Hunderttausende auf den Straßen, Oppositionskandidatinnen im Exil und Berichte über großangelegte Militäroperationen zur Unterdrückung der Proteste: Eine Woche nach der fingierten Wahl in Belarus stemmt sich der amtierende Präsident Alexander Lukaschenko verzweifelt gegen seine Absetzung. Der "letzte Diktator Europas" hat sämtlichen Rückhalt in der Bevölkerung verloren, selbst staatseigene Betriebe blasen zum Generalstreik.
Die Geschichte der Präsidentschaftswahl 2020 in Belarus ist vom Drehbuch eines James Bond kaum zu unterscheiden, so undurchsichtig, ja beinahe mafiös, präsentiert sich die Chronologie. Nachdem der bekannte oppositionelle Blogger und YouTuber Siarhei Tsikhanouski im Mai, nur zwei Tage nach Ankündigung seiner Präsidentschaftskandidatur, verhaftet wurde, führte seine Frau, Swetlana Tichanowskaja, die Kampagne weiter. Sie und zwei weitere Oppositionskandidatinnen, Veronika Tsepkalo und Maria Kolesnikova, legten am 17. Juli ihre Kampagnen schließlich unter dem Motto "Female Solidarity" zusammen. Zuvor war Veronika Tsepkalos Arbeitgeber verhaftet worden, der Ehemann von Maria Kolesnikova flüchtete mit beiden Söhnen aus dem Land. Auch die Kinder von Tichanowskaja wurden Ende Juli in der Europäischen Union in Sicherheit gebracht.
Dass die Wahlen am 9. August weder frei noch gleich waren, das hat die EU bereits festgestellt: Der von der Regierung ausgewiesene Erdrutschsieg Lukaschenkos, der mit über 80 Prozent der Stimmen gegen die Kandidatin der Opposition gewonnen haben soll, ist eine vollkommene Farce.
Seit dem Wahltag finden sich immer mehr Menschen auf den Straßen des Landes ein, um weiß-rot-weiße Fahnen zu schwenken – die Farben der demokratischen Opposition – und Druck auf Lukaschenkos bröselndes Regime auszuüben. Die Forderungen der Protestierenden reichen vom Abtritt des Präsidenten über Neuwahlen bis hin zur Freilassung sämtlicher in den letzten Wochen und Monaten inhaftierten Oppositionellen und Protestierenden.
Alexander Lukaschenko versuchte daraufhin, loyale Anhänger für einen Protest zu mobilisieren und scheiterte krachend, als sich mindestens 100.000 Menschen zur Gegendemonstration in Minsk einfanden, wie der Spiegel berichtet. Die Ereignisse erinnern an die letzten Tage des rumänischen Diktators Nikolae Ceausescu, an die beeindruckenden Szenen, als das Volk eine live im Staatsfernsehen übertragene öffentliche Rede Ceausescus mit Buhrufen und Pfiffen kaperte, bevor die Menschen das Regierungsgebäude stürmten.
Dass Totalitaristen nicht kampflos aufgeben, ist bekannt. Dass dabei kein Menschenrecht gewahrt bleibt, ebenfalls. Der Deutschen Welle zufolge wurden allein in der letzten Woche über 7.000 Menschen bei den Protesten verhaftet. Die Opfer dieser despotischen Willkürmaßnahmen berichten von körperlicher und psychischer Gewalt, von Schlägen und Fesselungen, Drohungen gegen die eigene Familie und davon, dass ihnen Nahrung und Wasser verweigert wurden. Die internationale Menschenrechtskonvention kennt ein Wort hierfür: Folter.
Doch die drakonischen Einschüchterungsversuche des Regimes können die Menschen des Landes nicht von der Straße bringen, können über den unüberbrückbaren Graben zwischen Lukaschenkos Realität und der der Menschen nicht hinwegtäuschen: In einem Land, dessen noch amtierender Präsident Frauen schlicht aufgrund der Tatsache, dass sie Frauen sind, als für politische Ämter ungeeignet betrachtet, sind es gerade die Frauen, die den Prozess der demokratischen Revolution unaufhaltsam vorantreiben. Sie formen menschliche Ketten und stellen sich den Sicherheitskräften entgegen, ungeachtet des Risikos für Leib und Leben.
Die Frauen sind es, die die landesweiten Generalstreiks ins Rollen bringen, selbst das Staatsfernsehen zeigt nur noch leere Studios. Die Frauen sind es, die zur internationalen Solidarität aufrufen, und sich damit zur Zielscheibe des totalitaristischen Regimes machen.
Wie real das Risiko für Oppositionelle in Belarus ist, zeigen nicht nur die Bilder und Aussagen der Verhafteten, sondern auch die Tatsache, dass sich nur noch eine der drei ursprünglichen Oppositionskandidatinnen, nämlich Maria Kolesnikova, in Belarus befindet. Swetlana Tichanowskaja, die vermeintliche Siegerin der Wahl, ist kurz nach Bekanntgabe der offiziellen Ergebnisse nach Litauen geflohen. Von dort richtete sie sich am 17. August in einer Videoansprache an das belarussische Volk: "Ich bin bereit, die Verantwortung zu tragen und während der Übergangszeit die Führung der Nation zu übernehmen."
6 Kommentare
Kommentare
Gerhard Baierlein am Permanenter Link
Ja gut so, Frauen an die Macht, Völker die von einem Matriarchat regiert wurden hatten immer eine Blütezeit, aber seit überwiegend Patriarchate regieren, geht es mit den dortigen Ländern bergab.
Petra Pausch am Permanenter Link
Sein Sie doch so gut, Herr Baierlein, das mit Fakten zu untermauern. Welche Völker wurden von einem Matriarchat regiert und inwiweit war das besser?
Gerhard Baierlein am Permanenter Link
In der Antike sind Matriarchate bekannt und noch heute gibt es welche.
So z. B. in Mosuo, China, in Khasi, Indien, in Juchita'n Mexiko.
David See am Permanenter Link
das liest man auch bei Arno Gruen, Matriachat ist die Lösung. ich selber arbeite eher im Matriachat und in meinen Vereinen übernehmen nun auch Frauen mehr und mehr Verantwortung und das funktioniert viel besser.
Lars Temme am Permanenter Link
Sehr geehrter Herr Beck,
ich weiß wirklich nicht, woher Ihr Wunsch rührt, den Protesten in Belarus den 'Spin' zu geben, dass "Frauen ausschlaggebend sind". Sie betonen, dass Frauen "Leib und Leben" riskieren, und dass es "die Frauen sind, die zur internationalen Solidarität aufrufen, und sich damit zur Zielscheibe des totalitaristischen Regimes machen". All das mit dem erkennbaren Ziel, Frauen bei diesen Protesten als gefährdeter, dennoch bzw. gerade deshalb mutiger und bedeutender darzustellen, als Männer.
Dumm nur, dass die Realität anders aussieht. Ich schätze die Praxis der hpd-Autoren, Links in ihre Texte einzubauen. Nur sollten diese Links auch das belegen, was im Text behauptet wird. Bei Ihnen belegen sie stellenweise das Gegenteil. Im einzelnen:
Im Beitrag der Deutschen Welle werden drei Folteropfer der belarussischen Proteste interviewt - alles Männer. Könnte Zufall sein, im nächsten verlinkten Text ("Folter") wird über weite Strecken eine Frau interviewt. Doch was erzählt sie? Dass sie nach vierzehn Stunden Tortur wieder freigelassen wurde, ihr Freund allerdings, der zusammen(!) mit ihr verhaftet wurde, bis dato immer noch nicht wieder aufgetaucht ist! Allgemein heißt es: "She is very worried because men appear to be treated much worse than women, according to witness accounts." Übersetzung: Laut Zeugenberichten werden Männer noch viel schlimmer misshandelt als Frauen. Was übrigens gängige Praxis bei so ziemlich allen gewalttätigen Unruhen ist. Gegenüber Männern gibt es weniger Erbarmen als gegenüber Frauen.
Trotzdem erfordert es natürlich auch von Frauen Mut, "menschliche Ketten zu bilden und sich den Sicherheitskräften entgegen zu stellen". Meinen Respekt dafür. Aber, ganz ehrlich: Mein Respekt gegenüber den Männern ist noch größer, denn wie gesehen, riskieren die sogar noch mehr. Ihr Link zu "landesweiten Generalstreiks" berichtet von Streikenden in Traktorenfabriken und Kalisalzminen. Welches Geschlecht haben die wohl mehrheitlich, wer arbeitet in diesen Branchen? Und sind es wohl Männer oder Frauen, die Lukaschenko bei einer Rede vor den Arbeitern einer Waffenfabrik in Minsk ihren Unmut von Angesicht zu Angesicht gezeigt haben? Von Frauen, "die die landesweiten Generalstreiks ins Rollen bringen", steht da nichts. Der Link zu den leeren Studios zeigt leere Studios, und der Aufruf zur internationalen Solidarität wird, von ich das richtig verstehe, von Frauen außerhalb(!) Belarus' verbreitet - außerhalb der Reichweite des Regimes fällt es sicherlich leichter, sich "zur Zielscheibe zu machen". Auch das ist nicht ungefährlich, aber wo sind Ihre Belege, dass Frauen besonders, und das kann nur heißen: im Vergleich zu Männern, engagiert und gefährdet wären?
Was übrig bleibt, ist die Tatsache, das auch drei Frauen derzeit eine führende Rolle in der Protestbewegung einnehmen. Vielleicht gibt es noch viel mehr Männer, aber davon wird nicht berichtet. Wie schon in der Ukraine reicht es vielen Medien, dass eine Frau, damals Julia Timoschenko, sichtbar an der Spitze der Proteste steht. Mich würde aber anstatt ihres Geschlechts viel mehr interessieren, was ihre Ziele sind, wie ihre Vergangenheit aussieht, welche politischen Verbindungen sie hat. Würde die Lage in Belarus besser, wenn Swetlana Tichanowskaja die Macht übernähme, oder könnte es sich bloß um eine Machtverschiebung hin zu einem neuen Diktator handeln? Betreibt sie nach der Machtübernahme den Ausverkauf des Landes, um sich selbst zu bereichern, bis die Menschen sich vor lauter sozialem Elend Lukaschenko zurückwünschen? Wie ist es um ihre Integrität bestellt? Nur zur Erinnerung, auch Julia Timoschenko war bloß eine korrupte Oligarchin, die in der Ukraine null verbessert hat. Das interessiert mich, und keine Lobhudeleien auf Frauen als etwas ganz besonderes, die jeglicher Grundlage entbehren.
Ich hoffe, Sie verzeihen mir meinen leicht angesäuerten Ton. Wir leben in einer Gesellschaft, in der "alte weiße Männer" eine kaum widersprochene Beschimpfung darstellt, und in der Frauen als benachteiligt gelten, während es in Wahrheit haufenweise Förderprogramme und selbst gesetzliche Vorzugsbehandlungen für sie gibt. All dies, meiner Meinung nach, weil die Gesellschaft es sich angewöhnt hat, sowohl Leid als auch Leistungen von Männern zu ignorieren, Leid und Leistungen von Frauen hingegen besonders herauszustellen. Da ich mit dem Gedanken von Gleichberechtigung und Gleichwertigkeit von Mann und Frau groß geworden bin, bin ich nicht bereit, diese Ungleichbehandlung von Männern und Frauen hinzunehmen.
Mit freundlichen Grüßen
Lars Temme
Rohlfs am Permanenter Link
... wollen wir hoffen, daß die Menschlichkeit siegt und hoffen, daß die Frauen sich nicht instrumentalisieren lassen...
Nur zu häufig sehen wir doch, dass gegenwärtig Demokratien lediglich Scheindemokratien sind, in denen das Volk eben nichts mehr zu sagen hat, sondern faschistische neoliberale Großkonzerne und ihre Lobbyisten die demokratische Gewaltenteilung zersetzt haben.