Interview

"Die Klischees enthalten einen wahren Kern"

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Der Buddhismus hat in der westlichen Welt ein gutes Image. Selbst wenn es zu religiös motivierten gewalttätigen Übergriffen durch Buddhisten kommt, hinterlässt dies keine tiefen Spuren. Während dies vielleicht durch Geschichte und Gegenwart der größeren Weltreligionen Christentum und Islam erklärt werden könnte, ist es schwer, eine Begründung dafür zu finden, warum es bislang keine systematisch-kritische Darstellung der Lehre des Buddhismus gab.

Obwohl der Buddhismus seit mehr als einem Jahrhundert im religionskritikerprobten Westen auf steigendes Interesse stößt, dominiert das Bild der "ganz anderen" Religion – friedlich, undogmatisch, auf Erkenntnis ausgerichtet. Alfred Binder, der bereits ein Buch über den "Mythos Zen" geschrieben hat, setzt sich in seiner kritischen Einführung mit den Kernlehren des Buddhismus auseinander, stellt sie dar und arbeitet offene Fragen und Widersprüche heraus. hpd sprach mit dem Autor über seine Motivation, seine Einschätzungen und unbequeme Sitzstellungen.

hpd: Wie kam es zu Ihrem Interesse am Buddhismus, und seit wann beschäftigen Sie sich mit ihm?

Alfred Binder: In meiner Jugend haben mich alle Theorien über Gott und die Welt interessiert, je abenteuerlicher, desto besser. Diesem Interesse und dem Zeitgeist folgend, der sich nach gescheiterten politischen Alternativen immer mehr individuellen, insbesondere "spirituellen", zuwandte, stieß ich auf Zen. Ich verstand Zen, Ende der 1970er, als eine religionsfreie, weltanschaulich völlig neutrale Praxis der psychischen Befreiung, die sich durch nichtdenkende Erkenntnis des Seins ereignen sollte. Eine aufregende Idee!

Und so wurde Zen damals auch verkauft, vor allem in den Büchern D.T. Suzukis. Meine Überlegung war: Philosophien gibt es fast so viele, wie es Philosophen gibt, was die Behauptung der Zen-Philosophie zu bestätigen schien, dass es unmöglich ist, mittels des Denkens das Ganze zu verstehen. Warum es also nicht mit dem Nicht-Denken versuchen?

Irgendwann in den 1980ern begann ich, mich mit der Mutter des Zen zu beschäftigen, dem Buddhismus. Im Zen gab es das Wort, über die Mutter solle man nicht schlecht reden, womit angedeutet wurde, man solle den Buddhismus nicht für bare Münze nehmen, auf die eigene Erfahrung komme es an, nicht auf das, was in sogenannten heiligen Schriften versichert wird. In meinem ersten Sesshin…

Strenge Meditationstage in einem Kloster?

Ja. Das Sesshin fand zwar nicht in einem Kloster statt, wurde aber peinlich genau nach den Vorschriften des japanischen Soto-Zen durchgeführt. In diesem Sesshin war ich zuerst einmal verblüfft über die pingelige Befolgung aller möglichen Regeln, die Rituale, die Verehrung von Buddhastatuen, das Rezitieren von Sutras und die dutzendfachen Niederwerfungen vor einem Altar. Das alles passte nicht zu meinen Vorstellungen über Zen, von psychischer Befreiung und weltanschaulicher Freiheit. Ich begriff, dass auch Zen eine Religion ist, eine buddhistische Religion unter anderen buddhistischen Religionen.

Sie gaben Zen nicht auf, sondern beschäftigten sich mit dem Buddhismus?

Ich war verunsichert, überlegte, ob ich aufgeben sollte, aber ohne Zweifel hatte der Sitz eine wohltuende Wirkung, besonders eine starke Aufrichtekraft, auch wenn sich keine Erleuchtung, sondern, wenn ich lange meditierte, nur Schmerzen einstellen wollten. Ich sah mir auch einige sogenannte Meister an, fand aber keinen überzeugend. Neben zen-buddhistischer Literatur las ich nun auch Literatur über den Buddhismus an sich. Ich fand sie verwirrend, aber auch faszinierend.

Was faszinierte Sie?

Besonders das Herzstück der buddhistischen Lehre, die sogenannten Vier Edlen Wahrheiten. Dass alles Leben Leiden ist, dass Krankheit, Alter und Tod auf uns warten, das waren offensichtliche Wahrheiten. Und wenn jemand zu wissen schien, wie man dem entkommen kann, dann hat er es verdient, dass man sich mit ihm beschäftigt. Mir fiel auch auf, dass in diesem Herzstück keine religiösen Begriffe vorkamen, nicht von Göttern, Schuld, Sühne und Ähnlichem die Rede ist. Stattdessen wird von Leiden, Gier, Wissen, Sammlung, rechter Rede, rechtem Handeln und rechtem Lebenserwerb gesprochen, werden also psychologische, epistemische und ethische Begriffe verwandt und natürlich noch andere, aber keine religiösen. Ich dachte, vielleicht war der Buddhismus, zumindest der ursprüngliche, tatsächlich keine Religion, vielleicht war er doch eine Methode zur Befreiung, vielleicht gab es Wiedergeburt und/oder ein jenseitiges Leben, und im Buddhismus kann man lernen, wie man lebt, stirbt und sich befreit.

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Entstand Ihr Buch nach dem Motto, die schärfsten Kritiker der Elche waren früher selber welche?

Nein, es ist mir nie gelungen, ein Buddhist zu werden oder mich ganz als Buddhist zu verstehen, obwohl es eine Zeit gab, in der ich das wollte. Vor allem nachdem ich, Anfang der 1990er, in einem Retreat Thich Nhat Hanh erlebte, der aus der vietnamesischen Zen-Tradition stammt und mich mit seiner ernsten, verständnisvollen und achtsamen Art sehr beeindruckte. Aber seine Bücher waren mir zu kitschig, ich konnte sie nicht lesen. Was nicht der einzige Grund war, der mich davon abhielt, Buddhist zu werden.

Der Buddhismus wird häufig als die "andere" Weltreligion vorgestellt – keine heiligen Kriege, keine Dogmen, Selbstreflexion und Erkenntnis statt blinder Glaube. Ist das völlig falsch oder gibt es einen wahren Kern?

Diese Klischees enthalten einen wahren Kern. Der Buddhismus ist nicht so dogmatisch wie die monotheistischen Religionen. Fraglich ist aber schon, ob Selbstreflexion im Buddhismus einen höheren Wert besitzt als in den monotheistischen Religionen und ob sie häufiger als in diesen praktiziert wird. Mönche lernen ihre Glaubensinhalte auswendig, ebenso die Argumente, die für und wider diese Inhalte sprechen.

Einmalig für eine Religion ist allerdings, dass viele buddhistische Lehren auf Diskussionen beruhen, die Buddha mit Andersdenkenden geführt haben soll. Bei den "heiligen Kriegen" bin ich mir unsicher, in vielen Kriegen wurde um den Beistand Buddhas gebetet, und Reliquien von ihm wurden mitgeführt, aber ich weiß um keine missionarischen Kriege, Kriege, die das Ziel hatten, den Buddhismus zu verbreiten.

Wo setzen Sie denn mit Ihrer Kritik an? Gibt es eine einheitliche buddhistische Lehre oder ein dogmatisches Zentrum des Buddhismus?

Es gibt so etwas wie ein dogmatisches Zentrum, ein kleines Paket an Lehren, die die meisten buddhistische Richtungen teilen und die deshalb auch im Mittelpunkt meiner Darstellung und Kritik stehen. Das sind die Lehren von den Vier Edlen Wahrheiten, die sogenannten Drei Kennzeichen des Seins, das abhängige Entstehen, der Wiedergeburtskreislauf und die Behauptung, ihn verlassen und ins Nirvana eingehen zu können.

Keine dieser Lehren ist meiner Ansicht nach haltbar, auch nicht die Leidenslehre, die noch viele Anhänger, welche nicht mehr an Wiedergeburt und Nirvana glauben, als zeitlose Wahrheit begreifen und im Buddhismus eine geniale Psychologie und Psychotherapie sehen.

Gibt es im Buddhismus heilige Texte, vergleichbar mit der Bibel oder dem Koran?

Der Buddhismus brachte einige tausend heilige Texte, Sutren oder Suttas, hervor. Die genaue Zahl ist nicht einmal bekannt. Jede Schule verehrt unter diesen heiligen Texten einige besonders.

Das mahayanische Lotussutra soll zeitweise das am meisten verbreitete religiöse Buch Asiens gewesen sein und wird deshalb manchmal als die Bibel Asiens bezeichnet. Da der Buddhismus eine "Kaufmannsreligion" wurde, ähnlich dem Protestantismus, verbreitete sich das Lotussutra vor allem entlang der Seidenstraße. In der japanischen Nichiren-Tradition wird nur dieses Buch verehrt. Für diese Tradition enthält allein schon der Titel, "Verehrung dem Sutra des Lotos des guten Gesetzes", die vollständige buddhistische Lehre und wird deshalb unermüdlich rezitiert.

Soweit ich weiß, wurde aber, im Gegensatz zur Bibel oder zum Koran, nie jemand gefoltert oder hingerichtet, weil er Aussagen des Lotussutras bezweifelte. Aus heutiger Sicht ist es ein langer und sehr langweiliger Fantasytext. Ein überirdischer, praktisch allmächtiger Buddha legt vor Abertausenden von Anhängern und Bodhisattvas seine Lehre dar und versichert ihnen Erlösung, wenn sie auch nur ein Wort seiner Lehre annehmen. Die Macht Buddhas zeigt sich unter anderem darin, dass er über elf Kapitel die Versammlung in der Luft schweben lässt.

Inhaltlich sind zwei Lehren wichtig: Buddha-Bewusstsein ist das ursprüngliche Bewusstsein des Universums und existiert ewig. Die Menschen müssen wieder Zugang zu diesem Bewusstsein finden, und das können sie am besten, wenn sie dem Weg des Bodhisattvas folgen. Diese zwei Lehren bedeuteten einen Angriff auf das Hinayana, die ältere Variante des Buddhismus. Es kennt weder ein ursprüngliches Buddhabewusstsein, noch hilfreiche, gottähnliche Bodhisattvas.

Entwickelten sich im Buddhismus Vorstellungen einer gesellschaftlichen Ordnung, die als verbindlich angesehen wird?

Wenn man sich die absonderlichen und wohl deshalb heute nicht mehr rezipierten "kosmologischen" Äußerungen Buddhas ansieht, eine Zusammenfassung gibt es im Buch, dann scheint er unter anderem der Ansicht gewesen zu sein, dass alle zukünftigen Gesellschaften der Kastenordnung entsprechend gegliedert sein werden. Für die Hinduisten umfasst der Dharma-Begriff auch die gesellschaftliche Ordnung, sie ist deshalb verbindlich, und wenn Buddha glaubte, sie sei eine "ewige", dann muss man schließen, dass auch er sie als verbindlich betrachtete.

Buddha war auf jeden Fall kein Sozialrevolutionär, er griff die Kastengesellschaft nicht an, nur das Erlösungsprivileg der Brahmanen. Erst im 20. Jahrhundert haben Buddhisten versucht und versuchen es bis heute, gesellschaftliche und politische Folgerungen aus der Lehre zu ziehen. Der ursprüngliche Buddhismus war eine unter vielen Asketenbewegungen, die sich nur insoweit für Gesellschaft und für Politik interessierten, als es ihre Lebensweise betraf.

Gibt es Vorschriften, wie die Gläubigen leben sollen?

Ja, es gibt zehn Hauptgebote für die Mönche und die ersten fünf von ihnen sollen auch die Laienanhänger einhalten. Sie lauten:
1. Keine Lebewesen töten.
2. Nicht stehlen.
3. Keine geschlechtliche Betätigung.
4. Nicht lügen.
5. Keine Drogen.

Das 3. Gebot wird für den Laienanhänger modifiziert, was auf das Verbot des Ehebruchs hinausläuft. Die Mönche müssen neben den zehn Hauptgeboten noch über 200 weitere Vorschriften beachten.

Ein zentraler Begriff in diesem Zusammenhang scheint mir "Gier" zu sein. Warum ist der Buddhismus so versessen auf Lustverzicht?

Weil er sie als die Wurzel aller Leiden betrachtet. Damit stand er nicht allein. Allen Asketenbewegungen dieser Zeit, und nicht nur ihnen, galt die Gier, vor allem die sexuelle, als die Wurzel aller Übel. Alle diese Bewegungen erhofften sich Erlösung durch vollkommene "Trieberlöschung". Über die historischen und psychologischen Gründe dieses Glaubens spekuliere ich im Buch.

Was passiert, wenn sich die Gläubigen nicht an die Vorgaben halten?

Spätestens in ihrem nächsten Leben werden sie dafür mit schlechten Eigenschaften oder der Wiedergeburt in einer niederen Kaste bestraft, sollten sie überhaupt als Menschen wiedergeboren werden.

Wenn wir den Buddhismus mit den abrahamitischen Religionen vergleichen – gibt es Punkte, in denen er sich wesentlich von diesen unterscheidet?

Ja. Auf der unteren Ebene gleichen sich die Religionen ja wie ein Ei dem anderen. Ihre Anhänger hoffen, durch Gebete, Opfer, Rituale, durch Einhaltung von Geboten und Verboten Hilfe von übernatürlichen Wesen zu erhalten, und letztlich hoffen sie auf eine gute jenseitige Existenz. Auf der oberen Ebene, der Erklärungsebene für das Ganze, der Metaphysik, unterscheiden sich Religionen aber beträchtlich. So lehnt der Buddhismus ausdrücklich einen Schöpfergott ab, überhaupt die Relevanz der Götter, der Buddhismus ist, zumindest ursprünglich, eine Religion der reinen Selbsterlösung. Nur die eigene Arbeit an der Trieberlöschung und der Vernichtung jeglichen Ich-Dünkels kann uns erlösen. Außer durch gute Ratschläge kann uns kein Mensch und kein Gott dabei helfen.

In den letzten Jahren entwickelte sich der sogenannte säkulare Buddhismus, was halten Sie von ihm?

Meiner Meinung nach kann es, wörtlich genommen, einen säkularen Buddhismus so wenig geben, wie ein säkulares Christentum oder einen säkularen Islam. Der Buddhismus war und ist eine Religion, eine Weltanschauung, die auf dem Glauben an eine transzendente Sphäre errichtet ist. Sie heißt im Buddhismus bekanntlich Nirvana. Sinn und Zweck der buddhistischen Lehre und Praxis ist es, mittels vollkommener Trieberlöschung (im Hinayana) oder Triebtranszendierung plus vollkommener Erkenntnis (im Mahayana) den Wiedergeburtskreislauf zu verlassen und ins Nirvana einzugehen. Ein säkularer Buddhismus muss diesen Kern weglassen, hat aber dann mit Buddhismus nichts mehr zu tun. Meditation und Achtsamkeit waren für Buddha kein Selbstzweck, sondern wurden um der endgültigen Erlösung willen praktiziert, und Meditation und Achtsamkeit machen keinen Buddhismus, es gibt sie auch anderswo.

Die Fragen stellte Martin Bauer.

Alfred Binder: Buddhismus. Lehre und Kritik. Aschaffenburg 2017. 316 Seiten, kartoniert, ISBN 978-3-86569-243-6, Euro 20,00 Euro