Angesichts der aktuellen massiven Menschenrechtsverletzungen in der Türkei darf es keinen Deal mit der türkischen Regierung über Menschenrechte - auch nicht mit den Menschenrechten von Flüchtlingen - geben. Das fordern zehn JuristInnen- und Bürgerrechtsorganisationen in einer gemeinsamen Presseerklärung, die heute veröffentlicht wurde.
"Das Vorgehen der türkischen Staatsführung in den vergangenen zwei Wochen nach dem versuchten Militärputsch stellt eine massive Verletzung von Grundrechten und rechtsstaatlichen Grundsätzen dar:
Mit der Entlassung von über 70.000 Staatsbediensteten, unter ihnen tausende Richter und Staatsanwälte, von denen über 2000 festgenommen wurden, setzt sich in rasantem Tempo eine Entwicklung fort, die wir bereits seit Jahren beobachten: Unter dem Deckmantel der Terrorismusbekämpfung werden politisch missliebige, oder die eigene Machtposition gefährdende Gruppen, Rechtsanwälte, Journalisten, Akademiker, Politiker und Gewerkschafter und nun auch Richter, Staatsanwälte und Lehrer strafrechtlich verfolgt und ihrer Ämter enthoben. Festgenommene werden öffentlich zur Schau gestellt, teilweise mit deutlichen Folterspuren, eine Lynchjustiz wird gebilligt und über die Wiedereinführung der Todesstrafe wird ernsthaft nachgedacht. Anwälte erhalten keinen Zugang zu den Gefängnissen und ihren Mandanten.
Als das türkische Verfassungsgericht Ende Februar 2016 die angeordnete Untersuchungshaft gegen zwei Journalisten aufhob, die die staatliche Unterstützung militanter Islamisten in Syrien öffentlich gemacht hatten, drohte der türkische Präsident Erdogan bereits den Richtern: "Ich sage es offen und klar, ich akzeptiere das nicht und füge mich der Entscheidung nicht, ich respektiere sie auch nicht". Dieser Drohung hat er jetzt Taten folgen lassen.
Die Entlassungen von fast einem Viertel der gesamten Richterschaft - die offenbar bereits vor dem Putschversuch des 15. Juli 2016 vorbereitet wurden - hebt die Unabhängigkeit der Justiz auf. Die Gewaltenteilung ist mit der Verhängung des Ausnahmezustandes nun auch rechtlich nicht mehr gewährleistet. Die Türkei als demokratischer Rechtsstaat existiert seit dem 16. Juli 2016 nicht einmal mehr als potemkinsches Dorf.
Am 21. Juli 2016 verkündete die türkische Regierung, nicht mehr an die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) gebunden zu sein. Dass die Türkei - die sich faktisch schon unter formaler Anerkennung der EMRK systematisch über die Garantien der Menschenrechtskonvention hinwegsetzte - diese nunmehr suspendiert, lässt das Schlimmste befürchten.
Es zeigt aber vor allem, dass die türkische Regierung den türkischen Staat auch nicht als eine die Menschenwürde achtende Grundordnung versteht. Die jüngsten Ereignisse verdeutlichen vielmehr den seit Jahren von der AKP offensiv betriebenen Umbau der Türkei nach einem Programm, welches auf religiöse Intoleranz und die gewaltsame Durchsetzung ihrer Interessen gründet."
Die JuristenInnen und Bürgerrechtsorganisationen versuchen trotzdem, unter den gegebenen Umständen die Zusammenarbeit mit den demokratischen und fortschrittlichen Schwesterorganisationen in der Türkei fortzusetzen. Sie werden sich weiterhin uneingeschränkt für die Unabhängigkeit der Justiz und der Anwaltschaft in der Türkei einsetzen.
Sie fordern von der Bundesregierung:
- einen sofortigen Abschiebestopp für die Türkei zu erlassen;
- sich auf allen Ebenen dafür einzusetzen, dass die willkürlichen und politisch motivierten Verhaftungen, Entlassungen oder Suspendierungen sofort aufgehoben werden;
- vom Präsidenten der Türkei und seiner Regierung mit Nachdruck zu verlangen, dass der Rechtsstaat und die Demokratie in der Türkei umgehend wieder hergestellt werden;
- die Konsultationsgespräche mit Vertretern des türkischen Geheimdienstes auszusetzen;
- die Wiederherstellung der richterlichen Unabhängigkeit und der freien Berufsausübung von Rechtsanwälten und Rechtsanwältinnen, Staatsanwälten und Staatsanwältinnen und die Freiheit der Medien in der Türkei einzufordern.
Liste der JuristInnen- und Bürgerrechtsorganisationen:
Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Juristinnen und Juristen
Bundesfachausschuss Richterinnen und Richter, Staatsanwältinnen und Staatsanwälte in Ver.di
Humanistische Union
IALANA
Internationale Liga für Menschenrechte
Komitee für Grundrechte und Demokratie
Neue Richtervereinigung
Organisationsbüro Strafverteidigervereinigungen
Republikanischer Anwältinnen- und Anwälteverein
Veinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen
Diese Organisationen veranstalten heute (03.08.2016) vor dem Bundeskanzleramt eine Kundgebung.
3 Kommentare
Kommentare
Gondel am Permanenter Link
Eigentlich bedarf dies keinerlei Kommentierung: Man schließe nur einmal kurz die Augen und stelle sich vor, ein Bernd Höcke stellte dasselbe mit Deutschland an.
Noncredist am Permanenter Link
>> Die Entlassungen von fast einem Viertel der gesamten Richterschaft - die offenbar bereits vor dem Putschversuch des 15. Juli 2016 vorbereitet wurden - hebt die Unabhängigkeit der Justiz auf. <<
(Achtung: Zynismus!)
Ich finde es immer noch extrem auffallend, wie unbeschreibbar schnell die Bürokratie in der Türkei arbeitet. Wir Deutschen könnten von dessen Schnelligkeit wahrhaftig sehr viel lernen. Die Tinte in den Nachrichtenblättern war angesichts des Putsches noch nicht einmal getrocknet, schon kannte man eindeutig und zweifelsfrei die Personen, welche sofort aus dem Verkehr gezogen werden mussten. Eine Effizienz und Geschwindigkeit, die wir letztens wahrscheinlich nur noch unter der Führung eines Diktators kannten ;)
>> Sie fordern von der Bundesregierung: <<
Von der selben Bundesregierung, die sich bei der Frage der Beschneidung für das Menschenrecht der körperlichen Unversehrtheit der Kinder einsetzte? Sie soll einem fremdländischen Herrscher "in's Gewissen reden", dass seine Handlungen - die ihm wohl weiterhin die notwendige Macht verleihen - nicht schön seien? Wir haben sowas auch nicht einmal beim Papst geschafft, als er noch unsere Sprache perfekt verstand ;)
>> einen sofortigen Abschiebestopp für die Türkei zu erlassen; <<
Die Europäische Union, mit ihren paar 100 Millionen Einwohnern, und Deutschland in der Mitte - das reichste Land auf diesem Kontinent - hat doch keine Ahnung, wie sie diesen "Flüchtlingsstrom", diese "Flüchtlingswelle", diese "Flüchtlingsflut" überhaupt bewältigen kann. Noah baute 'ne Arche. Was soll EUROPA da machen? 700 Millionen Einwohner? Wie sollen die paar hundert Millionen bloß die 2-3 Millionen notleidenden Flüchtlingen helfen? Das ist doch unmöglich! Ohne die Türkei schaffen wir das überhaupt nicht! ;)
>> sich auf allen Ebenen dafür einzusetzen, dass die willkürlichen und politisch motivierten Verhaftungen, Entlassungen oder Suspendierungen sofort aufgehoben werden; (...) die Wiederherstellung der richterlichen Unabhängigkeit und der freien Berufsausübung von Rechtsanwälten und Rechtsanwältinnen, Staatsanwälten und Staatsanwältinnen und die Freiheit der Medien in der Türkei einzufordern. <<
Die Türkei hat sich praktisch auf eine eigene Insel zurückgezogen. Wie wollen wir diesem Land "unseren Willen" aufzwingen, erdogangesetzlich veranlasste Handlungen des Staates als "ungültig" zu erklären? Es wäre nur zu schön, wenn die Regierung in der Türkei über Nacht das Einsehen haben würde, ihre Handlungen seien "impulsiv" und "unbedacht" gewesen und die zehntausende von adressierten "Putschisten" (= "Falschbürger") wieder in ihre Ämter zu lassen. Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt ...
>> vom Präsidenten der Türkei und seiner Regierung mit Nachdruck zu verlangen, dass der Rechtsstaat und die Demokratie in der Türkei umgehend wieder hergestellt werden; <<
In den Augen des Machthabers hat er doch gerade *mit seinen Handlungen* den "Rechts"Staat wieder hergestellt: keine Störenfriede mehr!
Solange Kritik an der Regierung als potenzielle Millitärputsch-Planung angesehen wird, ist die Handlung zur "Stabilisierung des Staates" - in den Augen Erdogans - doch gerade richtig. Warum sollte ein Störenfried, störende Parteien und gegensätzliche Meinungen, denn "gut" für ein Königreich ... äh ... eine Demokratie sein? ;)
Erdogan kennt die politische Kraft der uns hier ausgeübten Demokratie. Sie ist in seinen Augen schlicht "zu schwach", um die Probleme in seinem Land zu lösen. Über all die Jahre hat er beobachtet und bewusst abgewogen, was nötig für sein Land sei. Dies ist nun sein Werk. Möglicherweise gar vorhersehbar gewesen.
Ich kann nur hoffen, dass die Vernunft siegt. Erdogan ist kein Gott. Auch er wird eines Tages sein Besteck abgeben müssen. Ob er sein Land einem Familienangehörigen, gleichgesinnten Diktator oder doch seinem Volk zurückgibt, bleibt offen. Zur Zeit versucht der türkische Papst seine gleichgeschaltenen Kardinäle in die Konklave zu schleusen. Meiner Meinung nach mit dem Ziel, die zukünftige politische Führung weiterhin auf Konservativ zu trimmen. Wir werden womöglich Ähnlichkeiten mit einer uns bekannten religiösen Institution erleben, bei der der zukünftige Staatslenker zwar von einigen "gefeiert" wird, aber sicherlich nicht als der Reformator gelten wird. Dazu ist er nicht von den konservativen Mächten zum Herrscher gewählt worden. Ganz sicher nicht.
Wolfgang am Permanenter Link
Und leider wird Frau Merkel nur wieder symbolisch ihre Hände falten und das "Wir schaffen das" rauslassen.