Rezension

Die Wikipedia Story

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"Biografie eines Weltwunders" lautet der Untertitel und "Eine (fast) unmögliche Erfolgsgeschichte" steht auf dem Deckblatt eines Buches, das die universelle Bedeutung der größten Wissenssammlung der Menschheitsgeschichte anhand ihrer Organisation, Prinzipien und Regularien beschreibt. Pavel Richter, Wikipedianer der ersten Stunde und fünf Jahre CEO von Wikimedia Deutschland, beleuchtet – spannend und tiefgründig  ein einmaliges Experiment: Das gesamte Wissen der Menschheit sammeln und allen Menschen frei zur Verfügung stellen.

Als am 15. Januar 2001 der US-amerikanische Internet-Unternehmer Jimmy Wales mit "hello, world" die ersten Worte in die Webseite "wikipedia.com" tippte, konnten weder er noch sonst jemand sich vorstellen, was daraus in kurzer Zeit entstehen würde. Aktuell rangiert Wikipedia unter den Top 10 aller Webseiten weltweit; in 309 Sprachversionen wurden (Stand Mai 2020) 55,5 Millionen Artikel publiziert, wobei zum Beispiel die 2,5 Millionen deutschsprachige Artikel 37 Millionen und die 6,6 Millionen englischsprachige Artikel 333 Millionen Seitenaufrufe pro Tag verzeichnen.

Wikipedia kann als Enzyklopädie in der Tradition von Denis Diderot verbunden mit der Technik des 21. Jahrhunderts beschrieben werden, wobei als Grundprinzipien eine rein sachliche Darstellung des Weltwissens ohne Wertung sowie eine wissenschaftlich gesicherte Relevanz mit ausreichender Belegbarkeit durch reputable Quellen festgelegt wurden. Jede einschlägig kompetente Person – Expertentum ist keine Voraussetzung – kann in einer Produktionsgemeinschaft von Nutzerinnen und Nutzern Artikel hinzufügen, bearbeiten, verbessern. Für die Mitarbeit darf es keine zu hohen Schranken geben, die publizierten Inhalte müssen ohne zusätzliche Erläuterungen verständlich sein.

2003 endete die Startphase von Wikipedia mit der Festlegung, dass sie eine von Ehrenamtlichen getragene Enzyklopädie ohne Werbung oder sonstige Kommerzialisierung bleiben soll. In ihrer deutschen Version entstehen pro Tag circa 600 Artikel. Mit einem ausgeklügelten System von Kontrollen und Qualitätsverbesserungsmaßnahmen wird auf mehreren Ebenen durch erfahrene Autoren und Autorinnen, die als Sichter, Administratoren und Schlichter tätig sind, an der Verbesserung der Inhalte gearbeitet. Auf einer Diskussionsseite jedes Artikels werden dazu Debatten geführt, die gelegentlich mehrere Hundert Seiten umfassen. Dem Korrigieren von Fehlern und der Abwehr von oftmals unterschwelligen Manipulationsversuchen und Vandalismus durch gezielt platzierte Falschinhalte ist ein guter Teil der Bearbeitungen gewidmet; in gemeinsamer Abstimmung aller Beteiligten werden dabei auch Artikel gelöscht. Die mit der Qualitätssicherung verbundenen, sehr zahlreichen Regularien machen es Neulingen nicht leicht, an Wikipedia mitzuarbeiten; der Autor beklagt dies als Manko und bedauert dazu auch, dass der Frauenanteil unter den Wikipedia-Autoren nur 10 Prozent beträgt.

Cover

Wikipedia dient nicht der Theoriefindung, sondern der Theoriedarstellung. Es wird Wissen vermittelt, das aktuell – als Zusammenfassung des wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Konsenses – als gesichert gilt. Strittige Themen wie zum Beispiel Homöopathie, Astrologie oder Esoteriken werden ebenfalls behandelt, wobei Wikipedia den dazu jeweils vorhandenen Kenntnisstand und wissenschaftlichen Konsens – oder Nichtkonsens – beleuchtet. Verschwörungstheorien wie auch andere Themen, für die es kein gesichertes Wissen beziehungsweise keinen Konsens gibt, werden mit dem aktuellen Stand der Debatten sachlich neutral dargestellt. Wikipedia will kein Sammelsurium sein, sondern eine Auswahl dessen, was wirklich wichtig ist, bieten; zu dieser Frage gibt es immer wieder Meinungsverschiedenheiten, die mit "Relevanzkriterien" gelöst werden sollen, wobei die Frage "Ist das relevant für eine Enzyklopädie?" meist hinter "Gibt es gute Quellen und Belege?" zurücktritt.

In den Kapiteln Organisation und Finanzen beschreibt der Autor die Rahmenbedingungen der Wikimedia-Bewegung. Neben der Wikimedia Foundation in San Francisco gibt es mittlerweile 39 Wikimedia-Tochtergesellschaften (Chapter) auf allen fünf Kontinenten, die den Grundanliegen "Freiwillige fördern, Rahmenbedingungen verbessern, Teilnahme an Wikimedia-Projekten ermöglichen" folgen. Neben der Enzyklopädie Wikipedia existieren derzeit auch noch 15 größere und zahlreiche kleinere Schwesterprojekte, von denen "Regiowiki", "Wiktionary", "Wikisource", "Wikiquote", "Wikiversity", "Wikibooks", "Wikinews" und vor allem auch "Wikimedia Commons" mit über 60 Millionen freien Mediendateien große Bedeutung besitzen. Ein besonders expansives Projekt bildet das von Wikimedia Deutschland entwickelte "Wikidata"; es stellt maschinenlesbare Kontexte zwischen Informationen her und bildet komplexe Abhängigkeiten ab. Derzeit umfasst es über 90 Millionen Datenbank-Einträge. Die darin strukturierten Daten bilden das Rückgrat einer Technologie-Revolution durch künstliche Intelligenz.

An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass es im Netz zahlreiche "Wikis" (z. B. "WikiLeaks") gibt, die mit der Wikimedia-Stiftung in keinerlei Verbindung stehen. Das hawaiianische Wort "wiki" bedeutet "schnell"; es kann von jedermann verwendet werden. Echte Wikimedia-Projekte erkennt man an ihren Logos, bei Wikipedia ist es der unvollendete Globus aus Puzzleteilen.

Die Finanzierung der Wikimedia Foundation mit all ihren technischen Einrichtungen und über 500 hauptamtlichen Mitarbeitern – 200 davon sind Programmierer – erfolgt zum größten Teil über Spenden und in kleinem Ausmaß über Mitgliedsbeiträge; im Finanzjahr 2018/2019 wurden 112 Millionen Dollar eingenommen. Online-Fundraising ist angesichts der weltweit 13 Milliarden Seitenaufrufe pro Monat nicht schwierig, im Schnitt werden pro Jahr 23 Dollar von Einzelpersonen gespendet.

"Stell dir eine Welt vor, in der jeder Mensch frei und kostenlos an der Summe allen Wissens teilhaben kann" lautet die Mission der Wikimedia Foundation. Die Fähigkeit, Menschen für diese Idee zu begeistern und zu ehrenamtlicher Mitarbeit zu motivieren, stellt das Erfolgsgeheimnis von Wikipedia dar. Ihre prinzipielle Offenheit für alle Menschen als Autoren – allein in Deutschland gibt es circa 900.000 Bearbeitungen pro Monat – bildet ein Bollwerk gegen Bestrebungen, Inhalte zu kontrollieren und/oder unter kommerziellen Gesichtspunkten zu manipulieren. In der digitalen Transformation als grundlegendem Wandel aller Bereiche unseres Lebens beziehungsweise unserer Gesellschaften wird die Macht zentralistischer Internetgiganten wie Google, Facebook, Amazon, Alibaba etc. immer größer, die ohne kommerzielle Interessen agierende Wikipedia bildet dazu einen wichtigen Gegenpol.

Im Kapitel "Blick hinter die Kulissen" beschreibt Pavel Richter die komplizierten Abläufe der Organisation und Qualitätssicherung, aber auch der Machtfragen im Hintergrund des Geschehens. Zusammenarbeit und Beratungen sind das zentrale Organisationsmodell von Wikipedia; Entscheidungen werden stets im Konsens getroffen, was manchmal lange dauert und deshalb Autoren, die über viel freie Zeit verfügen, auch Macht verleiht. Weitere indirekte Machtfaktoren bilden ein hoher Bildungsgrad, gute schriftliche Ausdrucksfähigkeit und hohes Engagement. Fachwissen ist nur bedingt ein Machtfaktor, da als zentrales Erfolgsprinzip gilt, dass jede dazu fähige Person gleichberechtigt an Wikipedia mitarbeiten kann.

Dass ein so bedeutendes, weltumspannendes Projekt wie Wikipedia auch vielen Manipulationsversuchen ausgesetzt ist, versteht sich fast von selbst. Ein eigenes Kapitel ("Stalins Badezimmer: Fehler, Fakes und Fantasien") ist diesem Thema gewidmet. Der Autor berichtet humorig von versuchten, aber auch gelungenen Tricksereien und Manipulationen, denen Wikipedia manchmal erst mit großer Verzögerung auf die Schliche gekommen ist. Da für Wikipedia ein hoher "Kompetenzvermutungseffekt" gilt und manche Artikel über Firmen, Politiker und sonstige Personen des öffentlichen Lebens unzählige Male aufgerufen werden, besteht für diese oftmals der Wunsch, besonders günstig dargestellt zu werden. Wikipedia ist sehr bemüht, dies zu verhindern; das Prinzip "Falsifikation" gilt für alle Artikel. Sie stehen stets in Kritik, sind nie ganz abgeschlossen, werden laufend überwacht.

Die Wirkmächtigkeit von Wikipedia ist unbestritten und wird von vielen Bildungseinrichtungen, Kultur- und sonstigen Instituten sowie auch von Medien immer wieder bestätigt, zum Teil auch kritisiert. Das Zitieren von Wikipedia-Artikeln in wissenschaftlichen Arbeiten war in der Vergangenheit meist verpönt, wird aber neuerdings von immer mehr Universitäten und wissenschaftlichen Instituten in Verbindung mit bestimmten Regeln (beispielsweise mit dem jeweiligen Abrufdatum versehen) zugelassen. Dass Wikipedia-Artikel auch in Gerichtsurteile Eingang finden (in Deutschland und Österreich zum Beispiel bereits über 600 Mal), liegt ebenfalls an ihrer Vertrauenswürdigkeit, die der Schwarmintelligenz der Autoren zuzuschreiben ist.

Wikipedia ist, wie der Rezensent als passionierter Nutzer, aber auch als Wikipedia-Autor aus eigener Erfahrung weiß, aus dem Alltag sehr vieler Menschen nicht mehr wegzudenken. Das vorliegende Buch gibt einen guten Überblick zur Idee, Organisation und Gestaltung des Projektes – wie es funktioniert, was es leistet, was es aber auch nicht leisten kann. Es lässt die komplexen Abläufe und Regelungen hinter den Kulissen verstehen und nennt damit verbundene weitere Projekte, die teilweise bereits jetzt große Bedeutung besitzen und in Zukunft voraussichtlich noch viel bedeutender sein werden. Pavel Richter versteht es sehr gut, das Thema in all seinen Facetten dazustellen; dem Buch ist weite Verbreitung zu wünschen, Schülern, Studenten sowie allen an Wissen und Wissensvermittlung interessierten Personen sollte es besonders ans Herz gelegt werden – nicht zuletzt mit der Absicht, sie zu aktiver Mitarbeit am weltumspannenden Projekt Wikipedia/Wikimedia zu motivieren.

Pavel Richter: Die Wikipedia Story, © Campus Verlag, Frankfurt am Main, 2020, ISBN 978-3-593-51406-2, 231 Seiten, 22,95 Euro

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