Christlicher Fundamentalismus – erkennen und benennen!

"Christlich-fundamentalistische Gruppen breiten sich im Norden aus." Bereits im Jahr 2016 informierte darüber ein Artikel des Schleswig-Holsteinischen Zeitungsverlags (SHZ). Im Dezember 2018 bestätigte der Sektenbeauftragte der evangelischen Nordkirche auf telefonische Nachfrage, dass sich diese Entwicklung ungebrochen fortsetzt.

Inzwischen haben wir das Jahr 2020 und kaum jemand in Politik und Gesellschaft weiß mit christlich-fundamentalistischem Gedankengut wirklich umzugehen; denn aufgrund der Dominanz kirchlicher Einflussnahme im öffentlichen Raum und in der Parteienlandschaft wird christlicher Fundamentalismus im ländlichen Raum Schleswig-Holsteins derart an den Rand gedrängt, wie es in dem eingangs verlinkten SHZ-Artikel geschieht.

Was der besagte Artikel dabei noch nicht berücksichtigt, ist, dass zusätzlich zu der geschilderten Entwicklung auch immer mehr weltoffene Menschen aus den etablierten Kirchen austreten. So bleiben auch in den schrumpfenden Gemeinden der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) zwangsläufig jene zurück, denen der Glaube eine wirklich ernste Angelegenheit ist. Auch hier verschiebt sich das Verhältnis zugunsten reaktionärer Kräfte. Tatsächlich findet sich die größte evangelikale Bewegung (im Sinne einer zum Fundamentalismus tendierenden Strenggläubigkeit) in der Nordkirche selbst.

Deutlich wird das anhand der Zahlen, die mit der evangelikalen Sammlungsbewegung Deutsche Evangelische Allianz verknüpft sind. Diese strenggläubige Bewegung, die alle protestantischen Konfessionen durchzieht, hat anders als die EKD keine Mitgliedersorgen und erhält bundesweit sogar Zulauf. Von den mittlerweile 1,3 Millionen Evangelikalen, die sich in der Deutschen Evangelischen Allianz sammeln, sitzen laut Angabe der EKD rund die Hälfte in den evangelischen Landeskirchen selbst, während sich der Rest auf Methodisten, Baptisten, Charismatiker, Pfingstgemeinden und andere verteilt.1 Auch einige lokale Pastorinnen und Pastoren der EKD treten regelmäßig auf Veranstaltungen der Deutschen Evangelischen Allianz auf, und zwar alljährlich im Frühjahr, wenn zur Allianzgebetswoche geladen wird.

Anders jedoch, als es bei den von der EKD pauschal abgekanzelten fundamentalistischen Gruppen der Fall ist, die sich nach außen eher verschließen, ist es gerade der evangelikale Flügel der Nordkirche, der über die etablierten Strukturen, die zwischen EKD und Staat bestehen, einen Zugang zur Politik erhält und damit Einfluss auf gesamtgesellschaftliche Institutionen. Problematisch wird das, wenn soziale Einrichtungen, die sich in kirchlicher Trägerschaft befinden, durch strenggläubige und fundamentalistische Positionen unter Druck geraten.

Das wurde zuletzt im Jahr 2019 deutlich. Evangelische Diakonie und katholische Malteser schlossen sich zusammen, um in Flensburg ein neues Krankenhaus zu errichten, das die bestehenden Krankenhäuser ab dem Jahr 2026 ersetzen soll. Auf Betreiben des katholischen Partners werden dort keine Schwangerschaftsabbrüche mehr durchgeführt. Aus Glaubensgründen verweigert man sich der zwingenden Notwendigkeit, jeden Einzelfall individuell und ernsthaft zu behandeln. Die katholische Kirche vertritt hier eine fundamentalistische Haltung (auch im Sinne einer gedanklichen Verhärtung), weil sie diese Position als unverhandelbar beibehält.

Wohin das führt, zeigte vor einigen Jahren der Fall einer vergewaltigten Frau, die sich unmittelbar nach der Tat mit der Bitte um "die Pille danach" an ein katholisches Krankenhaus in Köln wandte und abgewiesen wurde. Eine solch christlich-fundamentalistische Haltung richtet sich gegen die medizinische Grundversorgung, gegen das Selbstbestimmungsrecht von Frauen und gegen das Berufsethos der Ärztinnen und Ärzte. Nun ist die katholische Kirche in Schleswig-Holstein auch eher eine kleine religiöse Gruppe2, der es aber über ihre Finanzmittel und in Kooperation mit der liberaleren EKD gelingt, eine christlich-fundamentalistische Position in der Mitte der Gesellschaft zu verankern.

Trotz dieser fundamentalistischen Haltung, die sich die katholische Kirche entscheidet einzunehmen, muss die christlich motivierte Opposition gegenüber Schwangerschaftsabbrüchen jedoch nicht zwingend dem religiösen Fundamentalismus zugeordnet werden. Schließlich lässt sich die Debatte auch mit echten Argumenten führen. Deshalb bieten seriöse Stellen auch eine Schwangerschaftskonfliktberatung an, die sich an ethischen Maßstäben und nicht einseitig an Dogmen orientiert. Anders als reine Fundamentalismen bergen strenggläubig motivierte Haltungen zumindest noch die Möglichkeit, rational verhandelt werden zu können. Wer sich dabei ernsthaft dem Schutz des Lebens verpflichtet fühlt, muss allerdings das tatsächliche Leid in den Blick nehmen, das es zu lindern gilt, und nicht eine fundamentalistische Position, deren starre Betrachtung blind macht für das Leiden derjenigen, die eine solche Haltung gängelt. Die katholische Kirche hat das noch nicht verstanden. Sie fordert, Leid in Kauf zu nehmen, wo echte Gründe dagegensprechen. Erst durch eine Bezugnahme auf echte Gründe in Ansehung des Leids entsteht wirkliche Handlungskompetenz.

Meist noch strenger als die katholische Kirche werden fundamentalistische Positionen von evangelikalen Protestanten verfochten. Dabei ist die Ablehnung der Homosexualität das wohl prominenteste Beispiel von missionarischer Übergriffigkeit auf andere Lebensentwürfe. An besagter Debatte vollzog sich Anfang des Jahres 2020 der Auftakt zu einer der größten Kirchenspaltungen in den USA. Die evangelikale methodistische Kirche, die 12,5 Millionen Mitglieder in den Vereinigten Staaten zählt, zerbricht an der Frage, ob Homosexualität überhaupt mit der christlichen Lehre zu vereinbaren sei. Die abgespaltene neue Kirche, zu der ungefähr 5,5 Millionen Gläubige wechseln, bejaht dies, während die Anhängerschaft der alten Kirche ihre Position und damit ihre innerkirchliche Sanktionsbereitschaft gegen Homosexuelle auch noch einmal verhärtet. Für das Abstrafen der homosexuellen Lebensweise, die ja niemanden angreift außer denjenigen, die hier ihr Glück finden, gibt es allerdings weder ein redliches Motiv noch ein vernünftiges Argument. Derart übergriffige Bestrebungen sind eindeutig dem Fundamentalismus im Sinne einer irrationalen Normbegründung zuzuordnen. Dem gegenüber steht jene Ethik, die nach erfahrungsmäßigen, objektiv einsehbaren und selbsterklärenden (apriorischen) Gründen sucht, um die Legitimation einer Handlung einzig in Bezug auf das tatsächliche Leid zu bemessen, das sie gegebenenfalls verursacht.

Einen bis heute nachwirkenden Höhepunkt erfuhr der christliche Fundamentalismus gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts unter britischen und amerikanischen Protestanten, und zwar vor allem als wortwörtliche Kriegserklärung gegen wissenschaftliche Verfahren und Ergebnisse. Dieser christliche Fundamentalismus, der aus den USA zu uns herüberdringt, war eine Reaktion auf die schlüssige Beweiskraft der darwinistischen Evolutionstheorie, die das Weltbild der evangelikalen Protestanten in Bezug auf den biblischen Schöpfungsmythos tief erschüttert hatte. Im Zuge dieser Affektreaktion schrieb die protestantisch-fundamentalistische Bewegung fünf Kernpunkte ihres Glaubens fest, die sich heute auch im Selbstverständnis der Deutschen Evangelischen Allianz finden. Diese sind: die Irrtumslosigkeit der Bibel, die Jungfrauengeburt, das Sühneopfer sowie der Glaube an die Auferstehung und die Wiederkehr Jesu.

Dabei geht gerade die "Jungfrau" Maria auf einen antiken Übersetzungsfehler zurück, der im Zuge einer zehnjährigen Forschungsarbeit zur katholischen Einheitsübersetzung der Bibel (2016) heute auch von der Papstkirche nicht mehr geleugnet werden kann. Sie tut es dennoch. Ursprünglich hat es "junge Frau" geheißen. Dabei ist ein solches Dogma noch eher harmlos; denn, ob man nun daran glaubt oder nicht, es zieht keine direkten Konsequenzen für die eigene Lebensführung nach sich. Anders verhält es sich jedoch mit jenem Dogma, das heute alle christlich-fundamentalistische Irrationalität und Gewalt legitimiert. Es ist das Bekenntnis zur verbalinspirierten Unbedingtheit der Heiligen Schrift, das die Irrtumslosigkeit der Bibel in unverantwortlicher Weise festschreibt. Das Dogma wird offiziell von der katholischen Kirche, von einigen lutherischen Freikirchen, aber auch von der evangelikalen Deutschen Evangelischen Allianz festgeschrieben.

Besagter Glaubenssatz fordert, die Bibel als durch Gott direkt dem jeweiligen Propheten oder Schreiber eingegeben zu betrachten. So wird die Bibel nicht mehr in ihrer historischen Bedingtheit gesehen, wie es jeder vernünftige Mensch, aber auch die liberale evangelisch-lutherische Kirche geneigt ist zu tun. Vielmehr gilt die Bibel den Strenggläubigen als in jeder Hinsicht irrtumsfrei und damit als (Zitat) "höchste Autorität in allen Fragen des Glaubens und der Lebensführung". So schreibt es die Deutsche Evangelische Allianz in ihrem Selbstverständnis fest, womit die Pforte zu einer christlich-fundamentalistischen Parallelwelt weit aufgestoßen wird.

Nicht alle Gläubigen gehen hindurch. Wir wissen selbst aus unserem Alltag, dass viele Christen hierzulande buchstäblich den Teufel tun, wenn es um das Ablassen von ihren ethisch legitimen Lebensgewohnheiten zugunsten kirchlicher Dogmen geht. Strenggläubigkeit verleitet allerdings dazu, die Grenze einer ethisch legitimen Lebensweise wider besseren Wissens zu überschreiten.

Dieses "wider besseren Wissens" ist für alle fundamentalistischen Ansichten und Handlungen bezeichnend; denn ein fundamentalistisch eingestellter Mensch lässt sich nicht mehr von Gründen leiten, die eine echte Autorität durch Kompetenz unter Beweis stellen. Stattdessen beruht die religiös-fundamentalistische Rechtfertigung auf einer irrationalen Autorität, die auf willkürlichen und unverhandelbaren Glaubenssätzen (Dogmen) aufbaut, wie es in der vermeintlichen Irrtumslosigkeit der Bibel zum Ausdruck kommt. Der angebliche Wille Gottes wird vertretbar, indem sich der Strenggläubige allein auf seine Frömmigkeit beruft. Diese christliche Frömmigkeit ist niemals Tugend, sondern Hörigkeit. Das geht zurück auf alttestamentarische Patriarchen, die oftmals einen Lieblingssohn haben, der nur deshalb bevorzugt wird, weil er dem Vater besonders gehorcht. Genau dies ist das Verhältnis, was sich in der biblischen Mensch-Gott-Beziehung spiegelt. In Bezug auf die fundamentalistische Selbstermächtigung ist Frömmigkeit ein Nachgeben gegenüber den eigenen Neigungen und psychischen Prädispositionen, die ins Göttliche projiziert werden, von wo aus der Gläubige dann eine verstärkende Rückmeldung für die Richtigkeit seiner Selbstermächtigung erfährt.

Alles, was sich in der Bibel an Handlungen durchsetzt, geschieht letztlich, weil sich irgendjemand für besonders legitimiert hält. Im Alten und Neuen Testament fragt niemand nach Gründen – auch Jesus nicht. Dadurch wird das Gute inkompetent. Die irrationale Autorität, deren Wesenszug es ja gerade ist, nicht verstanden zu werden, ist zugleich die einzige Rechtfertigungsform, die eben auch gewalttätige und sadistische Handlungen legitim erscheinen lässt. Genau dieser Zugewinn an Leid ist der einzige Mehrwert, den die dogmatisch fundierte Lebensweise gegenüber einer gründlich ausgerichteten Ethik zu versprechen vermag.

Dogmen vermögen es einerseits, direkt zu unethischem Verhalten aufzufordern. Gleichzeitig führt eine strenggläubige Lebensweise zur Verdrängung der eigenen ethisch legitimen Bedürfnisse. Dass sich diese Unterdrückung, wie sie beispielsweise im Zölibat zum Ausdruck kommt, dann auf illegitime Weise Bahn bricht, wissen wir nicht erst durch die massenhaften Missbrauchsskandale in der katholischen Kirche, sondern hierzulande auch durch die Untersuchung des Kriminalpsychologen Prof. Dr. Pfeiffer aus dem Jahr 2013. Seine Studie zeigt auf, dass das Gewaltpotenzial von evangelikalen Eltern gegenüber den eigenen Kindern mit deren Strenggläubigkeit steigt. Jedes vierte bis fünfte Kind, das in einer evangelikalen Familie aufwächst, macht demnach schwere Gewalterfahrungen. Eine solche Gewaltlegitimation wird bereits in moderaten Kirchenkreisen gefördert.

Im schleswig-holsteinischen Religionsunterricht werden beispielsweise die Handlungen von Abraham an seinem Sohn Isaak als Form von göttlicher Fürsorge erklärt. Dies ist schlichtweg das Schlechteste, was man Kindern überhaupt mitgeben kann; denn es stärkt die Akzeptanz gegenüber der sadistischen Gewalt, die zumindest immer eine psychische ist. Der Übergang von einer liberalen Theologie zur Strenggläubigkeit und von einer Strenggläubigkeit zum Fundamentalismus verläuft immer fließend. Ein pauschaler Fingerzeig auf den oder die Fundamentalisten wird der Sache in den seltensten Fällen gerecht. Will man dem christlichen Fundamentalismus ernsthaft begegnen, ist es immer besser, von fundamentalistischen Ansichten in Bezug auf einzelne Fragen der Lebensführung zu sprechen, diese argumentativ aufzuschließen und immer dann als solche zu verurteilen, wenn zum eigenen Schaden oder zum Schaden anderer an ihnen festgehalten wird.

Damit dies gelingt, brauchen wir eine freie Presse, mutige Politiker und emanzipierte öffentliche Stimmen, die christliche Alltagsfundamentalismen aus dem Tabu holen.

Erstveröffentlichung auf der Webseite der Humanistischen Initiative.

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1 Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen https://www.ezw-berlin.de/html/33052.php. Zuletzt abgerufen am 24.04.2020 ↩︎

2 2018 hatte die katholische Kirche 175.743 Mitglieder in Schleswig-Holstein, während die evangelische Nordkirche zum selben Zeitpunkt 1,2 Millionen Mitglieder im nördlichsten Bundesland zählte. ↩︎