Wie steht es um den christlichen Extremismus in Deutschland?

Hinknien, jetzt kommt Papa

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Als Priester darf man immer eine Art Phallus in die Luft halten und Wasser durch die Gegend spritzen, und alle müssen dabei ernst bleiben: Raketenstart in Baikonur.

Ein neues Buch untersucht vier Gruppen wie die "Partei Bibeltreuer Christen" oder die "Zeugen Jehovas": Sind sie als extremistisch einzuordnen? Das Buch gibt zunächst Entwarnung. Denn keine der untersuchten Gruppen predigt explizit Gewalt. Aber Moment mal - was ist das eigentlich, Gewalt? Sind damit nur Hiebe und Waffenanwendung gemeint? Der gesamte Erfolg der monotheistischen Religionen lässt sich ja als ein Großprojekt seelischer Gewaltausübung begreifen.

Es gibt keinen christlichen Extremismus in Deutschland.

So steht es im Buch natürlich nicht. Alexander Kühn: "Christlicher Extremismus in Deutschland". In seiner Doktorarbeit hat Politikwissenschaftler Kühn vier deutsche Gruppierungen untersucht, die sich auf den biblischen Glauben berufen: Sind sie als extremistisch einzuordnen? Womit ein unklarer Begriff ins Spiel gebracht ist und die Geisteswissenschaft sich Arbeit geschaffen hat. Denn was heißt am Ende "extremistisch"? Kühn hilft sich mit einem einfach handhabbaren Modell. Alle Gruppen werden auf die drei Punkte Ideologie, Organisation und Strategie abgeklopft, im Kern also auf die Fragen: Ist das Gebilde nach demokratischen Grundsätzen organisisert? Sind seine Werte noch mit dem Grundgesetz vereinbar? Und: Wird Gewalt propagiert oder als legitimes Mittel gesehen? Die Empirie speist sich dabei offenbar nicht aus Insiderkenntnissen, sondern weitgehend aus öffentlich zugänglichen Verlautbarungen dieser Gruppen, also Broschüren, Flugblättern und sonstigen Publikationen.

Die programmatischen Phobien und Neurosen aller vier Gruppierungen (Partei Bibeltreuer Christen, Christliche Mitte, Priesterbruderschaft St. Pius, Zeugen Jehovas) sind dabei erstaunlich ähnlich, auch und gerade auf dem Gebiet der Sexualität: Die muss dringendst eingeschränkt werden, homosexuelle Spielarten am besten ganz unterbunden. Sexualität diene der Fortpflanzung im Rahmen der ewigen Kleinfamilie, die Frau sei ihrem Mann in letzter Konsequenz untertan, kurz: Gott, der Adam inklusive männlicher Geschlechtsorgane nach seinem eigenen Vorbild schuf, dient einmal mehr als Mittel zum Zweck des männlichen Geschlechts, sich das weibliche untertan zu machen.

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Die Ausformung der Ideologien unterscheidet sich dabei in Details, oft ist auch eine lobenswerte soziale Komponente erkennbar, oder bei den Zeugen Jehovas etwa ein geradezu fortschrittlich zu nennender Antirassismus. Am Ende hat Kühn dann nach dreihundert Seiten eine kleine kreuztabellarische Einordnung der Gruppen erarbeitet, anhand der Kriterien "Ideologie" (Widerspricht sie dem freiheitlichen Menschenbild, das wir haben?), "Organisation" (Ist die Struktur der Gruppe transparent und orientiert sie sich an demokratischen Grundsätzen?) und "Strategie" (Wird Gewalt als Mittel zur Durchsetzung der Ideologie propagiert oder zur Anwendung gebracht?) Die "Partei Bibeltreuer Christen" (2015 aufgegangen im "Bündnis C – Christen für Deutschland") kommt als einzige mit einer reinen Weste davon: So vermufft und verstockt ihre Vorstellungen auch sein mögen, so war sie doch eine bekennend demokratische Organisation. Alle anderen drei Gruppen stehen ein wenig auf der Kippe in Richtung dessen, was hier einen vollumfänglichen Extremismus ausmachen würde. Was sie letzlich jedoch alle rettet: Auch wo die oft ja extrem  gewaltbereite biblische Rhetorik angenommen wird, auch wo die Kreuzzüge des Mittelalters martialisch für gut und richtig gehalten werden, befürwortet keine der genannten Gruppen erkennbar Gewalt zur Durchsetzung ihrer Ziele. Einschränkend merkt Kühn an: "Dem strengen Glaubenssystem der Zeugen Jehovas, das zur gegenseitigen Bespitzelung anhält und bei Versündigungen Sanktionen vorsieht, die bis zur sozialen Isolation reichen, kann die Anwendung von psychischer Gewalt attestiert werden."

Plumps, da liegt das Kind im Brunnen. Alle untersuchten religiösen Gruppierungen werden als nicht- oder nur semi-extremistisch eingestuft, und allein ihre scheinbare Gewaltlosigkeit rettet ihnen hier den Tag. Jedoch: Warum endet der Gewaltbegriff beim Einsatz von physischer Gewalt? Sind nicht Schläge etwas, wogegen man sich noch leichter abgrenzen und immunisieren kann als seelische Gewalt? Etwa gegen Kinder - durch Eltern, Lehrer, Priester?

Um darüber nachzudenken, muss zunächst mal eine Definition her. Schauen wir also kurz bei gewaltinfo.at rein, die kennen sich aus mit seelischer Gewalt:

"Isolation und soziale Gewalt zielen darauf ab, die betroffene Person zu isolieren (z.B. durch ein Kontaktverbot zur Familie oder zu Freund/innen, das Einsperren zu Hause, das Absperren des Telefons usw.). Bei Kindern zählt zu diesem Bereich auch der Liebesentzug. Drohungen, Nötigungen und Angstmachen sind häufige Formen von psychischer Gewalt."

Oder warum fragen wir nicht die katholische Kirche selbst? In Österreich hat sie sich aus gegebenen Anlässen eine "Rahmenordnung" in diesen Fragen verpasst, nachdem immer mehr brutale Akte der Unterdrückung und Nötigung ans Tageslicht kamen, die von Religionsverkündern in religiösen Einrichtungen an Kindern und Jugendlichen begangen wurden. In der Rahmenordnung, die den gruseligen Namen "Die Wahrheit wird euch frei machen" trägt, heißt es: "Unter psychischer Gewalt wird anhaltende emotionale Misshandlung anderer, in diesem Zusammenhang von Kindern, Jugendlichen und besonders schutzbedürftigen Personen verstanden. Dazu gehören Verhaltensweisen, die ihnen das Gefühl von Ablehnung, Ungeliebtsein, Herabsetzung, Minderwertigkeit, Wertlosigkeit oder Überfordertsein vermitteln, sowie (…) Einschüchterung, Erniedrigung, (…) emotionales Erpressen, Aufbürden unangemessener Erwartungen (...)"

So, und jetzt blättern wir noch mal ein paar Seiten zurück. Die Rahmenordnung wird nämlich nicht nur dem "Heiligen Geist" empfohlen, sondern auch noch mit einem ausufernden Gebet an den lieben Gott eingeleitet, welches sich aber, da der liebe Gott ja eh alles weiß und alles gelesen hat, doch eigentlich als Mahnung an den menschlichen Leser wendet. Auszugsweise klingt das dann so:

"Dreieiniger Gott, Du hast unsere Mütter und Väter aus der Knechtschaft in die Freiheit geführt und sie die 10 Gebote eines guten Lebens gelehrt. (…) Dennoch werden wir schuldig, vor Dir und an einander. Ungeheure Schuld ist in diesen Wochen offenbar geworden. Es ist Schuld Einzelner; es ist Schuld geronnen in Strukturen, Verhaltens- und Denkmustern; es ist Schuld aus unterlassener Hilfe und nicht gewagtem Widerspruch. (…) Einige von uns haben das Vertrauen von Kindern ausgenützt und zerstört. (…) Einige von uns sind schuldig geworden am inneren Tod anderer Menschen. (…) Einige von uns haben sexuelle Gewalt angewendet. (…) Wir bekennen, dass wir die Wahrheit nicht erkennen wollten, dass wir vertuscht und ein falsches Zeugnis gegeben haben. Einige von uns konnten dadurch andere und sich selbst weiter belügen und ihre Verbrechen fortführen. Wir bekennen, dass wir über andere verfügen und sie besitzen wollten. (…) Du, Christus, sagst, dass Du unsere Schuld auf Dich genommen hast. Doch heute bitten wir Dich: Lass sie uns noch ein wenig. Hilf uns, ihr nicht zu schnell auszuweichen, mach uns bereit, sie anzunehmen: jeder die eigene Schuld und wir gemeinsam die gemeinsame. Und dann gib uns Hoffnung im Gericht: Hoffnung auf die neue Freiheit aus der Wahrheit und auf die Vergebung, auf die wir kein Anrecht haben. Amen."

Das kann man mal ein paar Sekunden auf sich wirken lassen. Oder noch mal sich ganz klar machen: Mit der Autorität eines ausgedachten Gottes im Rücken, ohne die sie nichts wären, haben Menschen andere Menschen ausgenutzt und ihnen mal die handelsübliche, mal besonders perfide und gewissenlose Gewalt angetan. Sie konnten es nur tun, weil ihre Religion den Menschen eine Demut und Ergebenheit gegenüber der ausgedachten Gottheit abverlangt. Um zu büßen, wirft man sich nun also wieder im bekannten salbungsvollen Tonfall vor dem Gott auf den Boden, und wieder einmal beschwört man unter Zuhilfenahme dieser allmächtigen Vaterfigur einen Gruppenzwang, der letztlich Opfer und Täter vermengt: Hier sind alle schuld. Vor ihrem Gott. Hier entschuldigen sich nicht Täter bei Opfern. Man entschuldigt sich beim Obermacker, in derselben Unterwürfigkeit und Hierarchiegläubigkeit, die die Grundlage all dieser Taten waren.

Seelische Gewalt ist ein komplexes Thema. Für einen entspannten Moment kann man aber auch einfach mal einen Blick in die "Psychologie Heute" werfen. Da steht dann knackig: "Schuldgefühle auszulösen ist dann auch eines der Hauptmittel emotionaler Erpressung." Moment mal, erinnert uns das nicht an etwas?

Will man die christliche Religion auf ihr Geschäftsmodell und ihren ideologischen Kern zuspitzen, so lässt sie sich gut begreifen als eine gigantische Propagandamaschine zur Erzeugung und Nutzbarmachung eines schlechten Gewissens. Sie gründet auf der absurden Apfelgeschichte aus dem Paradies, die niemand mehr nachvollziehen oder nachempfinden kann, und die vielleicht gerade deshalb umso wirkmächtiger ist als Quelle eines vagen patriarchalen Grundgefühls: Oh, ich bin dem Papa etwas schuldig. Geupdatet wurde die Story dann durch eine neue Schuld-Induktionsgeschichte: Ein super lieber Typ, der nur Gutes wollte und der außerdem gleichzeitig der liebe Gott war, ist brutal hingerichtet worden – von "den Menschen"! Jeder von uns ist also schuld, einfach nur durch Artzugehörigkeit, weil irgendwo im Mittleren Osten mal jemand unschuldig hingerichtet wurde (was wahrscheinlich jeden Tag irgendwo auf der Erde, Gott verhüte es bitte, passiert). Seit nun bald zwei Jahrtausenden tragen die Christen ihre Kreuze vor sich her, hängen ihre gemarteten Erlöser an alle Wände, singen stumpfsinnige, halbdepressive Lieder, die davon handeln, wie dankbar man dem Herrgott sein muss, dass er … ja, für was eigentlich?

Seine Leistungen sind nie recht nachvollziehbar, greifbar aber ist überall und in allem: Wir leben in Schuld. Vor ihm. Der immer nur Gutes wollte! Darauf basiert das ganze, weltumspannende Gehirnwäschesystem der Kirchen. Meistens ist es so gewesen, dass, wer da nicht mitzumachen gedachte, sozial isoliert – und vom lieben Gott mit dem Höllenfeuer bedroht wurde.

Mehr seelische Gewalt geht eigentlich kaum. In diesem Glaubenssystem werden aber seit Jahrhunderten Kinder erzogen, von Eltern, Kirchen, Schulen. Du bist dem Herrn Papa, der alles sehen kann und dem du niemals entkommen kannst, etwas schuldig. Du hast ihm, weil er zwar allmächtig, aber doch auch sehr, sehr empfindlich ist, total weh getan. Auch wenn du noch lange  nicht geboren warst. Und in der Hölle braten willst du doch nicht, Hase, hm?

Gut, wir wollen fair sein: Von der Hölle ist nicht mehr wirklich die Rede. Das ist doch der bizarren Vorstellungen eine zuviel. Weiterhin aber werden Kinder und Jugendliche auf die Knie gezwungen vor einem ausgedachten Gott und einem real existierenden Priester oder sonstigem Handlanger einer bronzezeitlichen patriarchalen Ideologie, heute wie früher wird ihnen eine Haltung der Dankbarkeit und Demut eingeimpft, von der sie nichts haben, die aber dafür sorgt, dass das Glaubenssystem sich perpetuiert: Gott ist der Herr. Im schlimmsten Fall ist er ein grauenvoller Sadist und Choleriker, im besten Fall komplett distanziert und achtlos. Eine Frau jedenfalls ist er auf gar keinen Fall. Gott hat keinen Inhalt darüber hinaus. Er hat Liebe predigen lassen und hat die Erde erobert mit Feuer, Schwert und Neurose, in seinem Namen wurde und wird grausam unterjocht, gequält und getötet. Seine Geschäftsgrundlage ist die seelische Gewalt. Von einem aufgeklärten, friedliebenden, emanzipierten Standpunkt aus ist jedes Bekenntnis zum Monotheismus extremistisch.