Eine anatomische Betrachtung

Der Mythos der Jungfräulichkeit

Das soziale Konstrukt der Jungfräulichkeit hat eine lange religiös-patriarchale Tradition und dient der Kontrolle weiblicher Sexualität. Der Mythos, es gäbe die relevante Eigenschaft, "Jungfrau" zu sein, ist in vielerlei Hinsicht schädlich. In einem Kommentar, der in den sozialen Netzwerken viel Aufsehen erregte, erklärt die Ärztin Dr. Verena Brown, warum man bereits anatomisch keine Unterschiede zwischen "Jungfrauen" und "Nicht-Jungfrauen" feststellen kann und es sich auf der wissenschaftlich-faktischen Ebene um einen Mythos mit weitreichenden Konsequenzen handelt.

Seit zehn Jahren arbeite ich als Kinderärztin mit Missbrauchsopfern und habe hunderte Mädchen betreut, die Opfer von sexuellen Übergriffen wurden. Man lernt in dieser Branche einiges über Hymen1, die weibliche Anatomie und die sogenannte Jungfräulichkeit.

Hier mein Beitrag zur Aufklärung:

Jungfräulichkeit ist keine physische Eigenschaft. Es handelt sich um ein soziales Konstrukt, um ein Werkzeug, mit dem Frauen seit Jahrhunderten unterdrückt und schamhaft gehalten werden. "Aber was ist mit dem Jungfernhäutchen?", fragen einige. "Reißt" es nicht, wenn man zum ersten Mal Sex hat?

Nein.

Das Hymen ist lediglich ein dünnes Stück Gewebe, ein Überrest am Eingang der Vagina. Es ist absolut nutzlos (außer man ist ein Meerschweinchen. Deren Hymen ziehen sich zurück, wenn das Weibchen läufig ist und wachsen zum Schutz nach. Um Todd Akin zu zitieren, können Meerschweinchen "den Betrieb komplett einstellen". Aber Menschen sind keine Meerschweinchen).

Hier sind einige Fakten über das Hymen:

  1. Das Hymen dient keinem Zweck. Null. Nada. Entgegen landläufiger Meinung hilft es Säuglingen nicht, keine Fäkalien in ihre Vaginas zu bekommen. Es schützt auch nicht vor Infektionen.

  2. Hymen sehen aus wie zerknäulte Haargummis und ganz ähnlich wie Haargummis sind sie dehnbar. Sie dehnen sich so weit aus, dass sie sich einem Penis und anderen Objekten anpassen können. Sie dehnen sich tatsächlich sogar so weit aus, dass sie einem Baby Platz machen können.

  3. Das Hymen ist immer offen. Kleine Mädchen werden mit einem Loch darin geboren. In seltenen Fällen werden Mädchen ohne eine solche Öffnung geboren. Es handelt sich dabei um einen medizinischen Zustand, der als "Hymenalatresie" (engl.: "imperforate hymen") bezeichnet wird und dessen Behebung eine Operation erfordert.2 Es gibt einige andere Variationen in der Hymen-Morphologie, wie zum Beispiel gespaltene Hymen (hier befinden sich zusätzliche Gewebebänder dort, wo die Öffnung sein sollte), aber da die überwiegende Mehrheit der Frauen in die herkömmliche Kategorie passt, werde ich an dieser Stelle nur darauf eingehen.

  4. Wenn Hymen nicht offen wären, könnten Frauen keine Periode haben. Deshalb ist die Operation für die imperforativen Hymen notwendig.3

  5. Studien zeigen, dass Frauen, die schwanger waren und Frauen, die noch nie Sex hatten, identisch aussehende Hymen haben.

  6. Nur 60 Prozent der Frauen bluten beim ersten Geschlechtsverkehr.4 Hierbei müssen auch motorisch-technische Probleme beachtet werden.

  7. Wenn eine Verletzung der Genitalien durch sexuelle Aktivität (oder anderweitig) auftritt, bedeutet das nicht, dass etwas "gerissen" ist. Die Vulva hat viele verletzbare Bereiche, nicht nur das Hymen. Zudem handelt es sich bei dem Vulvagewebe um das gleiche, wie das Gewebe in unserem Mundinnenraum. Wenn man auf das Mundinnere beißt, kann es anschwellen oder sogar bluten. Aber ein paar Tage später ist alles vollständig geheilt. Die Vulva einer Frau und das Hymen regenerieren sich genauso.

Warum also sollte man sich die Mühe machen, den Mythos der Jungfräulichkeit aufzubrechen? Nun, zuallererst handelt es sich um einen großen Haufen Unsinn – und Frauen müssen die Wahrheit über ihre Körper erfahren. Zweitens werden Frauen auf der ganzen Welt noch immer Jungfräulichkeits-Tests und anderen gefährlichen Praktiken unterzogen, um die mythologische Jungfräulichkeit sicherzustellen oder "wiederherzustellen".5 Drittens, folgendes (Triggerwarnung):

Ein 13-jähriges Mädchen sitzt auf meinem Untersuchungstisch. Ihr Onkel fing an, sie zu vergewaltigen, als sie sieben Jahre alt war. Ich sage ihr, dass sie gesund aussieht und sie keine körperlichen Schäden davontragen wird. Sie fragt mich: "Bin ich noch Jungfrau?"

Ich sage ja, und ich sage ihr, warum.

Weil sie wie jedes andere Mädchen in ihrem Alter aussieht. In 95 Prozent der Fälle heilt das Hymen nach einem Übergriff vollständig.6 Und weil Jungfräulichkeit kein anatomischer Zustand ist. Es ist nichts, was einem jemals weggenommen werden kann.

Es eine mentale und emotionale Entscheidung, die du triffst – ein Konzept. Du kannst es von dir geben, wenn du bereit dazu bist, und nicht, wenn jemand beschließt, deinem Körper Gewalt anzutun.

Sie weint, ihr ganzer Körper zittert unter Tränen der Erleichterung. Dann trocknet sie ihre Tränen und lächelt einem neuen Anfang entgegen.

Also lasst uns die Demütigung und Scham beenden. Genug ist genug.


Hinweis: Dieser Beitrag dient nur der Information. Er soll keinen medizinischen Rat darstellen. Bitte wenden Sie sich an ärztliches Fachpersonal, wenn Sie Fragen zu Ihrem Körper haben.

Auch habe ich in dem Beitrag die Begriffe "Frauen" und "Mädchen" verwendet, allerdings gilt das Geschriebene für jede Person mit dieser Anatomie, die von diesem Thema betroffen ist.

Ich habe Rückmeldungen zu verschiedenen Erscheinungsformen des Hymen bekommen, insbesondere Septate7 und kribriförmige8 Morphologien. Es ist wichtig, diese Abweichungen anzuerkennen. Dieser Beitrag beschäftigt sich mit dem häufigsten Erscheinungsbild bei Menschen mit Vaginas. Das soll die Erfahrung anderer nicht schmälern. Noch einmal, wenn Sie eine Frage zu Ihrem Körper haben, suchen Sie ärztlichen Rat.


1: Bei der Übersetzung wurde auf das im deutschen Sprachraum geläufige Wort "Jungfernhäutchen" verzichtet und stattdessen der Begriff "Hymen" gewählt.

2: Emans, ER Woods, EN Allred. Hymenal findings in adolescent women: impact of tampon use and consensual sexual activity. Journal of Pediatrics. 125(1): 1994; 153–160.

3: Goodyear-Smith, TM Laidlaw. What is an ‘intact hymen’? A critique of the literature. Medicine Science & Law. 38(4): 1998; 289–300.

4: Paterson-Brown. Should doctors reconstruct the vaginal introitus of adolescent girls to mimic the virginal state? Education about the hymen is needed. British Medical Journal. 316(7129): 1998; 461.

5: Amy. Certificates of virginity and reconstruction of the hymen. European Journal of Contraception & Reproductive Health Care. 13(2): 2008; 111–113.

6: Birgitta Essén, Anna Blomkvist, Lotti Helström & Sara Johnsdotter (Senior Lecturer Medical Doctor Medical Doctor Senior Lecturer) (2010) The experience and responses of Swedish health professionals to patients requesting virginity restoration (hymen repair), Reproductive Health Matters, 18:35, 38–46.

7: engl. "septate": Hierbei befinden sich ein oder mehrere Gewebebänder über der Hymen-Öffnung.

8: engl. "cribriform" oder "microperforate": Ähnlich der Hymenalatresie scheint das Hymen nicht geöffnet, es sind jedoch kleine Perforationen vorhanden. 

Erstveröffentlichung auf Facebook. Übersetzung aus dem Englischen von Luisa Lenneper für den hpd.