Missbrauch in der katholischen Kirche

Kirche könnte Milliardenentschädigung an Missbrauchsopfer leicht verkraften

Derzeit treffen sich die katholischen Bischöfe Deutschlands in Mainz auf ihrer Frühjahrsvollversammlung. Dort wird unter anderem um das weitere Vorgehen bei der Entschädigung von Missbrauchsopfern diskutiert.

Nach ihrer Frühjahrs-Vollversammlung 2019 beauftragten die deutschen Bischöfe eine unabhängige Arbeitsgruppe, neue Grundsätze für das Verfahren für "Anerkennungszahlungen" an Missbrauchsopfer zu erarbeiten. Zur Herbst-Vollversammlung 2019 wurden zwei Vorschläge präsentiert:

Entweder eine pauschale Zahlung von 300.000 Euro pro Opfer oder gestaffelte Zahlungen von 40.000 bis 400.000 Euro. Legt man die Zahl der Opfer aus der MHG-Studie (3.677; S. 5) zugrunde, ergibt sich ein Entschädigungsvolumen von rund einer Milliarde Euro. Natürlich ruderten die deutschen Bischöfe seitdem mit voller Kraft zurück, wie diverse Medienartikel zeigen.

Eine entscheidende Frage ist natürlich, ob sich die Bistümer Entschädigungen in der Größenordnung von einer Milliarde überhaupt leisten können. Die Antwort ist ein klares "Ja", wie eine Analyse der Jahresabschlüsse aller Bistümer zeigt.

Eine Milliarde – verteilt auf 27 Bistümer

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Eine Milliarde klingt erst einmal nach sehr viel Geld – und ist es auch. Allerdings gibt es in Deutschland 27 Bistümer. Das heißt: Im Durchschnitt müsste jedes Bistum "nur" 37 Millionen zahlen. Das sind schon mal zwei Größenordnungen weniger.

Allerdings unterscheiden sich die Bistümer ganz erheblich in Größe und finanzieller Leistungsfähigkeit. Das kleinste Bistum, Görlitz, hat nur 30.000 Katholiken, das größte, Köln, fast zwei Millionen. Es wäre also unfair, die Entschädigungssumme gleichmäßig auf die Bistümer aufzuteilen. Stattdessen wurde die Milliarde, von der die Rede ist, hier proportional zur Zahl der Katholiken auf die Bistümer verteilt. Auf ein großes Bistum entfällt dabei also ein großer Teil der Entschädigungssumme, auf ein kleines nur ein kleiner Teil. Statt dem eben erwähnten Durchschnittsbetrag von 37 Millionen erhalten wir Beträge von 1 Million für Görlitz bis zu 84 Millionen für Köln.

Das Finanzvermögen der Bistümer: 22 Milliarden brutto, 12 Milliarden netto

Insgesamt weisen die deutschen Bistümer Kassenbestände und Bankguthaben von 2,3 Milliarden Euro aus, darüber hinaus Wertpapierbestände, deren Buchwert sich auf knapp 20 Milliarden Euro beläuft. Der Marktwert dürfte noch höher sein (siehe Beispiel).

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Beispiel München: Dem Jahresabschluss des Erzbistums München und Freising lässt sich entnehmen, dass der Kurswert der Wertpapiere zum Bilanzstichtag um 181 Millionen Euro höher lag als der Buchwert, der in der Bilanz ausgewiesen ist.

Die Kassenbestände, Bankguthaben und Wertpapiere interessieren hier deshalb, weil diese Bilanzpositionen kurzfristig für die Zahlung der Entschädigungen zur Verfügung stünden. Weitere Finanzanlagen wie Beteiligungen wurden nicht betrachtet, weil Beteiligungen nicht einfach zu Geld gemacht werden können und die Beteiligungen auch kirchlichen Zwecken dienen können, die wir durch die Zahlung der Entschädigungen ja nicht beeinträchtigen wollen.

Gegen die bloße Betrachtung des Kirchen-Cashs und der Wertpapiere lässt sich berechtigterweise einwenden, dass die Wertpapiere (zumindest teilweise) zur Deckung der Pensions- und Beihilfeansprüche benötigt werden, die auf den Passivseiten der Bistumsbilanzen als Pensionsrückstellungen oder ähnliches ausgewiesen werden. Außerdem haben die Bistümer natürlich noch andere Zahlungsverpflichtungen, denen sie nachkommen müssen. Diese werden in den Bistumsbilanzen auf der Passivseite als Verbindlichkeiten ausgewiesen.

Folglich ist es nur fair, den Cash- und Wertpapierpositionen die Rückstellungen und Verbindlichkeiten – also alle Zahlungsverpflichtungen der Bistümer – gegenüberzustellen. Dabei zeigt sich, dass die Bistümer insgesamt über ein Netto-Finanzvermögen von über 12 Milliarden Euro verfügen, dem keine Ansprüche Dritter gegenüberstehen. Diese Mittel könnten kurzfristig für die Entschädigung von Missbrauchsopfern verwendet werden, ohne dass der Betrieb in den Bistümern beeinträchtigt würde. 12 Milliarden würden ausreichen, um 40.000 Opfer mit je 300.000 Euro zu entschädigen.

Mehr noch: Bis auf die Bistümer Berlin, Hamburg, Osnabrück und Würzburg reicht das kurzfristig frei verfügbare Finanzvermögen aller Bistümer aus, um den Entschädigungsanteil gemäß der Katholikenzahl abzudecken. In Würzburg reicht es fast aus.

Die Jahresüberschüsse der Bistümer

Auch, wenn die meisten Bistümer ihre Anteile an der Entschädigung problemlos zahlen können, könnte sich doch manch einer sorgen, dass hier Vermögen, das die Kirche über Jahrhunderte hinweg akquiriert hat, auf einen Schlag ausgegeben wird. Würde das die Bistümer finanziell nicht um Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte zurückwerfen?

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Allein die (bereinigten) Überschüsse aus den seit 2010 veröffentlichten Jahresabschlüssen belaufen sich bereits auf 2,5 Milliarden Euro. Dabei ist 2019 noch gar nicht enthalten.

Die Antwort ist: Nein. Die Jahresabschlüsse zeigen, dass die deutschen Bistümer insgesamt Jahr für Jahr Überschüsse von mehr als einer halben Milliarde Euro erwirtschaften – Geld, das eingenommen, aber nicht ausgegeben wird. Stattdessen erhöht es das Eigenkapital der Bistümer, d. h. deren Vermögen. Die Bistümer würden durch die Zahlung der Milliarde also nicht mal um zwei Jahre "finanziell zurückgeworfen".

Da es sich dabei um Gelder handelt, die nicht verwendet wurden (und in den meisten Bistümern auf absehbare Zeit auch nicht verwendet werden dürften), haben übrigens auch die Katholiken und Kirchensteuerzahler nichts davon gehabt. Wenn diese Mittel für die Entschädigung verwendet würden, würde das Leben in den Bistümern in keiner Weise beeinträchtigt.

Der naheliegende Einwand, dass das Eigenkapital der Bistümer zu großen Teilen in "zweckgebundenen Rücklagen" gebunden sei und daher gar nicht zur Verfügung stünde, greift zu kurz: Wie ich gleich noch zeigen werde, betreiben die deutschen Bistümer – wissentlich oder unwissentlich – bei den Rücklagen eine Art Schneeballsystem, bei dem die Rücklagen zwar aufgelöst, aber nie ausgegeben werden. Stattdessen werden immer höhere Rücklagen gebildet. Zumindest, solange ein Bistum weiterhin systematisch Überschüsse erwirtschaftet.

Die Überschüsse seit 2010

Nun könnte man freilich mit Fug und Recht sagen, dass die Bistümer zehn Jahre Zeit hatten, um Rücklagen für die Entschädigung der Missbrauchsopfer zu bilden. Da die meisten Bistümer erst nach 2010 auf das kaufmännische Rechnungswesen umstellten, liegen nicht für den gesamten Zeitraum Jahresabschlüsse "nach HGB" (also mit Bilanz und Gewinn- und Verlustrechnung) vor. Aber wenn man die durchschnittlichen Jahresüberschüsse auf zehn Jahre hochrechnet, kommt man auf über 5 Milliarden Euro. Die Entschädigungs-Milliarde würde also nicht einmal 20 Prozent ausmachen – nicht der Einnahmen oder der Kirchensteuern, sondern lediglich der Überschüsse, die die Bistümer in den letzten zehn Jahren erwirtschaftet haben.

Dass meines Wissens in den zehn Jahren seit dem Bekanntwerden des Missbrauchsskandals kein einziges Bistum Rücklagen für die Entschädigung von Missbrauchsopfern gebildet hat, spricht übrigens Bände darüber, wie ernst es den deutschen Bischöfen mit den Entschädigungen ist.

Wofür war hingegen Geld da? Das Erzbistum München und Freising zum Beispiel verschob 2015 und 2016 über Zustiftungen 473 Millionen Euro aus seiner Bilanz zur St. Antonius-Stiftung, 490 Millionen zur Bischof-Arbeo-Stiftung und 620 Millionen zur St. Korbinian-Stiftung – insgesamt über 1,5 Milliarden Euro. Die Bischof-Arbeo-Stiftung kümmert sich um den kirchlichen Nachwuchs (kirchliche Schulen, Kindergärten und -krippen sowie sonstige kirchliche Bildungshäuser), und die St. Korbinian-Stiftung verfolgt "Zwecke der Verwirklichung des Sendungsauftrages der Kirche und der Liturgie". Offenbar alles wichtiger als anständige Wiedergutmachungen für Missbrauchsopfer. Die St. Antonius-Stiftung verfolgt "Zwecke der Nächstenliebe", speziell "die Förderung des Liebesdienstes an den Armen und Bedürftigen". Auf Missbrauchsopfer hat sich die Nächstenliebe des Erzbistums München meines Wissens bisher nur sehr begrenzt erstreckt.

Fazit: Wenn nicht jetzt, wann dann?

Die Auswertung der Bistumsbilanzen zeigt: Die Bistümer könnten – zumindest gemeinsam, die meisten aber auch alleine – die Milliarden-Entschädigung für die Missbrauchsopfer völlig ohne Probleme schultern. Allein in den Jahren seit Bekanntwerden des Missbrauchsskandals haben die Bistümer Milliardenüberschüsse erwirtschaftet – Geld, das eingenommen, aber nicht ausgegeben wurde, und daher sofort für die Entschädigungen verwendet werden könnte, ohne dass das Leben in den Bistümern dadurch beeinträchtigt würde. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Bistümer nach dem Vorsichtsprinzip bilanzieren, das heißt die ausgewiesenen Werte für die Wertpapiere und die Überschüsse sind nur Mindestwerte. Zudem sollten die Bistümer sich zumindest Teile der Entschädigungszahlungen von den Tätern und den Orden zurückholen – und meines Erachtens durch Gehaltsverzicht auch von den Verantwortlichen in den Bistümern, allen voran den Bischöfen!

Aber darauf kommt es nicht an. Entscheidend ist, dass die finanziellen Rahmenbedingungen für die Zahlung der Entschädigungen nicht besser sein könnten.

Das heißt aber umgekehrt: Wenn die deutschen Bischöfe sich selbst unter diesen – geradezu paradiesischen (für die Kirche) – Bedingungen nicht dazu bereit erklären, anständige Entschädigungen zu zahlen, dann werden sie sich nie zu anständigen Entschädigungen bereiterklären.

In Anbetracht des finanziellen Überflusses, in dem die Bistümer schwelgen, ist es auch nicht akzeptabel, erst klären zu wollen, welches Bistum wieviel zahlt, wieviel Geld man sich von den Tätern zurückholen kann und ob die Orden in der Lage sind, ihren Anteil an den Entschädigungen zu zahlen. Insbesondere auch deshalb, weil bei den Tätern und den Orden sowieso kaum etwas zu holen sein dürfte – es verbietet sich daher, wegen dieser nebensächlichen Beträge die ganze Sache noch länger hinauszuzögern. Man würde sich wünschen, dass ein paar reiche Bistümer von sich aus aktiv würden und sagen: Wir finanzieren die Gesamtsumme vor, und welches Bistum schließlich wie viel zahlt, klären wir später unter uns. Ein einziges Erzbistum würde hierzu sogar schon ausreichen: Paderborn, Köln und München wären auch allein dazu in der Lage. Es könnten auch einfach alle Bistümer die Überschüsse der letzten zwei Jahre einbringen, und die Milliardenentschädigung wäre finanziert.

Über die letzten zehn Jahre sollte allerdings klar geworden sein, dass die Bischöfe (in ihrer Gesamtheit) nur auf öffentlichen Druck reagieren. Ich hoffe, mit dieser Auswertung dazu beizutragen, dass der Druck auf die Bischöfe erhöht wird und dass die Opfer endlich anständige Entschädigungen erhalten.

Bonus: Das Schneeballsystem mit den Rücklagen

Das Spiel mit den Rücklagen lässt sich am einfachsten an einer Gewinn- und Verlustrechnung erläutern:

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Das Erzbistum München und Freising hat 2018 einen Jahresüberschuss von 99 Millionen Euro erwirtschaftet. Das heißt: Die Erträge waren um diesen Betrag höher als die Aufwendungen, und das Eigenkapital erhöht sich um diesen Betrag.

Unter den Aufwendungen waren offenbar Maßnahmen, für die in Vorjahren 101 Millionen Euro zurückgelegt wurden – denn dieser Betrag wird den zweckgebundenen Rücklagen entnommen (Zeile 9). Die ursprüngliche Idee dabei ist, dass durch die Auflösung der Rücklagen die zusätzlichen Aufwendungen ausgeglichen werden, die in dem Jahr das Ergebnis belasten, in dem die Maßnahmen umgesetzt werden.

Nur: Das positive Jahresergebnis bedeutet, dass die Aufwendungen bereits aus den laufenden Erträgen des Jahres finanziert wurden. Das heißt: Die Rücklagen werden zwar "aufgelöst" – aber nicht ausgegeben. Vielmehr werden sie – zusammen mit dem Jahresüberschuss – in neue, noch höhere Rücklagen gesteckt. In der Gewinn- und Verlustrechnung spiegelt sich das darin wider, dass die Summe der Einstellungen in die Rücklagen exakt der Summe aus dem Jahresüberschuss plus der Entnahmen aus den zweckgebundenen Rücklagen entspricht – 199.967.573,44 Euro. Es wurden also Rücklagen von 101 Millionen Euro aufgelöst und neue Rücklagen in Höhe von 200 Millionen Euro gebildet. Im Vorjahr passierte genau das Gleiche: Es wurden Rücklagen von 156 Millionen Euro aufgelöst und neue Rücklagen in Höhe von 217 Millionen Euro gebildet.

Es passiert also folgendes: Das Bistum erklärt, nicht verwendete Mittel aus einem Haushaltsjahr in späteren Jahren für bestimmte Zwecke verwenden zu wollen. Dadurch gelten diese Mittel aus Haushaltssicht als "verbraucht". Tatsächlich sind die Mittel aber noch vorhanden – in Form der Rücklagen und damit als Teil des Eigenkapitals. Wenn dann in späteren Jahren die geplanten Maßnahmen tatsächlich durchgeführt werden, werden die zugehörigen Rücklagen aufgelöst. Tatsächlich werden die Maßnahmen aber nicht aus den Rücklagen finanziert, sondern aus den laufenden Erträgen des Jahres. Dies ist immer dann der Fall, wenn ein Bistum einen Jahresüberschuss ausweist. Also fast immer, bei fast allen Bistümern. Nun gelten die Mittel nicht nur haushaltsmäßig, sondern auch bilanzmäßig als "verbraucht" – tatsächlich wurden sie aber nie ausgegeben und erhöhen das Eigenkapital, also das Bistumsvermögen.

Es gilt: Solange ein Bistum einen Jahresüberschuss ausweist, heißt das, dass auch die Maßnahmen, für die Rücklagen gebildet wurden, aus den laufenden Erträgen finanziert wurden. In diesem Fall werden die Rücklagen nur aufgelöst, aber nicht wirklich ausgegeben. Da die meisten Bistümer Jahr für Jahr Überschüsse erwirtschaften, schieben sie eine "Lawine" von immer höheren Rückstellungen vor sich her. Tatsächlich erhöht sich dadurch das Eigenkapital, also das Bistumsvermögen.

Das hat nur bisher keiner gemerkt.


Link zu bistumsfinanzen.info:

Die Jahresüberschüsse, Umsatzrenditen und frei verfügbaren Finanzmittel der deutschen Bistümer


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