Zur Frage der Freiverantwortlichkeit aus juristischer Sicht

Im Zweifel gegen den Angeklagten?

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Das Gebäude des Berliner Verwaltungsgerichts
Berliner Verwaltungsgericht

Die beiden Urteile gegen Dr. Spittler und Dr. Turowski haben insbesondere im ärztlichen Bereich für Verunsicherung gesorgt. Beide wurden wegen Totschlags in mittelbarer Täterschaft zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. In mittelbarer Täterschaft deshalb, weil nach Auffassung der beiden Landgerichte, aufgrund der fehlenden Freiverantwortlichkeit beziehungsweise Ambivalenz der Freitodwilligen der jeweilige freitodbegleitende Arzt die Tatherrschaft innehatte. In beiden Verfahren ging es um die zentrale Frage, ob die beiden psychisch kranken Suizidenten freiverantwortlich gehandelt haben, also zum Zeitpunkt der ärztlichen Freitodbegleitung einsichts- und urteilsfähig waren. Diese Rechtsfrage wird derzeit nicht nur unter Juristen, sondern auch unter Fachärzt:innen (Psychiater:innen etc.) und Medizinethiker:innen intensiv diskutiert.

Was ist unter dem Begriff Freiverantwortlichkeit zu verstehen? Nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung liegt Einsichts- und Urteilsfähigkeit als eine wesentliche Voraussetzung der Freiverantwortlichkeit dann vor, wenn der Freitodwillige die Urteilskraft aufweist, um die Bedeutung und Tragweite seines Entschlusses zu erkennen und danach zu handeln. Dies setzt eine umfassende Aufklärung der freitodwilligen Person voraus.

Eine umfassende Aufklärung, so das Bundesverfassungsgericht, ist dann gegeben, wenn die freitodwillige Person "über sämtliche Informationen verfügt (…) [um] auf einer hinreichenden Beurteilungsgrundlage realitätsgerecht das Für und Wider [des Entschlusses zum Suizid] abzuwägen." Erforderlich sei eine Suizidentscheidung "in Kenntnis aller erheblichen Umstände und Optionen". Hinzukommen muss die Mangelfreiheit des Freitodwillens sowie die innere Festigkeit und Dauerhaftigkeit des Entschlusses.

Selbstredend haben auch psychisch erkrankte Menschen das grundgesetzlich garantierte Recht auf ein selbstbestimmtes Sterben. Allerdings bedarf es bei konkreten Anhaltspunkten für eine krankheitsbedingt fehlende Einsichts- und Urteilsfähigkeit eines zusätzlichen fachärztlichen Attests beziehungsweise Gutachtens, welches dem Freitodwilligen trotz seiner psychischen Erkrankung eindeutig die zwingend notwendige Einsichts- und Urteilsfähigkeit attestiert.

Für die Feststellung der Freiverantwortlichkeit sollten daher nicht die Aussagen "in dubio pro vita" oder "in dubio pro mortem", sondern "in dubio pro libertate" oder "in dubio pro dignitate" entscheidungs- und handlungsorientierend sein. Denn nicht der Schutz des Lebens, sondern die Würde eines Menschen ist das höchste und unantastbare Gut im Sinne unseres Grundgesetzes. Die Rechtfertigung für die Inanspruchnahme einer professionellen Freitodbegleitung ist daher nicht Krankheit oder Lebenssattheit, sondern die Freiheit.

Die Würde ist immer dann in Gefahr, wenn der Staat versucht, dem Menschen zu nehmen, was er hat: die Autonomie und Selbstbestimmung über sein Leben und sein Sterben. Solchen staatlichen Bestrebungen, die nicht selten in ein paternalistisches Mäntelchen gekleidet sind, wie beispielsweise die so genannte Fürsorge- und Schutzpflicht des Staates, gilt es eine eindeutige Absage zu erteilen.

Ähnliches gilt für gesellschaftliche Gruppen, wie zum Beispiel die Kirchen, Parteien, ärztliche Organisationen, Wissenschaftler:innen jeglicher Couleur oder selbsternannte Lebensschützer:innen, die die Würde des Menschen nach ihren weltanschaulichen, religiösen oder ideologischen Überzeugungen definieren und meinen, dieser Definition nun allgemeine Geltung verschaffen zu müssen. Dem steht jedoch unser Grundgesetz entgegen, das den Menschen auch davor schützt, zum Objekt der Menschenwürdedefinition Einzelner zu werden.

Auf den oben dargestellten höchstrichterlichen Vorgaben zur Frage der Freiverantwortlichkeit basiert das Sicherheitskonzept der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS) im Hinblick auf die Vermittlung von Freitodbegleitungen für antragstellende Mitglieder, das die Einhaltung hoher medizinischer und juristischer Sicherheitsstandards gewährleistet.

Es ist daher kein Zufall, dass es bei den über tausend von der DGHS vermittelten Freitodbegleitungen bis dato zu keinem ernsthaften staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren gekommen ist. Ebenso wenig, dass der Präsident der DGHS in dem Strafprozess gegen Herrn Dr. Turowski als Zeuge geladen worden ist, um das Sicherheitskonzept näher zu erläutern.

Einsichts- und Urteilsfähigkeit

Das Bundesverfassungsgericht fordert im Rahmen der professionellen Freitodbegleitung weder die Teilnahme eines Arztes/einer Ärztin, geschweige denn eines Psychiaters/einer Psychiaterin. Die grundsätzliche Einführung einer fachärztlichen (psychiatrischen) Begutachtung der Einsichts- und Urteilsfähigkeit der freitodwilligen Person setzt nicht nur bedenkliche Hürden im Hinblick auf die Umsetzung des Freitodwunsches, sondern führt zu einer unzulässigen Umkehr der Beweislast.

Daher sei nochmals betont: Es darf keine Verpflichtung geben, psychiatrische Untersuchungen beziehungsweise Begutachtungen nachweisen zu müssen, die dem Freitodwilligen bestätigen, dass er einsichts- und urteilsfähig ist, denn dies wird in unserem Rechtssystem bei jedem erwachsenen Menschen unterstellt. Nur dort, wo konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Einsichts- und Urteilsfähigkeit möglicherweise nicht mehr gegeben sein könnte, ist eine fachärztliche Untersuchung beziehungsweise die Vorlage eines fachärztlichen Attests angezeigt und verhältnismäßig.

Darüber hinaus kann nicht oft genug betont werden, dass eine psychische Krankheit das Recht auf selbstbestimmtes Sterben nur dann ausschließt, wenn diese Krankheit die Freiverantwortlichkeit nachweislich beeinträchtigt. Ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben besteht auch, wenn die psychische Erkrankung der Anlass des Sterbewunsches ist. Eine inhaltliche Wertung der Gründe des Sterbewunsches verbietet sich.

Des Weiteren sind die Bedenken von Putz und de Ridder im Hinblick auf eine Personalunion zwischen der das Zweitgespräch führenden Ärztin und deren spätere Mitwirkung an der Freitodbegleitung nicht nachvollziehbar, zumal noch eine weitere freitodbegleitende Person (Jurist:in) während des gesamten FTB-Verfahrens involviert ist. Denn das Vier-Augen-Prinzip ist zentraler Bestandteil des von der DGHS entwickelten Sicherheitskonzepts. Sowohl von den Freitodwilligen als auch von deren Angehörigen bekommt die DGHS direkt und indirekt zurückgemeldet, dass man durch die beiden Vorgespräche die beiden Freitodhelfer kennenlernen konnte und so ein Vertrauensverhältnis zu diesen aufbauen konnte. Die logische Konsequenz zwischen einer personellen Trennung wäre, dass am Tag der Freitodbegleitung zwei völlig fremde Menschen an der Tür stünden, um die Freitodbegleitung durchzuführen. Ganz abgesehen davon, dass dies schon aus personellen Gründen nicht möglich und aus der Sicht des Freitodwilligen und dessen Angehörigen auch nicht wünschenswert ist.

Die DGHS wird also weiterhin an ihrem seit nunmehr vier Jahren in der Praxis bewährten und allgemein anerkannten Sicherheitskonzept, das weit über die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts hinausgeht, festhalten.

Das Berliner Urteil

Im Fall Turowski wurde die Verurteilung durch das Landgericht Berlin I aufgrund der angeblich fehlenden Willenskonstanz beziehungsweise einer vorhandenen Ambivalenz am Tag der zweiten, erfolgreich durchgeführten Freitodbegleitung begründet. Bei der ersten, nicht erfolgreich durchgeführten Freitodbegleitung unterstellte das Landgericht das Vorliegen der Kriterien der Freiverantwortlichkeit, zur der ja neben der Einsichts- und Urteilsfähigkeit auch die Willenskonstanz gehört. Daher sprach das Landgericht Herrn Dr. Turowski hinsichtlich der ersten, nicht erfolgreichen Freitodbegleitung frei, während es ihn hinsichtlich der zweiten, erfolgreichen Freitodbegleitung zu einer Freiheitsstrafe verurteilte.

Aus meiner Sicht vermag die bis dato nur mündlich vorliegende Urteilsbegründung nicht zu überzeugen. Zwar hat der vom Gericht beauftragte psychiatrische Sachverständige festgestellt, dass der Freitodwille der Suizidentin krankheitsbedingt beeinträchtigt gewesen sei, dass er jedoch keine die Freiverantwortlichkeit ausschließenden Kriterien bei der Suizidentin feststellen konnte und auch die vom Gericht unterstellte Ambivalenz nicht als eindeutiger Beleg gegen den freiverantwortlichen Willen gewertet werden kann.

Dabei ist den Richtern der 40. Strafkammer zugute zu halten, dass die Frage, wie denn die "innere Festigkeit und Zielstrebigkeit" eines Suizidwunsches zu ermitteln ist und ob dieses Erfordernis neben jenes einer von akuten psychischen Störungen freien Entscheidung tritt oder gerade Kennzeichen des Fehlens einer solchen Störung sein soll, höchstrichterlich noch nicht entschieden worden ist.

Jedenfalls hätte es mit der Feststellung des psychiatrischen Sachverständigen nahegelegen, Zweifel an der Schuld des Angeklagten aufkommen zu lassen und daher gemäß dem Rechtssatz "in dubio pro reo" den Angeklagten freizusprechen. Dies ist jedoch nicht geschehen.

Zum Kommentar des Richters

Es mag die inkonsistente und daher wenig überzeugende mündliche Urteilsbegründung sein, die den Vorsitzenden Richter der 40. Strafkammer des Landgerichts Berlin I zu der ungewöhnlichen Aussage veranlasst hat, dass die Kammer es begrüße, wenn der Verurteilte Rechtsmittel einlege, damit die maßgebenden Rechtsfragen geklärt würden; die bisherige Rechtsprechung, so der Vorsitzende Richter, sei "im Hinblick auf Leitplanken dürftig, der Gesetzgeber selbst sei untätig".

Zur kritischen Anmerkung des Vorsitzenden Richters der 40. Strafkammer im Hinblick auf die Untätigkeit des Gesetzgebers sei angemerkt, dass alle bis dato vorgelegten Gesetzesentwürfe die Frage der Freiverantwortlichkeit nicht ausdrücklich gesetzlich geregelt hatten. Selbst wenn eine entsprechende Klärung des Begriffs der Freiverantwortlichkeit gesetzlich geregelt werden sollte, so werden die Gerichte nicht umhinkommen, für jeden rechtlich zu entscheidenden Einzelfall das Vorliegen der Freiverantwortlichkeit individuell zu prüfen und eine entsprechende verfassungskonforme Auslegung dieses Begriffs vorzunehmen.

Die beiden verurteilten Ärzte werden selbstredend in die Revision gehen. Die DGHS hat übrigens beide Ärzte sowohl ideell als auch finanziell unterstützt.

Dieser Artikel erschien zuerst in der DGHS-Vereinszeitschrift Humanes Leben – Humanes Sterben, Ausgabe 2024-3.

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