Offener Brief Missbrauchsbetroffener an Politik

"Unsere Menschenwürde wurde verletzt, unsere Seelen gemordet"

Ende Juni schrieben Missbrauchsbetroffene einen Offenen Brief an alle 27 deutschen (Erz-)Bistümer; darauf haben sie laut eigenen Angaben nur wenig Rückmeldungen von Seiten der katholischen Kirche erhalten. Deshalb wenden sie sich nun passend zur Bundestagswahl an sechs Spitzenpolitiker_innen. Dieser neuerliche Offene Brief, den der hpd hier im Wortlaut veröffentlicht, wurde am Montag per Einwurfeinschreiben und per E-Mail an Armin Laschet (CDU-Kanzlerkandidat), Olaf Scholz (SPD-Kanzlerkandidat), Annalena Baerbock (Kanzlerkandidatin der Grünen), die noch amtierende Kanzlerin Angela Merkel sowie Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble versandt. Unterzeichnet haben ihn Betroffene und Verbände rund um das Aktionsbündnis Betroffeneninitiativen.

Sehr geehrter Herr A. Laschet,
sehr geehrter Herr O. Scholz,
sehr geehrte Frau A. Baerbock;
sehr geehrte Frau A. Merkel,
sehr geehrter Herr F.-W. Steinmeier,
sehr geehrter Herr W. Schäuble;

sehr geehrte Damen und Herren,

wir appellieren an Sie, bitte helfen Sie uns unsere Rechte zu erlangen!

Wir sind Opfer der katholischen Kirche. Deren Priester und Ordensangehörige haben uns als Kinder und Jugendliche (als Mädchen und Jungen) viele Jahre missbraucht und vergewaltigt. Unsere Menschenwürde wurde verletzt, unsere Seelen gemordet. Das Grundgesetz, das staatliche Recht, wurde missachtet. Das hat die katholische Kirche, (z. B. die Diözese Köln) inzwischen unumwunden zugegeben (siehe Gercke-Gutachten). Die katholische Kirche als Körperschaft des öffentlichen Rechts hat jahrelang nicht die von ihr verlangte Gewähr geboten, das geltende staatliche Recht zu beachten und die ihr übertragene Hoheitsgewalt nur im Einklang mit den verfassungsrechtlichen und sonstigen gesetzlichen Bindungen auszuüben (vgl. u. a. BVerfGE 102, 370).

Die Kirche will uns nicht entschädigen und kein Schmerzensgeld zahlen. Nur eine Anerkennung von 1000 € bis 50.000 € "will" man uns zugestehen. Aufgrund der Konzeption des Verfahrens werden nur wenige von uns einen fünfstelligen Betrag erhalten. Die sog. Unabhängige Kommission für Anerkennungsleistungen (UKA), die alles andere als unabhängig ist, bei deren Besetzung nur eine einzige, von der Kirche ausgewählte Person der Opferseite Mitspracherecht hatte (deren Mitglieder von der Kirche ausgewählt wurden), behauptet, man richte sich bezüglich der Höhe nach dem, was die Gerichte in solchen Fällen geurteilt hätten. Das ist vollkommen falsch, denn noch nie hatte ein Gericht über so ungeheuerliche Verbrechen überhaupt und zudem begangen von Priestern zu urteilen gehabt. Gerichte hatten überdies auch immer nur Einzeltaten zu beurteilen, nicht aber Fälle, in denen ein Opfer 100-fach über viele Jahre hinweg vergewaltigt worden ist.

Das Antragsverfahren ist ein geheimer Vorgang: Die Opfer werden nicht angehört, ihnen wird kein rechtliches Gehör gewährt, sie haben keinen Einblick in die Akten, um zu erfahren welche Kriterien die UKA für ihre Entscheidung anwendet. Die sehr unterschiedlichen Zahlungen bleiben für jeden einzelnen nicht nachvollziehbar.

Wir werden auch arglistig getäuscht, wenn die Kommission, deren Vorsitzende eine ehemalige OLG-Richterin ist, auf eine mögliche Verjährung hinweist. Im Zivilrecht tritt eine Anspruchsverjährung nur ein, wenn sich der in Anspruch Genommene darauf beruft. Das kann die Kirche aber nicht. Jahrzehntelang hat z.B. die Diözese Köln das staatliche Recht missachtet; die Menschenwürde (Art. 1, Abs. 1 GG) mit Füßen getreten. Würden sich die Kirche oder ein Bischof nun plötzlich an das weltliche Recht erinnern, dieses für sich in Anspruch nehmen und sich darauf berufen und mit der Verjährungseinrede Schmerzensgeld-/Schadensersatzansprüche mit Hilfe der Gerichte abwehren wollen, dann wäre das rechtsmissbräuchlich. Jedes Gericht würde die Einrede abweisen.

Die Unabhängige Kommission muss sofort einer staatlichen Aufsicht unterliegen. Die Regelung der Schmerzensgelder und Entschädigungen müssen von einer neutralen staatlichen Ombudsstelle im Konfliktfall überprüft und in einer unabhängigen Gerichtsbarkeit geklärt werden.

Betroffenen muss ein Recht auf Vernetzung und Selbstorganisation in Form eines finanzierten Dachverbandes zugesprochen werden. Durch das systematische hinwegschauen durch Kirche und Politik, in der Missachtung des Grundgesetzes und des Kanonischen Rechts, liegt eine hohe Schuld in derer Verantwortung an uns ehemaligen Kindern.

Wir fordern, dass der Staat in allen nicht glaubensgenuinen Angelegenheiten die Kontrolle über die Kirche übernimmt. Wenn nicht, werden auch in Zukunft Täter unbehelligt agieren, die Aufarbeitung verschleppt und Betroffene nie eine Chance auf Heilung zugesprochen bekommen.

Jens Windel
Matthias Katsch
Antonius Kock
Andreas Stiller
Bernd Held
Christian Fischer
Karl Haucke
Martin Schmitz
Patrick Bauer
Winfried Ponsens
Christiane Kurpik
Norbert Thewes
Rolf Kraus
Francesco Valvo
Michael Schoppe
Sylvia Witte
Gerhard Kneip
Dieter Montad
Günter Rausch
Dieter Beckmann
Martin Münch
Dr. Dieter Viefhues
Jan Kleymann
Agnes Wich

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