Die biologischen Ursprünge der freien Rede

Noam Chomsky: "Was für Lebewesen sind wir?"

Zum Schweigen ist er noch lange nicht zu bringen. Der heute 87-jährige Noam Chomsky protestierte gegen den Irak-Krieg der USA und beteiligte sich an der Occupy-Wall-Street-Bewegung. Nun hat der große alte Mann der Linguistik eine Art Vermächtnis vorgelegt. Einen Essay, in dem er seine Sprachtheorie mit der Biologie und dem Anarchismus verbindet. "Was für Lebewesen sind wir?", stellt er schon im Titel die Frage.

An dem kleinen Wörtchen "fast" scheiden sich bis heute die Geister. Charles Darwin schrieb: "Von den Tieren unterscheidet sich der Mensch bloß durch die fast unendlich größere Freiheit, die verschiedenen Laute und Ideen zu assoziieren." Macht dies uns zu etwas ganz anderem? Ja und nein. Ja, so Chomsky, weil uns die Sprache eben nicht in erster Linie ein Mittel der Kommunikation ist, sondern die Struktur mit minimalen Mitteln schon all die immensen Möglichkeiten des Denkens liefert. Nein, insofern als Chomsky sich auf die Ideen David Humes beruft, "der erkannte, dass genau wie bei den Tieren der größte Teil des Wissens auf einer Art natürlicher Instinkte beruht, die die Menschen ursprünglich aus der Hand der Natur empfangen - oder in heutigen Begriffen der genetischen Ausstattung."

Mittels der Struktur der Sprache werden wir der Welt gewahr, erforschen wir sie und dichten wir. Wie das geschieht, bleibt uns meistenteils unzugänglich, wie ein erheblicher Teil von dem, was wir denken – und noch mehr: ein Großteil der Welt. Nach außen und nach innen ist unsere Erkenntnis begrenzt.

10 Jahre hpd

Chomsky nennt sie I-Sprache: intern, individuell und intentional. Im Gegensatz zur E-Sprache, der externen Sprache. Diese I-Sprache funktioniert nach Chomsky allerdings ganz anders als die Kommunikation der Tiere. Ihren "atomischen" Einheiten korrespondieren nicht Dinge oder Ereignisse, wie etwa bei den Makaken dem Rauschen der Blätter ein Warnruf, der das Sich-Nähern der Wildkatzen bedeutet. Was wir sprechen, wird nicht "verursacht", vielmehr angeregt. Und beinhaltet eine ganze Reihe von Konnotationen, Absichten und Erfahrungen.

Sprache ist mehr als nur Laute, als gesprochene Sprache. Ihre stets aufs ökonomischste strukturierten Aussagen sind nicht nur richtig oder falsch, sondern können verstanden werden oder nicht. - Es fragt sich allerdings, ob das nicht auch die Menschen gerade mit den Tieren verbindet, deren Kommunikation etwa bei den Primaten zum geringsten Anteil aus Lautäußerungen besteht. Sondern ja ebenfalls aus Mimik, Geste und Rollenspiel.

Kant sprach seinerzeit von synthetischen Wahrheiten a priori, wie es sich in Sätzen darüber, dass es Ursache und Wirkung gibt, ausdrückt. Unausgesprochen liegen sie allem zugrunde. Bei Chomsky gehört neben solchen Basissätzen zur inneren Sprache auch die der Logik und Mathematik. Alle drei haben miteinander die Möglichkeit zur Formalisierung gemeinsam.

Schon deshalb kann es sich zudem nicht, so Chomsky weiter, bei der menschlichen Sprache um eine fixe Relation zwischen Ereignis und Phonem handeln, weil das, wovon Sprache handelt, nie feststeht. Es handelt sich um ein Konstrukt, wenn wir beispielsweise von Personen reden, die im Laufe ihres Lebens vielen Wandlungen unterworfen sind, aber auch, wenn wir von Flüssen oder Äpfeln sprechen, die aus immer anderen Atomen oder Zellen bestehen.

Woher haben wir diese kreative Fähigkeit zu "assoziieren", zu kombinieren? Das sei so mysteriös wie die Fernwirkung, als Newton sie seinerzeit postulierte. Der große Neuerer, das macht Chomsky klar, verzichtete damals darauf, diese zu erklären, aber es ließen sich mithilfe der Gesetze der Schwerkraft das Fallen der Äpfel prognostizieren und der Flug der Kanonenkugeln berechnen. Das musste genügen. Dass sie den Materiebegriff von Descartes, der nur Nahwirkungen zuließ, sprengte, überging man seinerzeit stillschweigend. Warum sollte es also nicht – für uns ähnlich unerklärlich - eine Eigenschaft der Natur sein, Geist zu haben, meint Chomsky, und bezeichnet an anderer Stelle "Geist" als eine abstrakte Weise von Gehirn zu reden.

Cover

Im Grunde ist aber auch das überholt. Das Leib-Seele-Problem stellt sich heute nicht mehr, verwirft er auch diesen Ansatz. Wir unterscheiden heute erfahrungsabhängige Sätze und solche, die es nicht sind. Solche, die von einem Selbst handeln, und die anderen, in denen das nicht der Fall ist, schließt Chomsky nach einem Schnellritt durch die Wissenschaftsgeschichte.

Chomsky vermutet, dass die Fähigkeit zur Sprache sich mit einem Schlag durch eine geringe Veränderung im Gehirn herausgebildet hat und nicht allmählich durch Anpassung. Plötzlich war sie da, die Fähigkeit aus wenigen Lauten eine unendliche Zahl von Welten zu erfinden – das Schöpferische, wie es schon Wilhelm von Humboldt "entdeckte".

Die Möglichkeit wurde jedoch auch zur Pflicht. - Des Einzelnen, seine Möglichkeiten zu entfalten, und der Gesellschaft, die freie Entfaltung der Individuen zu garantieren. Sie durfte und darf nicht mehr Machtinteressen oder dem Profit unterworfen werden. Aus dieser Erkenntnis speist sich Chomskys Anarchismus, der, wie er betont, auf traditionsreiche libertäre Denkströmungen seit John Locke zurückgeht und dann gleichwohl wieder einen Anarchismus zum Vorbild hat, wie ihn die Syndikalisten im Spanischen Bürgerkrieg verteidigten: Über die Arbeit sollten sich die Menschen miteinander in politische Beziehungen setzen. Ein umfassendes Netz aus Kommunen kann so entstehen. Der renommierte Linguist scheut nicht die politische Utopie.

Chomskys Essay ist nicht aus einem Guss. So wenig, wie das Leben es ist. Dennoch will er all die großen Fragen, die ihn ein Leben lang umgetrieben haben, miteinander in Bezug setzen und ihnen dadurch Legitimität verleihen, dass er sie voneinander ableitet. Dies tut er mit einem wachen Sinn dafür, wie sehr Welt und Wissenschaft sich ändern und welche ganz neuen Leitideen - zuletzt über das Leben an sich - schon innerhalb der über ein halbes Jahrhundert umfassenden Dekaden seines Forschungstätigkeit am Firmament über den Olympioniken der Wissenschaft aufgetaucht sind.

Am 30. Oktober wird Noam Chomsky an der Universität Heidelberg einen Vortrag halten.

Noam Chomsky: "Was für Lebewesen sind wir?", aus dem Amerikanischen von Michael Schiffmann.