Interview

Antisemitismus findet nicht nur an den Rändern statt

Das Ende des Naziregimes mit all seinem Leid, den menschverachtenden Ideologien, dem Krieg, der Schoah, der Vernichtung von Sinti und Roma, der Verfolgung von Homosexuellen und vielen weiteren ist noch keine 80 Jahre her. Die grausamen Erfahrungen, die die Menschen zu dieser Zeit machen mussten, sind durch unzählige Schriftstücke, Tonbänder und Videoaufnahmen für jeden einsehbar festgehalten. Dennoch werden rassistische sowie antisemitische Weltbilder in Europa und vor allem auch in Deutschland immer populärer. Im Bund und in allen 16 Bundesländern ist mittlerweile eine rechtsextreme Partei im Parlament vertreten, in manchen davon sogar mit über 20 Prozent der Stimmen. Doch es regt sich auch Widerstand aus Politik und Gesellschaft. Der hpd hat zu diesen Themen ein Interview mit dem Leiter der Bildungsstätte Anne Frank Dr. Meron Mendel geführt.

hpd: Die Bildungsstätte Anne Frank möchte die Gesellschaft im Hinblick auf Antisemitismus, Rassismus und weitere Formen der Menschenfeindlichkeit sensibilisieren. Wie können solche Denkmuster erkannt und eingedämmt werden?

Dr. Meron Mendel: Sozialwissenschaftliche Studien zeigen, dass antisemitische und rassistische Einstellungen in der Gesellschaft weit verbreitet sind, aber oftmals nicht als solche erkannt werden. Ein gutes Beispiel dafür ist das vermeintliche Lob "Sie sprechen aber gut deutsch" zu einer Schwarzen Person, die in Deutschland geboren und aufgewachsen ist. Es mag nett gemeint sein, aber dahinter verbirgt sich die Vorstellung, dass die angesprochene Person nicht "deutsch" sein kann, weil sie Schwarz ist. Wir nennen solche Formen "Alltagsrassismus" oder "Mikroaggressionen". In unserer Bildungsarbeit setzen wir zunächst hier an und laden die Teilnehmer:innen dazu ein, ihre eigenen Stereotype und Weltbilder zu reflektieren. Es ist wichtig, zu erfahren, dass antisemitische oder rassistische Äußerungen nicht zwangsläufig bewusst oder absichtlich gemacht werden müssen, um zu verletzen. Eine zentrale Botschaft unserer Angebote ist daher, die Perspektiven der Betroffenen von Antisemitismus und Rassismus ernst zu nehmen.

Auf Ihrer Website finden sich eine Reihe von Angeboten aus dem Bereich der Bildungs- und Aufklärungsarbeit etwa zu den Themen Antisemitismus, Diskriminierung und Hate Speech. An wen richten sich diese Workshops und Vorträge und wie werden die Inhalte dabei vermittelt?

Als unsere Einrichtung im Jahr 1994 gegründet wurde, hieß sie noch Jugendbegegnungsstätte Anne Frank und richtete sich folglich vor allem an Jugendliche. Vor etwa zehn Jahren haben wir uns entschlossen, unser Angebot auszuweiten und mit unseren Themen möglichst viele Menschen zu erreichen. Mittlerweile bieten wir neben unserem Lernlabor "Anne Frank. Morgen mehr." auch eine Wanderausstellung und wechselnde Sonderausstellungen sowie zahlreiche Workshops für Jugendliche an. Dazu kommen Fortbildungen für Lehrer:innen und andere Multiplikator:innen im pädagogischen Bereich, Fachtagungen für Wissenschaftler:innen sowie Vorträge und Workshops in Wirtschaftsunternehmen. Darüber hinaus beraten wir Museen und Kultureinrichtungen zum Umgang mit Antisemitismus, Rassismus und Diskriminierung. Außerdem haben wir zwei Beratungsstellen im Haus, die Betroffene von rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt sowie von Diskriminierung unterstützen.

Dabei ist es uns wichtig, die Inhalte nicht nach Schema F zu vermitteln, sondern uns am Anspruch der Teilnehmer:innen zu orientieren. Wir entwickeln unsere pädagogischen und beraterischen Methoden kontinuierlich weiter und beziehen dabei systematisch auch das Feedback von jugendlichen und erwachsenen Teilnehmer:innen ein.

Worin sehen Sie die Ursachen für ein Erstarken rassistischer und antisemitischer Weltbilder und welchen Anteil haben soziale Bewegungen wie Pegida und Parteien wie die AfD daran? Gibt es weitere gesellschaftliche Akteure, die Sie hierbei in die Verantwortung nehmen?

Wir haben in den vergangenen Jahren in vielen Teilen der Welt ein Erstarken rechter Kräfte und ihrer prominenten Repräsentant:innen erlebt – von Donald Trump über Viktor Orbán und Recep Tayyip Erdoğan bis hin zu deutschen Akteur:innen im Kontext von AfD und Pegida. Die Gründe dafür sind komplex, doch in jedem Fall kommt die AfD nicht aus dem Nichts: Wie bereits erwähnt, sind rassistische und antisemitische Weltbilder in der Gesellschaft weit verbreitet und die AfD versteht es leider sehr gut, diese Weltbilder zu mobilisieren, Ängste zu schüren und gegen Minderheiten zu hetzen. Sie ist also, wenn man so will, zugleich Symptom als auch Katalysator antisemitischer und rassistischer Ressentiments. Um ihren Einfluss einzudämmen, sind wir alle gefordert: Die Medien, die sehr kritisch mit den oft chiffrierten Hassbotschaften dieser Partei umgehen müssen, die Politik, die jede Zusammenarbeit mit dieser Partei ablehnen muss und natürlich zivilgesellschaftliche Institutionen wie die Bildungsstätte Anne Frank, die über die Ideologie und die Ziele dieser Partei aufklärt.

Antisemitismus gibt es in direkter Form von Anfeindungen oder Anschlägen, aber es gibt auch unterschwelligen Antisemitismus, etwa in Form von bestimmten Begriffen in Songtexten oder Chiffren in den Sozialen Netzwerken. Wie kann auch dieser zweiten, eher versteckteren Form beigekommen werden?

Antisemitische Ressentiments haben sich in den vergangenen Jahrhunderten als ausgesprochen langlebig erwiesen – und zwar genau deshalb, weil sie so wandelbar sind. Seit dem Ende des Nationalsozialismus ist offener Judenhass zwar fast überall verpönt, aber stattdessen finden sich antisemitische Ressentiments in vermeintlich sachlicher "Kritik" am israelischen Staat oder in personalisierter Kapitalismuskritik, die alles Übel auf die Familien "Rothschild" oder "Soros" projiziert. Um diesen Formen beizukommen, hilft nur eins: Aufklärung! Denn nur, wer erkennt, dass es sich bei dieser oder jener Aussage um versteckten Antisemitismus handelt, kann sich wirkungsvoll dagegen positionieren.

Häufig sind im Zusammenhang mit Antisemitismus Rechtsextremist:innen und islamistische Fundametalist:innen im Fokus. Kommen bestimmte Delikte im Allgemeinen eher aus der einen oder anderen Richtung und falls ja, was folgt daraus für die Arbeit Ihrer Bildungsstätte?

Rechte und islamistische Radikalisierung ist in den vergangenen Jahren zu einer der größten Herausforderungen im Bereich der politischen Bildung geworden, der wir mit vielen unterschiedlichen Angeboten begegnen. Zugleich besteht aber auch eine gesellschaftliche Tendenz, Antisemitismus ausschließlich an den sogenannten "Rändern" der Gesellschaft zu verorten – also in extrem rechten Kreisen oder bei islamistischen Fundamentalist:innen. Das kann eine Strategie sein, alltäglichere und verbreitete Formen von Antisemitismus abzuwehren oder kleinzureden. In der Bildungsstätte Anne Frank haben wir daher vielseitige Konzepte im Kontext von Radikalisierung entwickelt: Zum einen schulen wir pädagogische Kräfte darin, Tendenzen von Radikalisierung zu erkennen, ohne dabei Schüler:innen fälschlicherweise Radikalität zuzuschreiben – und damit mehr Schaden anzurichten als zu verhindern. Zum anderen bieten wir Beratung und Begleitung im Umgang mit Jugendlichen an, die tatsächlich im Begriff sind, sich zu radikalisieren. Schließlich haben wir, und darauf bin ich ganz besonders stolz, kürzlich das Computerspiel "Hidden Codes" entwickelt, das Jugendliche für rechte und islamistische Radikalisierung in ihrer Peer Group sensibilisiert.

Wie bewerten Sie den Umgang mit den rechts-esoterischen Querdenken-Demonstrationen? Immer wieder kommt es dort zu antisemitischen Äußerungen oder zur Schau getragenen Einstellungen wie etwa über einen Davidstern mit der Aufschrift "ungeimpft" oder Vergleichen von Maskenpflichten mit den Repressalien des Nazi-Regimes und der Tötung einer Sophie Scholl. Sollte der Staat hier stärker eingreifen?

Diese sogenannten "Querdenker:innen" sind ein Beispiel für die Anschlussfähigkeit antisemitischer Verschwörungsideologien und von Geschichtsrevisionismus an Ressentiments, die in weiten Teilen der Gesellschaft verbreitet sind – denn die wenigsten Teilnehmer:innen dieser Demonstrationen würden sich als rechts oder gar antisemitisch begreifen. Rechtextremisten wie (Name entfernt, d. Red.) Attila Hildmann leugnen inzwischen offen den Holocaust. In solchen extremen Fällen muss der Staat frühzeitig eingreifen.

Sie setzen sich für mehr Integration ein, sodass sich Menschen mit verschiedenen kulturellen Hintergründen als ein "deutsches Wir" empfinden können. Wie kann ein solches identitätsstiftendes Gemeinschaftsgefühl ohne völkische oder anderweitig exkludierende Narrative entstehen?

Ich bin davon überzeugt, dass Gemeinschaftsgefühl nicht zwangsläufig etwa über die Ideologie von "Blut und Boden" entstehen muss. Gerade in Zeiten von Corona wird deutlich, dass die gemeinsamen Herausforderungen, vor denen alle Menschen in diesem Land stehen, uns zusammenhalten. Es zählt nicht, wo deine Großeltern geboren sind, sondern wie wir beispielsweise Menschen in Risikogruppen unterstützen. So drückt sich Solidarität aus.

Welche konkreten Ziele und Projekte haben Sie für die nahe Zukunft?

Die aktuellen gesellschaftlichen Debatten sind oft polarisiert und aggressiv. Wir entwickeln daher gerade neue Dialogformate, um eine konstruktive und respektvolle Streitkultur zu fördern, wie beispielsweise unser Format "Streitbar". Allgemeiner formuliert wäre das Ziel, zu einer Gesellschaft zu finden, in der alle Menschen unabhängig von ihrem persönlichen Glauben oder Unglauben in Frieden miteinander leben können. Dazu möchten wir mit der Bildungsstätte Anne Frank einen Beitrag leisten.

Das Interview führte Constantin Huber für den hpd.

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