Hygienevorschriften versus Glaubensgebote: Hijab und Burka in indischen OP-Sälen?

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Internationaler Standard: Aus Gründen der Hygiene arbeiten Ärzt*innen im OP-Saal mit kurzen Ärmeln und reinigen ihre Unterarme vorab sorgfältig.
Arzt mit kurzen Ärmeln reinigt seine Unterarme

Eine kontroverse Debatte entfaltet sich derzeit im indischen Bundesstaat Kerala, die das Spannungsfeld zwischen medizinischer Hygiene und religiöser Freiheit aufzeigt: Eine Gruppe muslimischer Studentinnen fordert, in Operationsräumen langärmelige OP-Jacken tragen zu dürfen. Die Ärzteschaft spricht sich gegen eine Änderung des weltweit bewährten Infektionsschutzes aus. Doch der Druck der Muslime wächst, ihre Glaubenspraxis auch im medizinischen Umfeld wahrnehmen zu können.

In Indien wird derzeit ein Richtungsstreit darüber geführt, ob für Musliminnen die Hygienevorschriften im Operationssaal geändert werden sollen. Sieben Studentinnen aus drei Jahrgängen des Government Medical College in Thiruvananthapuram fordern in einem Brief von der Direktorin, dass ihnen als Ersatz für den Hijab das Tragen langärmeliger OP-Hemden und OP-Hauben gestattet wird. Sie argumentieren, dass das Tragen eines Hijabs für gläubige muslimische Frauen verpflichtend sei und es ihnen die Hygienevorschriften für OP-Räume erschwerten, den eigenen religiösen Überzeugungen nachzukommen.

In Indien wird das global übliche Infektionsschutzprotokoll angewendet, wonach das medizinische Personal in einem OP-Saal kurzärmelige Hemden tragen muss. Diese Anordnung soll sicherstellen, dass sich vor einem chirurgischen Eingriff und bei der Assistenz das medizinische Personal in mehreren Waschgängen die Hände bis zum Ellbogen unter fließendem Wasser gründlich säubern kann.

Die Infektionsschutzmaßnahmen in ihrem Krankenhaus entsprächen der weltweit gängigen und bewährten Praxis, erklärte daher die Direktorin den Studentinnen. Um den um ihre Religionsfreiheit besorgten Musliminnen aber zu zeigen, dass sie die Forderung ernst nimmt, setzte die Direktorin ein Expertengremium zur Prüfung des Antrags ein.

In diesem Sommer wurde die Forderung der Studentinnen publik und führte zu einer Debatte in den indischen Medien. Die New Indian Express berichtete, dass sich Vertreter der indischen Ärzteschaft entschieden gegen die Idee aussprächen, die Kleiderordnung zu ändern. Jeder Verstoß gegen das Infektionskontrollprotokoll, insbesondere in Operationssälen, gehe zu Lasten der Sicherheit der Patient*innen. Sollen deren Gesundheit und Sicherheit oberste Priorität haben, muss der Operationssaal ein hochsteriler Raum bleiben.1

Eine andere medizinische Meinung wird jedoch auch vertreten: Der Brief der Studentinnen weist im Wording starke Ähnlichkeiten mit der Webseite "Hijab in the OR" ("Hijab in den Operationsraum") auf, die von der Gynäkologin und Chefärztin des Ascension St. Joseph's Hospital in Chicago betrieben wird. Auf ihrer Webseite und in landesweiten Vorträgen setzt sich die Ärztin dafür ein, den Hijab im Operationssaal tragen zu dürfen.

Ob es sich um eine Einzelmeinung einer selbst betroffenen Expertin handelt oder auch andere Mediziner auf diesen Zug aufspringen und Kompromisse beim Patient*innenschutz einfordern werden, wird die Zukunft zeigen. Der Druck der muslimischen Minderheit in Indien ist sehr stark. Letztes Jahr musste ein indischer Bundesstaat für drei Tage High Schools und Colleges schließen, nachdem es zu Aufständen wegen des Verbots des Tragens von Hijabs im Klassenzimmer gekommen war. Die Nobelpreisträgerin Malala Yousafzai, die 15 Jahre alt war, als sie einen Angriff der Taliban in Pakistan überlebte, weil sie sich für das Recht von Mädchen auf Bildung eingesetzt hatte, meldete sich via Twitter zu Wort. Sie verurteilte das Hijab-Verbot im Klassenzimmer. Es sei "entsetzlich", denn Frauen würden nach wie vor "objektiviert", weil sie weniger oder mehr trügen.

Musliminnen in Indien stützen sich auf die Verfassung ihres Landes, die ihnen Religionsfreiheit gewährt. Die Richter des Obersten Gerichtshofs des Bundesstaates haben im Oktober letzten Jahres eine "Hijab-Entscheidung" einem höheren Gremium vorbehalten.2 Die zunächst zuständigen Richter konnten sich nicht einigen. Ein Richter war der Ansicht, der Hijab sei für den Islam nicht "wesentlich", der andere behauptete, dass das Tragen des Hijabs eine Frage der freien Wahl bleiben müsse.

Noch setzen sich Mediziner*innen und Wissenschaftler*innen in Indien erfolgreich dafür ein, den Operationsraum frei von Zwängen durch Religion und Glauben zu halten. Sie halten nach wie vor an den etablierten Infektionsschutzrichtlinien fest. Wenn sich aber die Richter im Falle des Klassenraums den Hijab-Befürwortern anschließen, ist es sehr wahrscheinlich, dass Musliminnen, durch den Erfolg angespornt, diese Möglichkeit auch für den Operationssaal gerichtlich einfordern. Sollte dann entschieden werden, dass für die Religionsfreiheit Kompromisse beim Hygieneschutz eingegangen werden müssen, wer kann für die Zukunft noch ausschließen, dass es beim Hijab bleibt? Andere Musliminnen könnten darauf pochen, Niqab oder sogar Burka im Operationssaal tragen zu dürfen. Es bleibt zu hoffen, dass es nicht dazu kommen wird und Richter die Gefahr rechtzeitig erkennen. Der Operationssaal ist kein Ort für Kompromisse, die Gewährleistung der Patientensicherheit darf unter keinen Umständen wegen religiöser Praktiken gefährdet werden.

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1The Times of India, Artikel von TNN vom 28.06.2023; Indian Flash, Artikel von Abhiram vom 30.06.2023; First Post, Artikel von FP Explainers vom 29.06.2023.

2BBC Hindi, Artikel von Imran Qureshi vom 9.2.2022.