Jungen vorgenommene "Beschneidungen" verzeichnen, wovon die Mehrheit als fälschlich indiziert bzw. nicht hinreichend mit konservativen Methoden (insbesondere Salbentherapie) ausbehandelt betrachtet werden kann (Kupferschmidt 2014). Etwa 2000 operative Eingriffe wurden an intergeschlechtlichen Kindern vorgenommen. Eine erneute statistische Erhebung aktueller Zahlen könnte Aufschluss über mögliche Veränderungen geben. Da "Beschneidungen" an Mädchen in Deutschland illegal sind, liegen hierzu keine offiziellen Fallzahlen vor. Frauenrechtsverbände und Ärzte berichten jedoch von zahlreichen Fällen von in den jeweiligen Heimatländern genitalverstümmelter Mädchen und Frauen.

Um diesen Menschenrechtsverletzungen entgegenzuwirken setzen sich mittlerweile zahlreiche Vereine und Organisationen für das Recht auf genitale Unversehrtheit aller Menschen ein. Beispiele sind: MOGiS e. V. – Eine Stimme für Betroffene (inkl. Facharbeitskreis Beschneidungsbetroffener), intaktiv e. V. – eine Stimme für genitale Selbstbestimmung, Beschneidungsforum, Terre des Femmes, (I)NTACT e. V., Intersexuelle Menschen e. V. und Zwischengeschlecht.org.

Laut der neuen Phimoseleitlinie der Deutschen Gesellschaft für Kinderchirurgie e. V. (DGKCH) liegt bei über 90 Prozent der Beschneidungen keine tatsächliche medizinische Indikation vor (Stehr 2017). Trotz dieser Befundlage griffen beispielsweise die Anträge der Expertenanhörung des nordrhein-westfälischen Landtages am 3. Juni 2019 – von denen einer den Titel "Genitalverstümmelung ist eine Menschenrechtsverletzung – Verletzungen von Körper und Seele von Kindern, Mädchen und Frauen entschieden entgegentreten" führte – weder die problematische Dimension des einseitigen Schutzes nur von Mädchen auf noch hatten sie die neueren medizinischen Erkenntnisse zur Jungenbeschneidung, wie etwa aus der Phimoserichtlinie, aufgenommen.

3. Beschneidungen und Religionen

Zirkumzisionen an Jungen wird oft religiös begründet. So wird im Islam die Beschneidung im Koran nicht direkt erwähnt, gleichwohl ist sie als Sunna (Brauch, gewohnte Handlungsweise, überlieferte Norm) weit verbreitet. Sie wird heute von vielen Muslimen als integraler Bestandteil des Islam angesehen und viele meinen, sie sei für die rituelle Reinheit (Tahra) notwendig. Jedoch stimmen innerhalb des arabisch-muslimischen Kulturkreises nicht alle Menschen dieser Interpretation zu.

Auch in Israel entscheiden sich 2–3 % der jüdischen Eltern ihre Söhne nicht beschneiden zu lassen, wobei die Tendenz steigend ist. Teilweise finden sich diese Eltern in Organisationen wie beispielsweise der im Jahr 2000 gegründeten "Kahal- A group of parents to intact children" zusammen (Segal 2014). Im Film "It's a boy" hat der jüdische Filmemacher Victor Schonfeld die Risiken des Rituals der Säuglingsbeschneidung an Jungen dokumentiert. 2012 appellierte der Brite an den deutschen Bundestag, die Beschneidung an Jungen ohne medizinische Gründe nicht zu erlauben. In diesem Zusammenhang sollte auch auf das jüdische "Willkommensritual" der Brit Shalom hingewiesen werden, das ohne die "Beschneidung" des Neugeborenen auskommt.

4. Juristische Aspeke

Den § 1631d des bürgerlichen Gesetzbuches, der im Dezember 2012 in Kraft trat und Jungenbeschneidungen auch ohne medizinische Indikation legalisiert bezeichnete Christa Müller, Vorsitzende des von Intact e. V., als Einfallstor für weibliche Genitalverstümmelung in Deutschland. Eltern, die bei ihrer Tochter eine "kleine Sunna" (Entfernung der Klitoris-Vorhaut und der Klitoris-Spitze) vornehmen lassen wollten, könnten sich vor einem deutschen Gericht mit Berufung auf das "Beschneidungsgesetz" und den Grundsatz der Gleichberechtigung der Geschlechter das Recht auf diesen Eingriff an ihrer Tochter vermutlich einklagen.

Der Paragraph ist in vielfacher Hinsicht als juristisch problematisch bzw. nach Ansicht vieler Juristen als verfassungswidrig zu betrachten (Putzke 2013). Nicht zuletzt verbieten rechtsstaatliche und menschenrechtliche Gesetze und Konventionen die Zirkumzision an Kindern aus religiösen bzw. medizinisch nicht gerechtfertigten Gründen. So besagt Artikel 19 der Konvention über die Rechte des Kindes: "Die Vertragsstaaten treffen alle geeigneten Gesetzgebungs-, Verwaltungs-, Sozial- und Bildungsmaßnahmen, um das Kind vor jeder Form körperlicher oder geistiger Gewaltanwendung, Schadenszufügung oder Mißhandlung, vor Verwahrlosung oder Vernachlässigung, vor schlechter Behandlung oder Ausbeutung einschließlich des sexuellen Mißbrauchs zu schützen, solange es sich in der Obhut der Eltern oder eines Elternteils, eines Vormunds oder anderen gesetzlichen Vertreters oder einer anderen Person befindet, die das Kind betreut."

Und im Artikel 24 (3) der Kinderrechtskonvention steht: "Die Vertragsstaaten treffen alle wirksamen und geeigneten Maßnahmen, um überlieferte Bräuche, die für die Gesundheit der Kinder schädlich sind, abzuschaffen". So setzt sich konsequenterweise beispielsweise die SPD-Politikerin Marlene Rupprecht dafür ein, dass in den EU-Mitgliedsstaaten, die Unterzeichner der UN-Kinderrechtskonvention sind, ein stärkeres Bewusstsein für das Recht aller Kinder auf körperliche und somit auch genitale Unversehrtheit unabhängig vom Geschlecht entsteht.

Aus all diesen Gründen ist es wichtig und notwendig daran zu erinnern, dass alle Kinder das Recht auf genitale Unversehrtheit haben.


[1] Von einer Phimose (Vorhautverengung) spricht man, wenn sich die Vorhaut gar nicht, nur schwer oder unter Schmerzen hinter die Eichel zurückstreifen lässt. Eine symptomfreie physiologische Phimose liegt bei fast allen Jungen nach der Geburt vor und löst sich im Laufe des Heranwachsens meist von selbst.

Übernahme von der Webseite des Vereines intaktiv (dort mit Literaturhinweisen).

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Anmerkung der Redaktion: Am 19. Februar 2020 wurde eine klarstellende Korrektur am Artikel vorgenommen.