Die beiden Sozialwissenschaftler Marc Grimm und Bodo Kahmann veröffentlichen in ihrem Sammelband "Antisemitismus im 21. Jahrhundert. Virulenz einer alten Feindschaft in Zeiten von Islamismus und Terror" 18 Aufsätze zum Thema. Die von guten Kennern der Materie geschriebenen Beiträge konzentrieren sich auf theoretische Fragen, den islamischen Antisemitismus, Judenfeindlichkeit in der öffentlichen Kommunikation, aber auch in politischen Bewegungen.
Antisemitismus ist auch in der Gegenwart ein Übel, nicht nur in der Vergangenheit. Diese Auffassung muss man den jeweils Betroffenen nicht vermitteln, aber schon der breiteren Öffentlichkeit. Einen Beitrag dazu leistet der Sammelband "Antisemitismus im 21. Jahrhundert. Virulenz einer alten Feindschaft in Zeiten von Islamismus und Terror", der von den beiden Sozialwissenschaftlern Marc Grimm und Bodo Kahmann herausgegeben wurde. Um Missverständnisse hinsichtlich des Titels zu vermeiden, bedarf es vorab hinsichtlich des Inhalts zweier Klarstellungen: Es geht darin um den modernen und neueren Antisemitismus, wobei aber die Frage des inhaltlich oder zeitlich Neuen nicht systematisch erörtert wird. Und: Es werden trotz 18 unterschiedlicher Aufsätze nicht alle Formen der gegenwärtigen Judenfeindschaft behandelt. Vielmehr nehmen die Autoren und Herausgeber eine Schwerpunktsetzung vor. In vier Hauptkapitel wurden die Texte verteilt, womit sich inhaltliche Konzentrationen ergeben, ohne jeweils Vollständigkeit zu beanspruchen.
Zunächst geht es um Ausführungen zu Definitionen des Antisemitismus in der Geschichte bis in die Gegenwart, eine Deutung von "Israelkritik" als möglicherweise verstecktes Ressentiment, das Antisemitismus- und Sexismus-Verhältnis und die Frage eines möglichen Porajmos- und Shoah-Vergleichs. Bei dem erstgenannten Beitrag wird auch die breiter akzeptierte Arbeitsdefinition der EU angesprochen, indessen ohne die daran geübte Kritik zu thematisieren. Der Aufsatz zur Frage des Vergleichs zum Massenmord an Juden und Sinti und Roma betont zutreffend, dass damit keine Gleichsetzung verbunden sein muss. Den Aufsätzen zu theoretischen Überlegungen folgen dann Beiträge zum islamischen Antisemitismus, wobei die Ergebnisse der empirischen Forschung, Versäumnisse der Forschung in Deutschland, die verschwörungsideologischen Auffassungen im Islamismus, die Judenfeindlichkeit südasiatischer Muslime und die Holocaustleugnung im Iran thematisiert werden. Deutlich zeigen sich Lücken in der Forschung wie politische "Fallstricke".
Danach geht es um den Antisemitismus in der öffentlichen Kommunikation, wobei die Abwehr der Antisemitismuskritik am Beispiel von Günter Grass, antiisraelischen Schuldprojektionen in Leserkommentaren von "Guardian" und "Zeit", antisemitischen Argumentationsmustern in der deutschsprachigen Medienberichterstattung über Israel, medialen Judenbildern in Karikaturen in gegenwärtigen Printmedien und das Bild vom "rechtsbrechenden Juden" bei der Beschneidungsdebatte 2012 thematisiert werden. Hier fällt der Blick auf die Mehrheitsgesellschaft und nicht nur auf Randbereiche. Und schließlich findet der Antisemitismus in politischen Bewegungen gesondertes Interesse. Dabei geht es um Maßnahmen der EU gegen Antisemitismus, Konspirationsvorstellungen bei den Mahnwachen für den Frieden, um Russlands Kontakte zu rechten und antisemitischen Parteien in Europa und die antiisraelischen Aktivitäten von Studierenden an US-amerikanischen Universitäten. Letzteres nimmt demnach auch Entwicklungen in anderen Ländern ins Visier.
Alle Beiträge stammen von guten Kennern der Materie und verdienen Beachtung für Kontroversen und Reflexionen. Bei der doch sehr vehementen Kritik am "Zentrum für Antisemitismusforschung" in Berlin hätte man sich doch eine Stellungnahme von dortigen Mitarbeitern gewünscht, wirkt dies ansonsten als etwas einseitiges Bashing der Forschungskonkurrenz. Auch kann man bei manchen anderen Beiträgen immer begründet andere Deutungen in Detailfragen vornehmen, das macht aber gerade den Reiz von Wissenschaftskontroversen aus. Alle Beiträge verdienen aber aufgrund von Darstellungen und Einschätzungen entsprechendes Interesse. So werden etwa empirische Daten zur Judenfeindschaft unter Muslimen präsentiert, womit vergleichende Betrachtungen für verschiedene europäische Länder möglich werden. Man findet aber auch interessante Erklärungsansätze, etwa für die Israelfeindschaft unter linken Studenten in den USA. Insofern hat man es mit einem anregenden und informativen Sammelband zu tun.
Marc Grimm/Bodo Kahmann (Hrsg.), Antisemitismus im 21. Jahrhundert. Virulenz einer alten Feindschaft in Zeiten von Islamismus und Terror, Berlin 2018 (De Gruyter), 446 S.
5 Kommentare
Kommentare
A.S. am Permanenter Link
Wenn man, wie ich, Religionen als Produkte und Werkzeuge herrschsüchtiger Kleriker und Religionsgemeinschaften als Kleriker-geführte Herrschaftsverbände (Hierokratien) auffasst, sind Ressentiments und Feindseligkeiten
Atheisten tun sich schwer damit, dies alles zu verstehen, und schreiben dann dicke Bücher über vermeintliche Ursachen. Die Ursache für Antisemitismus, Antiislamismus, Antibuddhismus, Antichristianismus, Antiscientologismus, etc. ist: Religion, bzw. klerikale Machtgier.
Je frommer die Leute, desto stärker sind die Anti...ismen ausgeprägt.
Arno Gebauer am Permanenter Link
Moin,
solange Martin Luther, der größte Judenhasser und Hitlers Idol und der geistige Brandstifter des Holocaustes, in Deutschland verehrt und
an einem Feiertag gewürdigt wird, wird sich auch hier der Antisemitismus weiter ausbreiten.
„Was Hitler getan, hat Luther geraten, mit Ausnahme der direkten Tötung durch Gaskammern“
(Philosoph Karl Jaspers)
Die evangelisch Gläubigen und ihre meinungsbildenden Führer stehen geschlossen
hinter dem Geschreibsel ihres Religionsgründers, welches heute verharmlost und relativiert wird.
Die kath. Kirche verhält sich - wie im 3. Reich - zu diesem Thema stillschweigend und
verdeckt zurück.
Für einen großen Teil der Christen bleiben die Juden immer die Jesusmörder!
Der Lutherkult fördert den Antisemitismus!
Gruß Arno Gebauer
David Zahn am Permanenter Link
Moderner Antisemitismus durch Luther? Sorry, das kann ich so nun überhaupt nicht erkennen. Luther, wenngleich ohne Frage eine kritikwürdige Gestalt, hat heutzutage in Sachen Antisemitismus nichts zu melden.
Der heutige Antisemsitismus kommt und begründet sich aus anderen Richtungen. Es wäre fatal, wenn man sich dieser Erkenntnis aus ideologischen Gründen verschliesst.
Arno Gebauer am Permanenter Link
Moin, David Zahn,
nein, mit Deinem Beitrag kann man das Geschreibsel des
Verbrechers Luther nicht verharmlosen.
Der heutige Antisemitismus ist nicht neu entstanden, denn
er hat viele Jahrhunderte alte Luther-Wurzeln. Für viele
Generationen war der lutherische Judenhass verbindliches
Bildungsgut, der über die Welt missionarisch über Jahrhunderte verbreitet wurde.
Der heutige Antisemitismus kommt zum Teil über Flüchtlinge
aus muslemischen Ländern in die EU und ein größerer anderer
Teil rekrutiert sich über die Anhänger des nationalsozialitischen
Gedankengutes, welches Luthers Judenhass festschrieb.
Wer den Antisemitismus beseitigen will, der muß den
Verbrecher Luther aus dem Bewußtsein der Bevölkerung
verdrängen.
Gruß
Arno Gebauer
David Zahn am Permanenter Link
" und ein größerer anderer Teil rekrutiert sich über die Anhänger des nationalsozialitischen
Gedankengutes, welches Luthers Judenhass festschrieb"
Haben Sie für diese Behauptung Belege?