Eine Antwort auf Ayaan Hirsi Alis Erklärung "Warum ich jetzt Christin bin"

Warum ich kein Christ bin

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Der US-amerikanische Skeptiker Michael Shermer.

Die bekannte Frauenrechtlerin, Islamkritikerin und Atheistin Ayaan Hirsi Ali erklärte sich vor wenigen Tagen öffentlich zur Christin. Michael Shermer, Wissenschaftshistoriker und Gründer der Skeptics Society, antwortete seiner Freundin und Kollegin Ali in einem Offenen Brief, den der hpd hier in einer ins Deutsche übersetzen Fassung wiedergibt.

Am 11. November 2023 veröffentlichte meine Freundin, Kollegin und Heldin Ayaan Hirsi Ali eine Erklärung mit dem Titel "Warum ich jetzt Christin bin".

Ich kenne Ayaan seit vielen Jahren. Sie war zu Gast in meinem Podcast und ich in ihrem Podcast. Wir sind gemeinsam auf Konferenzen aufgetreten. Ich habe alle ihre Bücher gelesen und unterstütze ihren heldenhaften Einsatz für die Rechte von Frauen, für Bürgerrechte, für die Meinungs- und Religionsfreiheit sowie ihr mutiges Eintreten gegen Intoleranz, Bigotterie und Hass, ob religiös oder nicht. Ich werde nie vergessen, wie sie am Occidental College sprach, als ich dort Professor war, und wie zwei muslimische Frauen, die den Hijab trugen, ihr in der Fragerunde Islamophobie vorwarfen, weil sie den Islam zu Unrecht als eine Religion der Gewalt bezeichnet habe. "Warum muss ich dann mit bewaffneten Sicherheitsleuten reisen, die mich vor den Todesdrohungen schützen, die ich von Mitgliedern meiner eigenen Religion, dem Islam, erhalte?", entgegnete sie dezent und mit der für sie typischen Souveränität.

Ayaan nimmt einen stolzen Platz im Pantheon der großen Persönlichkeiten ein, die den Mut hatten, ihre Überzeugungen zu vertreten und sogar ihr eigenes Leben im Namen der universellen Grundsätze von Gerechtigkeit und Freiheit aufs Spiel zu setzen.

Beispielbild
Ayaan Hirsi Ali (© Gage Skidmore via Wikimedia Commons, CC BY-SA 3.0

Nichts von dem, was Ayaan in ihrem aktuellen Essay geschrieben hat, ändert etwas an meiner Einschätzung, dass sie eine heldenhafte Figur ist. Ich glaube einfach, dass sie sich irrt. Wir alle irren uns in vielen Dingen. Vielleicht liege ich hier falsch und sie hat recht. Aber ich denke, Vernunft und Geschichte beweisen das Gegenteil. Lassen Sie mich im Geiste des Respekts vor dem, was hier auf dem Spiel steht, mit dem Untertitel von Ayaans Essay beginnen: "Der Atheismus kann uns nicht für einen zivilisatorischen Krieg rüsten". Sie hat Recht, aber nicht so, wie sie denkt.

Der Atheismus an sich kann niemanden für irgendetwas rüsten, weil er kein Glaubenssystem und keine Weltanschauung ist. Atheismus bedeutet lediglich, dass man nicht an Gott glaubt. Punkt. Es ist eine rein negative Aussage, ein Indikator dafür, dass jemand nicht glaubt. Ein fehlender Glaube kann niemals die Grundlage für ein Glaubenssystem sein. Ich bin Atheist in demselben Sinne, in dem ich ein A-Supernaturalist oder ein A-Paranormalist bin. So etwas wie das Übernatürliche oder das Paranormale gibt es nicht. Diese Bezeichnungen sind lediglich sprachliche Platzhalter für Geheimnisse, die wir noch nicht erklären können. Sobald sie erklärt sind, gehen sie in den Bereich des Natürlichen und Normalen über. Wenn es einen Bereich des Übernatürlichen oder Paranormalen gibt, gibt es für ein natürliches und normales Wesen wie uns keine Möglichkeit, ihn wahrzunehmen oder zu verstehen.

Aus diesem Missverständnis darüber, was Atheismus ist, leitet Ayaan ab, dass er den Widrigkeiten aktueller Geschehnisse nicht gewachsen ist:

"Die westliche Zivilisation wird von drei unterschiedlichen, aber miteinander verbundenen Kräften bedroht: dem Wiederaufleben des Autoritarismus und Expansionismus der Großmächte in Form der Kommunistischen Partei Chinas und Wladimir Putins Russland; dem Aufstieg des globalen Islamismus, der eine riesige Bevölkerung gegen den Westen zu mobilisieren droht; und der viralen Ausbreitung woker Ideologie, die sich in die Moralvorstellungen der nächsten Generation frisst."

Auch hier hat sie recht. Der Atheismus kann gegen diese Bedrohungen nichts ausrichten, weil er keine positiven Prinzipien vertritt, die dem Autoritarismus, dem Expansionismus, dem Islamismus, China, Russland und der Woke-Ideologie entgegenwirken. Ayaan erwähnt "moderne, säkulare Instrumente: militärische, wirtschaftliche, diplomatische und technologische Bemühungen, die eingesetzt werden, um zu siegen, zu bestechen, zu überreden, zu beschwichtigen oder zu überwachen". Sie sagt, dass diese nicht ausreichen würden, denn "wir verlieren an Boden". Tun wir das? Das glaube ich nicht. Aber darüber lässt sich streiten. Lassen wir also für einen Moment die Frage beiseite, ob die Welt in dieser Woche, in diesem Monat oder in diesem Jahr besser oder schlechter geworden ist, und betrachten wir langfristig, was den moralischen Fortschritt über die Jahrhunderte hinweg angetrieben hat.

In meinen Büchern "The Moral Arc" und "Giving the Devil His Due" zeige ich, dass es nicht der Atheismus ist, der den Bogen der Gerechtigkeit und Freiheit spannt, sondern der Humanismus der Aufklärung – eine kosmopolitische Weltanschauung, die den Menschen- und Bürgerrechten, der Autonomie des Einzelnen und der körperlichen Unversehrtheit, dem freien Denken und der freien Meinungsäußerung, der Rechtsstaatlichkeit sowie der Wissenschaft und der Vernunft als den besten Instrumenten zur Ermittlung der Wahrheit in allen Dingen allerhöchste Bedeutung beimisst. Dies beinhaltet den wissenschaftlichen Naturalismus, den Grundsatz, dass die Methoden der Wissenschaft unter der Annahme operieren, dass die Welt und alles in ihr das Ergebnis natürlicher Prozesse in einem System materieller Ursachen und Wirkungen ist, das die Einführung übernatürlicher Kräfte nicht zulässt oder benötigt. Wenn Gott ein übernatürliches Wesen außerhalb von Raum und Zeit ist und daher auf keine rationale oder empirische Weise erkannt werden kann, ist es für natürliche Wesen wie uns nicht möglich, eine übernatürliche Gottheit zu verstehen.

Der wissenschaftliche Naturalismus und der Humanismus der Aufklärung haben die moderne Welt hervorgebracht und viele der Gründerväter der Vereinigten Staaten, zum Beispiel Thomas Jefferson, Thomas Paine, Benjamin Franklin, James Madison und John Adams, waren entweder praktizierende Wissenschaftler oder hatten eine wissenschaftliche Ausbildung, und die Art, wie sie die Verfassung konstruiert haben und die Grundsätze, auf denen die Verfassung beruht, waren durch und durch säkular und stützten sich auf die beste Wissenschaft und Philosophie ihrer Zeit.

Ich stelle die Hypothese auf, dass, so wie Galileo und Newton physikalische Gesetze und Prinzipien über die natürliche Welt entdeckten, die wirklich existieren, auch die Gründerväter moralische Gesetze und Prinzipien über die menschliche Natur und die Gesellschaft entdeckten, die wirklich existieren. Ebenso wie es unvermeidlich war, dass der Astronom Johannes Kepler entdeckte, dass Planeten elliptische Bahnen haben – angesichts der Tatsache, dass er genaue astronomische Messungen vornahm, und angesichts der Tatsache, dass sich Planeten tatsächlich auf elliptischen Bahnen bewegen, hätte er kaum etwas anderes entdecken können. Zum Beispiel, dass Demokratien besser sind als Autokratien, dass die Marktwirtschaft der Kommandowirtschaft überlegen ist, dass Folter und Todesstrafe die Kriminalität nicht eindämmen, dass die Verbrennung von Frauen als Hexen eine abwegige Idee ist, dass Frauen nicht zu schwach und gefühlsgesteuert sind, um Unternehmen oder Länder zu leiten, dass Schwarze nicht gerne versklavt werden und dass die Juden nicht ausgerottet werden wollen. Aber warum?

Die Antwort ist, dass es in der Natur des Menschen liegt, gegen die Entropie der Natur zu kämpfen, um zu überleben und zu gedeihen, und dass die Freiheit, die Autonomie und der Wohlstand, die in freien Gesellschaften existieren – eben weil sie auf dem Fundament des wissenschaftlichen Naturalismus und des Humanismus der Aufklärung aufgebaut sind, welche versuchen, den besten Weg für das Leben der Menschen zu finden –, es dem Individuum ermöglichen, sein naturgegebenes Los selbst in die Hand zu nehmen. Das ist moralischer Realismus, und er braucht keine Gottheit, um seine Gültigkeit zu begründen. Steven Pinker erklärt die Logik:

"Wenn ich an Sie appelliere, etwas zu tun, was mich betrifft – von meinem Fuß runterzugehen, mir zu sagen, wie spät es ist, oder mich nicht mit dem Auto zu überfahren –, dann kann ich das nicht in einer Weise tun, die meine Interessen gegenüber Ihren bevorzugt (zum Beispiel mein Recht zu betonen, Sie mit dem Auto zu überfahren), wenn ich will, dass Sie mich ernst nehmen. Sofern ich nicht der Herrscher der Galaxis bin, muss ich meinen Fall so darlegen, dass ich gezwungen wäre, Sie ebenso zu behandeln, wie ich behandelt werden möchte. Ich kann nicht so tun, als seien meine Interessen etwas Besonderes, nur weil ich ich bin und nicht Sie, genauso wenig wie ich Sie davon überzeugen kann, dass der Platz, auf dem ich stehe, ein besonderer Ort im Universum ist, nur weil zufällig ich auf ihm stehe."

Dies ist das Prinzip der Austauschbarkeit der Perspektiven (entwickelt in Pinkers 2018 erschienenem Buch "Enlightenment Now"), das den Kern des ältesten moralischen Prinzips bildet, das im Laufe der Geschichte mehrfach auf der ganzen Welt entdeckt wurde: die Goldene Regel. Pinker merkt an, dass sie auch die Grundlage von "Spinozas Gesichtspunkt der Ewigkeit, dem Gesellschaftsvertrag von Hobbes, Rousseau und Locke, Kants kategorischem Imperativ und Rawls Schleier des Nichtwissens" bildet. Sie liegt auch Peter Singers Theorie des sich erweiternden Kreises zugrunde – der optimistische Vorschlag, dass unser moralisches Empfinden, obwohl es durch die Evolution so geformt wurde, dass wir uns selbst, unsere Verwandten und unseren Clan überbewerten, uns auf einen Pfad des moralischen Fortschritts bringen kann, wenn unser Urteilsvermögen uns dazu zwingt, das moralische Empfinden zu verallgemeinern und auf immer größere Kreise von empfindungsfähigen Wesen auszudehnen.

Daher bin ich kein Christ, weil es einfach nicht genug Beweise gibt, um zu davon auszugehen, dass die zentralen Dogmen über die Auferstehung Jesu wahr sind. Und ich möchte nicht an Dinge glauben, an die man glauben muss, damit sie wahr sind.

Es gibt also durchaus rationale Gründe, Moral und Werte auf universelle humanistische Prinzipien zu gründen, und diese hängen nicht davon ab, ob die Anhänger Theisten oder Atheisten sind. Die Tatsache, dass es sich um universelle Prinzipien handelt, bedeutet, dass sie für alle Menschen gelten – Juden, Christen, Muslime, Buddhisten, Hindus, Pantheisten, Deisten, Agnostiker und Atheisten. Ob es einen Gott gibt oder nicht – und speziell den christlichen Gott – ist irrelevant. Das ist es, was "universell" bedeutet.

Gibt es gute Gründe, an Gott zu glauben? Theisten sind sicherlich der Meinung, dass es sie gibt, aber Atheisten sind sich ebenso sicher, dass es sie nicht gibt. Wer hat Recht? Ich habe zahlreiche Artikel, Aufsätze, Rezensionen und Buchkapitel zu diesem Thema verfasst, und in meinem nächsten Buch, "Truth: What it is, How to Find it, Why it Matters" ("Wahrheit: Was das ist, wie man sie findet und warum das wichtig ist" erscheint 2025 bei Johns Hopkins University Press), gehe ich auf die 20 wichtigsten philosophischen und wissenschaftlichen Argumente für die Existenz Gottes und die Gegenargumente ein, so dass ich hier kein Urteil fällen werde. Ich möchte lediglich anmerken, dass beide Seiten starke Argumente haben und dass die Frage letztlich weder von der Philosophie noch von der Wissenschaft endgültig bejaht werden kann, so dass es auf den Glauben ankommt – entweder man wagt den Sprung aus persönlichen Gründen oder nicht.

Was das Christentum anbelangt, so werde ich, da Ayaan diesem speziellen Glauben vor allen anderen ihre Gefolgschaft erklärt hat, zugestehen, dass von den drei Gefahren, denen der Westen ausgesetzt ist und die Ayaan (und mich) beunruhigen – (1) der Autoritarismus/Expansionismus des Islamismus, (2) China und Russland, und (3) die Woke-Ideologie – christliche Konservative tatsächlich eine klarere Vorstellung haben als atheistische (oder sogar theistische) Linke (einschließlich und vor allem die LGBTQ-Gemeinschaft, der es unter solchen Regimen nicht gut gehen würde). Aber das ist politischer Pragmatismus in Reinkultur: "Sagt, was ihr wollt über die christlichen Konservativen, aber wenigstens wissen sie, was eine Frau ist!" Ich habe Verständnis für dieses Gefühl, aber ist es die Grundlage für eine Weltanschauung? Ich denke nicht. Wir sollten Dinge glauben, weil sie wahr sind, und nicht nur, weil sie politisch pragmatisch sind.

Betrachten wir, zu welchen Annahmen das Christentum Zustimmung verlangt – dass Jesus der Messias war, gekreuzigt wurde und von den Toten auferstanden ist. (Wie der Apostel Paulus in 1. Korinther 15:13-19 sagt: "Wenn es keine Auferstehung der Toten gibt, dann ist auch Christus nicht auferstanden. ... Und wenn Christus nicht auferstanden ist, dann ist euer Glaube vergeblich, dann seid ihr noch in euren Sünden").

Ist das wahr? Meine erste Frage ist die folgende: Warum akzeptieren die Juden die Auferstehung nicht als wahr, weder zur Zeit Jesu noch in unserer Zeit? Juden glauben an denselben Gott wie Christen. Sie akzeptieren das gleiche heilige Buch wie die Christen (die Hebräische Bibel oder das Alte Testament). Sie glauben sogar an den Messias. Sie glauben nur nicht, dass es sich bei dem Zimmermann aus Galiläa um ihn handelt. Jüdische Rabbiner, Gelehrte, Philosophen und Historiker kennen die Argumente für die Auferstehung ebenso gut wie christliche Apologeten und Theologen, und dennoch lehnen sie sie ab. Das ist doch bezeichnend.

Was bräuchte es, damit ein vernünftiger Mensch die Auferstehung akzeptiert? Lassen Sie uns ein paar Zahlen ins Spiel bringen. Demographen schätzen, dass vor den 8 Milliarden Menschen, die heute leben, in der gesamten Menschheitsgeschichte etwa 100 Milliarden Menschen gelebt haben. Nicht ein einziger ist gestorben und von den Toten zurückgekehrt, es sei denn, man ist Christ, dann glaubt man, dass es ein einziger Mensch war – Jesus von Nazareth. Die Behauptung, dass von diesen 100 Milliarden Menschen, die gestorben sind, eine Person von den Toten auferstanden ist, wäre also in der Tat außergewöhnlich – 100 Milliarden zu 1. Ist dieser Beweis für die Auferstehung außergewöhnlich? Nein. Er ist nicht mal gewöhnlich.

Laut dem Philosophen Larry Shapiro von der University of Wisconsin-Madison in seinem 2016 erschienenen Buch "The Miracle Myth", "sind die Beweise für die Auferstehung nicht annähernd so vollständig oder überzeugend wie die Beweise, auf die sich Historiker stützen, um den Glauben an andere historische Ereignisse wie die Zerstörung von Pompeji zu rechtfertigen." Da Wunder viel unwahrscheinlicher sind als gewöhnliche historische Ereignisse wie Vulkanausbrüche, "müssen die Beweise, die nötig sind, um den Glauben an sie zu rechtfertigen, um ein Vielfaches besser sein als die, die unseren Glauben an gewöhnliche historische Ereignisse rechtfertigen würden". Aber, so Shapiro, das ist nicht der Fall. Tatsächlich sind sie nicht einmal so gut wie für gewöhnliche historische Ereignisse.

Was ist mit den Augenzeugen? Vielleicht, so Shapiro, waren sie "abergläubisch oder leichtgläubig" und sahen, was sie sehen wollten. Vielleicht berichteten sie nur, dass sie Jesus "im Geiste" spürten, und im Laufe der Jahrzehnte wurden ihre Aussagen so verändert, dass sie den Eindruck erweckten, sie hätten Jesus leibhaftig gesehen. Vielleicht erschienen die Berichte über die Auferstehung nie in den ursprünglichen Evangelien und wurden erst in späteren Jahrhunderten hinzugefügt. Jede dieser Erklärungen für die Beschreibungen der Auferstehung Jesu in den Evangelien ist weitaus wahrscheinlicher als die Möglichkeit, dass Jesus tatsächlich ins Leben zurückgekehrt ist, nachdem er drei Tage lang tot war."

Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit – außergewöhnliche Behauptungen erfordern außergewöhnliche Beweise – bedeutet auch, dass wir die wahrscheinlichere Erklärung der unwahrscheinlicheren vorziehen sollten, was bei diesen Alternativen sicherlich der Fall ist. Daher bin ich kein Christ, weil es einfach nicht genug Beweise gibt, um zu davon auszugehen, dass die zentralen Dogmen über die Auferstehung Jesu wahr sind. Und ich möchte nicht an Dinge glauben, an die man glauben muss, damit sie wahr sind.

Was ist mit den moralischen und politischen Grundsätzen des Christentums, auf die sich das Abendland angeblich stützt? In "The Moral Arc" lege ich dar, dass das Christentum durch die Aufklärung gegangen ist und am Ende mit den Werten herauskam, an denen sich die Menschen im Westen heute orientieren. Das lag nicht an einer neuen Offenbarung Gottes ("Du sollst den Frauen die gleichen Rechte einräumen wie den Männern", "Du sollst deine Mitmenschen nicht versklaven") oder an einer neuen Auslegung der Heiligen Schrift ("Galater 3,28: 'Da ist weder Jude noch Grieche, da ist weder Sklave noch Freier, da ist weder Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus'"), sondern am Bürgerrechtsgesetz von 1964, das Diskriminierung aufgrund von Rasse, Hautfarbe, Religion, Geschlecht oder nationaler Herkunft verbietet. Wenn der moralische Fortschritt in einem bestimmten Bereich durch weltliche Kräfte in Gang gekommen ist, schließen sich die meisten Religionen schließlich an – wie bei der Abschaffung der Sklaverei im 19. Jahrhundert und den Bürger- und Frauenrechten im 20. Jahrhundert.

Die Weltreligionen sind von Natur aus stammesorientiert und fremdenfeindlich. Sie dienen dazu, die moralischen Vorschriften innerhalb der Gemeinschaft zu regeln, versuchen aber nicht, die Menschheit außerhalb ihres Kreises zu umarmen – es sei denn, sie haben die säkularen Werte der Aufklärung verinnerlicht, was bei den meisten Christen der Fall ist. Religion bildet per definitionem eine Identität derer, die so sind wie wir, in scharfer Abgrenzung zu denen, die nicht so sind wie wir, zu den Heiden, den Ungläubigen. Die meisten Religionen wurden in die moderne Aufklärung hineingezogen, während sie sich mit den Fingernägeln in der Vergangenheit festkrallten. Veränderungen in den religiösen Überzeugungen und Praktiken sind, wenn überhaupt, langsam und schwerfällig, und sie sind fast immer eine Reaktion der Kirche oder ihrer Führer, die sich äußeren politischen oder kulturellen Kräften gegenübersehen.

Auch wenn unsere Moral nicht auf die Bibel zurückgeht, werden religiöse Gläubige oft argumentieren, dass das Christentum der westlichen Zivilisation ihre wertvollsten Errungenschaften geschenkt hat: Kunst, Architektur, Literatur, Musik, Wissenschaft, Technologie, Kapitalismus, Demokratie, Gleichberechtigung und Rechtsstaatlichkeit. Zunächst einmal bestreitet niemand die Großartigkeit zahlloser Werke der Kunst, Architektur, Literatur und Musik, die vom Christentum inspiriert wurden: die großen Kathedralen, die den Geist erheben, die Requiems, die den Schmerz des Verlustes einfangen, die Psalmen der Freude, die die Zuhörer vereinen, die Gemälde, die vor Licht und menschlichen Gefühlen strahlen.

Aber Künstler, die in einer christlichen Welt leben und von anderen Christen umgeben sind, die so gut wie nichts über das Christentum hinaus verstehen und die wahrscheinlich von christlichen Mäzenen unterstützt werden, werden auch christliche Werke schaffen. Das Christentum war die vorherrschende Religion Europas zu einem Zeitpunkt in der Geschichte, an dem der Kontinent die Renaissance und eine Explosion von Entdeckungen neuer Länder und neuer politischer und wirtschaftlicher Systeme erlebte; kein Wunder, dass das Christentum am Ende der große Mäzen war. Die Tatsache, dass sich die im Christentum lebenden Künstler vom Leben und Sterben Jesu durch die Kreuzigung inspirieren ließen und nicht etwa vom Leben und Sterben des Buddha durch Pilze, ist keine Überraschung. Außer dem Christentum gab es dort keine andere Religion.

Was die Frage betrifft, ob das Christentum die Grundlage für Demokratie und Kapitalismus bildet, so können wir die historische Kontrafaktizität durchspielen und eine Vorhersage treffen: Wenn diese Hypothese wahr ist, dann sollten Gesellschaften, in denen das Christentum die vorherrschende Religion ist oder war, westlich anmutende Formen von Demokratie und Kapitalismus aufweisen. Das tun sie aber nicht. Das Byzantinische Reich zum Beispiel war seit den frühen 300er Jahren n. Chr. überwiegend christlich-orthodox und brachte sieben Jahrhunderte lang nichts hervor, was auch nur im Entferntesten mit Demokratie und Kapitalismus vergleichbar wäre, wie sie im modernen Amerika praktiziert werden. Selbst das frühe Amerika war nicht so wie heute, als vor nur zwei Jahrhunderten Frauen nicht wählen durften, die Sklaverei legal und weit verbreitet war und der Reichtum durch den Kapitalismus nur einer winzigen Minderheit von Grund- oder Fabrikbesitzern vorbehalten war.

Während des gesamten späten Mittelalters und bis weit in die frühe Neuzeit hinein waren alle Nationalstaaten, Stadtstaaten und verschiedenen politischen Konglomerate West- und Mitteleuropas nicht nur christlich, sondern auch christlich-abendländisch, und noch im 19. Jahrhundert waren die einzigen quasi-demokratischen Republiken in Europa England, Holland und die Schweiz. Im christlichen Europa profitierten sowohl England als auch Spanien prächtig von ihren Kolonialreichen in Übersee, die durch die Dezimierung der einheimischen Bevölkerung und die Plünderung der Vorkommen von Edelmetallen, Edelsteinen und anderen natürlichen Ressourcen noch profitabler wurden – Handlungen, die nach heutigen moralischen Maßstäben zu verurteilen sind.

Der Atheismus ist nicht die Alternative zur jüdisch-christlichen Weltanschauung, sondern der Humanismus der Aufklärung.

Schließlich führte der Sozialwissenschaftler Gregory S. Paul eine Korrelationsstudie über die gesellschaftliche Gesundheit von 17 wohlhabenden Demokratien der ersten Welt – Australien, Österreich, Kanada, Dänemark, England, Frankreich, Deutschland, Holland, Irland, Italien, Japan, Neuseeland, Norwegen, Spanien, Schweden, Schweiz, USA – und die Religiosität (inwieweit die Bürger in jedem dieser Länder an Gott glauben, die Bibel wörtlich nehmen, mindestens mehrmals im Monat den Gottesdienst besuchen, mindestens mehrmals in der Woche beten, an ein Leben nach dem Tod und an Himmel und Hölle glauben, wobei sie dies auf einer Skala von 1 bis 10 einstufen). Die Ergebnisse waren verblüffend...und beunruhigend. Die Vereinigten Staaten sind nicht nur die mit Abstand religiöseste der 17 Nationen, sondern auch die dysfunktionalste. Sie schneiden bei einer Vielzahl von 25 verschiedenen Indikatoren für soziale Gesundheit und Wohlbefinden am schlechtesten ab (auf einer Skala von 1-9 von dysfunktional bis gesund), darunter Tötungsdelikte, Suizide, Lebenserwartung, Geschlechtskrankheiten, Abtreibungen, Teenagergeburten, Fruchtbarkeit, Heirat, Scheidung, Alkoholkonsum, Lebenszufriedenheit, Korruptionsindizes, bereinigtes Pro-Kopf-Einkommen, Einkommensungleichheit, Armut, Beschäftigungsniveau, Inhaftierung und andere.

Korrelation ist natürlich kein Kausalzusammenhang, und jeder dieser Messwerte hat mehrere Ursachen, die nichts mit der Religion (oder deren Fehlen) zu tun haben. Aber wenn die Religion eine so starke Kraft für die gesellschaftliche Gesundheit ist, wie christliche Kommentatoren behaupten, warum ist dann Amerika – die religiöseste Nation der westlichen Welt – gleichzeitig die ungesündeste bei all diesen sozialen Messwerten? Wenn Religion die Menschen moralischer macht, warum ist Amerika dann scheinbar so unmoralisch in seiner mangelnden Sorge um seine ärmsten und problembeladensten Bürger, vor allem seine Kinder? Es wäre zwar zu viel gesagt, dass "Religion alles vergiftet", wie Christopher Hitchens in seinem berühmten Buch "God is Not Great" feststellte, aber sie ist problematisch genug, um zu dem Schluss zu kommen, dass sie für eine gesunde Gesellschaft nicht notwendig ist.

Der Atheismus ist nicht die Alternative zur jüdisch-christlichen Weltanschauung, sondern der Humanismus der Aufklärung. Die menschliche Moral und die sozialen Werte gründen nicht nur in philosophischen Prinzipien wie der Tugendethik des Aristoteles, dem kategorischen Imperativ von Kant, dem Utilitarismus von Mill oder der Fairnessethik von Rawls, sondern auch in den Naturwissenschaften. Von der wissenschaftlichen Revolution bis zur Aufklärung haben Vernunft und Wissenschaft langsam, aber systematisch Aberglauben, Dogmatismus und religiöse Autorität ersetzt. Wie der deutsche Philosoph Immanuel Kant verkündete: Sapere Aude! – Wage es, zu wissen!, "Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen". "Die Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit", so Kant. Das Zeitalter der Vernunft war also das Zeitalter, in dem die Menschheit neu geboren wurde, nicht aus der Erbsünde, sondern aus der ursprünglichen Unwissenheit und Abhängigkeit von Autoritäten und Aberglauben. Nie wieder müssen wir die intellektuellen Sklaven derer sein, die unseren Verstand mit den Ketten des Dogmas und der Autorität fesseln wollen. Stattdessen setzen wir Vernunft und Wissenschaft als Schiedsrichter über Wahrheit und Wissen ein. Wie ich in meiner Rede auf der "Reason Rally 2012" vor über 20.000 Humanisten und Wissenschaftsbegeisterten auf der Mall in Washington DC sagte:

"Statt die Wahrheit durch die Autorität eines alten heiligen Buches oder einer philosophischen Abhandlung zu ergründen, begannen die Menschen, das Buch der Natur selbst zu erforschen.

Statt Abbildungen in erleuchteten botanischen Büchern zu betrachten, gingen die Gelehrten hinaus in die Natur, um zu sehen, was tatsächlich in der Erde wuchs.

Statt sich auf die Holzschnitte sezierter Leichen in alten medizinischen Texten zu verlassen, öffneten die Ärzte selbst Leichen, um mit eigenen Augen zu sehen, was dort war.

Statt Menschenopfer zu bringen, um die zornigen Wettergötter zu besänftigen, führten Naturforscher Messungen von Temperatur, Luftdruck und Winden durch, um die meteorologischen Wissenschaften zu begründen.

Statt Menschen zu versklaven, weil sie einer minderwertigen Spezies angehören, erweiterten wir unser Wissen und begriffen dank evolutionärer Erkenntnisse alle Menschen als Angehörige einer einzigen Spezies.

Statt Frauen als minderwertig zu behandeln, weil ein heiliges Buch sagt, dass es das Recht des Mannes ist, dies zu tun, entdeckten wir durch die Geisteswissenschaften die natürlichen Rechte, die vorschreiben, dass alle Menschen gleich behandelt werden sollten.

An die Stelle des übernatürlichen Glaubens an das göttliche Recht der Könige setzten die Menschen den natürlichen Glauben an das gesetzliche Recht der Demokratie, was uns politischen Fortschritt brachte.

Statt dass eine winzige Handvoll Eliten den Großteil der politischen Macht innehatte, indem sie ihre Bürger ungebildet und unaufgeklärt hielt, konnten die Menschen durch Wissenschaft, Alphabetisierung und Bildung die Macht und Korruption, die sie niederhielten, selbst erkennen und begannen, die Ketten ihrer Knechtschaft abzuwerfen und ihre natürlichen Rechte einzufordern."

Die Verfassungen der Nationen sollten auf der Verfassung der Menschheit basieren, welche durch Wissenschaft und Vernunft am besten verstanden werden kann. Das ist das Herz und das Zentrum des wissenschaftlichen Naturalismus und des Humanismus der Aufklärung.

Übersetzung des englischen Originals: Daniela Wakonigg. Übersetzung und Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Autors.

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