Es ist unbestritten, dass das Religiöse immer mehr aus dem öffentlichen Raum verschwindet. Keine zehn Prozent der Schweizer besuchen regelmäßig einen Gottesdienst. Nicht einmal mehr die Hälfte glaubt an einen personalen Gott. Und die Quote der Kirchenaustritte bleibt konstant hoch.
Bedeutet dies, dass der Glaube an ein höheres Wesen, an ein Leben nach dem Tod, an spirituelle Phänomene ein Auslaufmodell ist? Sind die meisten Menschen in religiösen Fragen nüchterner und rationaler geworden? Also areligiös? Erleben wir eine radikale Säkularisierung?
Nein, das wäre ein Trugschluss. Das Bedürfnis nach religiösen oder pseudoreligiösen Ritualen und der Glaube an Magie und Wunder nehmen kaum ab. Die religiösen Institutionen verlieren zwar an Bedeutung, ihr geistiger Kern lebt aber in den meisten Leuten weiter.
Der bekannte deutsche Religionswissenschafter Hartmut Zinser formuliert es so: "Jeder kann machen, was er will, jeder kann aus der Kirche austreten, jeder kann sich sozusagen die Religion raussuchen, die er will. Oder er kann vormittags – wie in Japan – Anhänger des Shinto sein, mittags christlich heiraten und abends buddhistisch sterben. Also alles das ist heute möglich, der markentreue Wechselreligiöse, das kann man vielfältig beobachten. Richtig Säkulare sind sehr selten."
Säkularisierung und die gesellschaftliche Tendenz zur Individualisierung holen die Kirchen ein. Viele, die noch Kirchensteuer zahlen, zimmern sich ebenfalls ihren eigenen Gott und ihren individuellen Himmel.
Überall Ersatzgottesdienste
Die Konsumtempel sind die modernen Kirchen. Fußballspiele, Konzerte und andere Events mutieren zu Ersatz-Gottesdiensten. Selbst das virtuelle Internet bietet eine Art geistige Heimat.
Der christliche Glaube, dessen geistige Wurzeln im Altertum liegen, will nicht mehr so recht zum heutigen Leben passen. Doch er hat das religiöse Bewusstsein geprägt, das schon fast in den Genen verankert ist. Der Begriff Gottesgen ist ein geflügeltes Wort. Deshalb bleibt das Bedürfnis nach magischen, spirituellen und übersinnlichen Ritualen und Weltanschauungen ziemlich konstant.
Parallel zum Bedeutungsverlust der christlichen Kirchen verliert auch die Bibel die göttliche Aura. Junge Leute, die nie in den Gottesdienst gehen, können mit den Geschichten aus dem alten Buch nichts anfangen. Somit zerfällt auch das geistige Fundament der christlichen Kultur. Die meisten haben keine Ahnung mehr, was Pfingsten bedeutet, obwohl sie jedes Jahr mit einem verlängerten Wochenende beschenkt werden.
Mit den Grundthemen Schuld, Strafe und Sühne können sie ohnehin nichts anfangen. Mit der Hölle schon gar nicht. Und den Himmel mit dem alten Mann mit Vollbart finden sie nicht sexy. Aber auch nicht die Vorstellung, dass mit dem Tod alles vorbei sein soll.
Esoterik als Ersatzreligion
Und so suchen viele in der Esoterik einen Ersatz. Oder sie verehren Geistheiler und Naturheilpraktiker als die neuen Medizinmänner oder Schamanen. Sie nehmen die Position der Pfarrer und Priester ein.
Weiter sind die desorientierten Sinnsucher auf dem Radar der Sekten, die ein Rundumpaket anbieten. Denn die Suche nach der eigenen religiösen Wahrheit kann ganz schön anstrengend sein.
Deshalb landen viele wieder bei geschlossenen Heilslehren und spirituellen, esoterischen oder neureligiösen Gruppen, die fertige religiöse Menüs anbieten. Menüs, die meist sehr unbekömmlich sind und für geistigen Durchfall sorgen.
Übernahme mit freundlicher Genehmigung von watson.ch.
11 Kommentare
Kommentare
Wolfgang Schaefer am Permanenter Link
Ich bin ein religiöser Atheist, basta!
Kay Krause am Permanenter Link
Moin Wolfgang Schaefer! Ihre bisherigen Kommentare waren für mich immer klar und verständlich. Mit dem "religiösen Atheisten kann ich nichts anfangen!
A) "Aber Du glaubst doch auch an Irgendetwas?!", oder
B) "Atheismus ist imgrunde doch auch eine Religion?!"
Diese Aussagen - lieber Wolfgang Schaefer - produzieren end-und sinnlose Diskussionen,
deren Zeit man mit sinvollerem verbringen könnte!
Wolfgang Schaefer am Permanenter Link
Kirchenlehre ändert sich in Kirchenleere. Nur die Kassen sind nicht leer, lehren die Kirchen.
Gerhard Baierlein am Permanenter Link
Warum suchen viele Menschen das spirituelle ausserhalb von sich selbst, das spirituelle ist
den Menschen inhärent. Wenn sie es ausserhalb suchen werden sie nur manipulierbar und
Thomas B. Reichert am Permanenter Link
Zitat " Nicht einmal mehr die Hälfte glaubt an einen personalen Gott."
Antwort: Götter sind Personifikationen von Dinge (Sonne, Mond, Natur, Weisheit ..."
Die Bibel ist übrigens ein mehrdeutiges Märchenbuch, welches man abstrakt, symbolisch, allegorisch, metaphorisch ... auslegen muss. Hinter diesen Texten verbergen sich meist Anleitungen, wie man Menschen ködern, führen, formen, trösten,
programmieren ... kann.
Die Hölle ist nichts anderes als die negative Gedanken- und Gefühlswelt.
Klar, kann man Menschen mit Feste, Rituale ... ködern. Schliesslich hat der Nationalsozialismus es genauso gemacht - Menschen mit Feste, Aufmärsche, gemeinsame Kleidung, Gesang ... in die Sozialordnung gelockt. Und jeder Mensch der sich von dem Sozialkonstrukt profitieren möchte macht damit weiter, da der Mensch halt sein Vorteil sucht. Und woher die Kohle (Macht) der Kirche kommt wissen wir: Lug, Betrug, arglistige Täuschung, Dokumentenfälschung ...
Wir sollten uns fragen: Warum werden Kinder in Schulen indoktriniert? Warum gibt es in Deutschland immer noch Kirchen (kriminelle Vereinigungen)? Warum fälschen ARD+ZDF Jesus-Dokus? Warum zensieren Museen sich? Warum trügen sich die Menschen? Antwort: Die einen Menschen verdummt, die anderen sind zu gutgläubig, dann gibt es noch Mitläufer und dann halt noch die grossen Profiteure.
Ich nennen soetwas "kollektiver Wahn".
Andres Zaugg am Permanenter Link
So schön formuliert fand ich meine Ansicht kaum je. Danke.
Wolfgang Schaefer am Permanenter Link
Erzählen Sie das einmal einem Theologen! Was meinen Sie, wie der in die Luft geht.
Klaus Bernd am Permanenter Link
ist eine Gelegenheit an das 2013 erschienene Buch von Johannes Fischler "New Cage"
zu erinnern; hier beim hpd rezensiert von Christoph Baumgarten
A.S. am Permanenter Link
Vor über hundert Jahren haben schon Leute wie Gustav le Bon und Sigmund Freud erkannt, dass Religion ein massenpsychologisches Phänomen ist - mit allen damit verbundenen Problemen.
Angesichts ihrer allgegenwärtigen Ohnmacht suchen die Menschen den Rausch von Macht in Gruppen bis hin zum Krieg. Anschließend öffnet sich für 1-2 Generationen ein Fenster der Vernunft. Dann meldet sich wieder der Bedarf an gefühlter Macht.
Statt Religionsunterricht bräuchte es Bildung in Psychologie, eine im Rahmen der Schule eingehegte Begegnung mit der eigenen Irrationalität zur "Warnung der Menschen vor den Menschen".
Frank am Permanenter Link
Es ist schwer zwischen esoterischen Aberglaube und religiösen Glaube zu unterscheiden. Die katholische Kirche verehrte so viele Reliquien, wie mancher Esoteriker ihre Kristalle und sonstige Dinge verehren.
Rainer am Permanenter Link
Warum blühen Ersatzreligionen, egal, ob "Fußball", "Klima" oder whatever?
Falls Religion dem Menschen inhärent ist (wie bereits von einem anderen Kommentator erwähnt), dann stellt sich freilich die Frage, wie man eine Religion gestalten könnte, die weder die Nachteile der Monotheismen noch Menschenopfer-Rituale sonstiger Religionskonstrukte beinhaltet.