Offener Brief an Gesundheitsminister Spahn

Die Scheidegrenze ist die nachgewiesene Wirksamkeit

Am 13. Juni 2019 hat Jan Böhmermann in seinem "Neo Magazin Royale" das Thema Homöopathie nicht nur aufgegriffen, sondern – überraschend – zum Hauptthema der Sendung gemacht. Ausgelöst wurde sein Interesse am Thema offensichtlich von dem Abmahnungsversuch der Firma Hevert Arzneimittel, mit der der Homöopathiekritikerin Dr. Natalie Grams eine Unterlassungserklärung abverlangt wurde, sie möge ich der Öffentlichkeit nicht mehr äußern, "Homöopathie habe keine Wirkung über den Placeboeffekt hinaus".

Natalie Grams hat erklärt, dass sie selbstverständlich keine solche Erklärung abgeben werde; erstens könne niemand verlangen, dass sie den Stand der Wissenschaft nicht öffentlich wiedergebe und zweitens hat ihre Kritik niemals direkt oder indirekt die Firma Hevert erwähnt. Böhmermanns daran anknüpfende Kritik der Homöopathie war ebenso furios wie sachkundig und der bisherige Höhepunkt dessen, was der Abmahnungsversuch gegenüber Dr. Grams bisher an Reaktionen ausgelöst hat.

Das Informationsnetzwerk Homöopathie (IHN) wertet den Umstand, dass die Homöopathie inzwischen – teils auch schon vor Jan Böhmermann – Gegenstand von Satire geworden ist, als eines unter mehreren Indizien dafür, dass das öffentliche Ansehen der Methode im Schwinden begriffen ist. Da eben dieses öffentliche Ansehen durch den gesetzlichen Schutzzaun des sogenannten Binnenkonsens des Arzneimittelgesetzes aufrechterhalten wurde, liegt nach Ansicht des INH hier der Kern des Problems. Es hat sich hierzu mit dem nachfolgend auch hier veröffentlichten Offenen Brief vom 14. Juni 2019 direkt an den Bundesminister für Gesundheit gewandt:

Sehr geehrter Herr Bundesminister Spahn,

als Informationsnetzwerk Homöopathie tragen wir seit 2016 zur Aufklärung der Öffentlichkeit über die Hintergründe der Homöopathie bei und haben dabei auch den sogenannten "Binnenkonsens" des Arzneimittelgesetzes im Fokus.

Am gestrigen Abend durften wir im Deutschen Fernsehen erleben, wie die Homöopathie zum Gegenstand von prominenter Satire wurde. Mehr als 20 Minuten lang brannte Jan Böhmermann in seinem "Neo Magazin Royale" ein Feuerwerk zum Thema ab, das – wie alle gute Satire – nichts anderes präsentierte als die Fakten. Wir werten dies als deutliches Zeichen dafür, dass die öffentliche Reputation der Homöopathie, nicht zuletzt jahrzehntelang durch den Binnenkonsens gestützt, massiv erodiert. Mehr und mehr Menschen sehen eine nicht nur medizinfachliche, sondern auch intellektuelle Zumutung darin, dass Homöopathie für eine wirksame medizinische Methode ausgegeben wird und empfinden dies als unhaltbaren Anachronismus.

Die Konstruktion des sogenannten Binnenkonsens im Paragrafen 38 des AMG stellt nichts weniger dar als die partielle Verkehrung des Sinns des AMG in sein völliges Gegenteil: Statt intersubjektive wissenschaftliche Maßstäbe an alles, was "Arzneimittel" sein will anzulegen, schafft er unter ausdrücklichem Verzicht auf Wirkungsnachweise einen nicht nachvollziehbaren Schutzraum für Mittel "besonderer Therapierichtungen" – ein "Schwarzes Loch" im Arzneimittelrecht.

Die fehlende Intersubjektivität darin ist offensichtlich: Niemand kann nach objektiven Maßstäben die Heilsversprechen der Homöopathie (oder auch der Anthroposophie) nachvollziehen. Nach über 200 Jahren bleibt es bei Behauptungen, die niemals nach intersubjektiven Kriterien irgendwie verifiziert werden konnten. Dies ist der unbestreitbare Stand der Wissenschaft, dem die Gesetzeslage unsinnigerweise widerstreitet und die interessierten Kreisen als Scheinbegründung ihrer unhaltbaren Positionen dient.

Es ist an der Zeit, dass der Gesetzgeber dazu nicht länger eine scheinbare Legitimation liefert und den Binnenkonsens des AMG revidiert. Im richtigen Verständnis gibt es nur eine Medizin: Diejenige, die wirkt. Diejenige, die die Frage "Wo ist der Beweis?" wissenschaftlich beantworten kann. Daneben braucht es weder Alternatives, noch Komplementäres, noch Integratives. Die Scheidegrenze zwischen Medizin und Nicht-Medizin ist die nach wissenschaftlichen Maßstäben nachgewiesene Wirksamkeit. Die Homöopathie bleibt seit über 200 Jahren jenseits dieser Scheidegrenze und kann sich auf nicht mehr berufen als auf eine gesetzliche Fiktion.

Wir hegen an Ihrer persönlichen Haltung zum Problem keinen Zweifel und sind angesichts der Tatkraft, die Sie bislang in Ihrem Amt bewiesen haben, überzeugt, dass unser Anliegen bei Ihnen in guten Händen ist. Geben Sie angesichts der geschilderten Umstände und der aktuellen Entwicklung die politische Zurückhaltung auf, die den Binnenkonsens bislang unangetastet gelassen hat! Werden Sie mit der Reputation und Autorität des unabhängigen Fachministers aktiv und ergreifen Sie die Initiative, dem unsäglichen Anachronismus des Binnenkonsens ein Ende zu machen und alle Mittel, die als Arzneimittel einen Marktzugang erlangen wollen, den gleichen Regeln zu unterwerfen. Eine sachlich unhaltbare gesetzliche Fiktion sollte nicht länger Basis von Irrtümern und Fehlinformationen über die Homöopathie sein und auch nicht mehr dazu dienen können, den Stand der Wissenschaft und diejenigen zu diskreditieren, die ihn öffentlich vertreten. In Gesetzesform gegossene Partikularinteressen sollten der Vergangenheit angehören, vor allem dann, wenn sie den Fakten widerstreiten.

Wir stehen Ihnen jederzeit mit unserer Expertise in jeder Ihnen genehmen Form zur Verfügung.

Hochachtungsvoll
Für das Informationsnetzwerk Homöopathie

Dr. med. Natalie Grams (Leiterin / Sprecherin)
Dr. med. Christian W. Lübbers (Sprecher)
Dr. Ing. Norbert Aust (Sprecher)