Trotz Impfung, Aufklärungskampagnen, Expertise erlebt die Gesellschaft eine möglicherweise verheerende vierte Corona-Welle. Nach wie vor fehle ein Konzept, um Kinder und Heranwachsende zu schützen, kommentiert die Ärztin Natalie Grams-Nobmann.
Herbst 2021. Die Inzidenzen steigen, die täglichen Neuinfektionen erreichen neue Rekordwerte, Menschen sterben an Covid-19. Nach wie vor fehlt offenbar ein Konzept, um Kinder und Heranwachsende zu schützen, vor allem in den Schulen.
Herbst 2021. Die Impfquote stagniert, die Zahl der konsequenten Impfverweigernden ist erschreckend hoch. Intensivstationen sind nahe am Limit, und es können weniger Intensivbetten als im letzten Winter belegt werden – weil das Fachpersonal fehlt.
Herbst 2021. Ärzte, Ärztinnen und Pflegekräfte stehen wieder unter unmenschlichem Druck, Triagen sind nicht mehr ausgeschlossen. Ärger macht sich Luft: Warum verursachen ungeimpfte Erkrankte schwere Krankheitsfälle, um die es sich zu kümmern gilt, obwohl sie vermeidbar waren? Ungeimpfte gibt es aber gleichzeitig auch beim medizinischen Personal – eine Impflücke, die noch ordentlich Probleme machen könnte.
Die vierte Welle nimmt uns in den Griff, die Zahlen steigen wieder einmal exponentiell. Höchstwahrscheinlich wird das ein harter Winter für uns.
Andererseits sehe ich auf den Straßen und Plätzen Menschen, die sich benehmen, als herrschte völlige Normalität. Juhu, Karneval! Gleichzeitig kämpft sich die Impfkampagne nur mühsam vorwärts – trotz aller Aufklärung darüber, wie wichtig der Impfschutz als eine Komponente für die Bewältigung der Pandemie bleibt. Am 12. November 2021 waren nur knapp 70 Prozent der Gesamtbevölkerung mindestens einmal geimpft, etwas weniger haben den vollen Impfschutz, und nun braucht es zur Stabilisierung des Impfschutzes die 3. Impfung, den "Booster". Es bleibt also mühsam – und die Ergebnisse der letzten COSMO-Befragungsrunde sind zusätzlich erschreckend: Satte 64 Prozent (!) der bisher Ungeimpften sind demnach "auf keinen Fall" bereit, sich impfen zu lassen.
Schön wär's gewesen
Dabei hatte das Robert Koch-Institut doch vorgerechnet, wie wir uns die vierte Welle sparen können: Bei einer Impfquote von 85 Prozent bei den 12- bis 59-Jährigen und 90 Prozent bei den Älteren, schrieb das RKI im Juli im "27. Epidemiologischen Bulletin", werde es "eine vierte Welle im Herbst und Winter wahrscheinlich nicht geben". Wie lange scheint das her zu sein. Wie hoffnungsvoll war man da noch. Tja. Glatt verfehlt, das schöne Ziel.
Denn jetzt ist Herbst 2021, siehe oben. Das Haupt-Infektionsgeschehen spielt sich vorrangig (wenn auch nicht ausschließlich) in der Gruppe der Ungeimpften ab – schlimm genug für diese Betroffenen selbst, doch es verlängert auch die Pandemie für alle. Womöglich sogar mit einem Gummibandeffekt: Wenn das Infektionsgeschehen so weitergeht, werden sich die Impfdurchbrüche häufen, weil bei vielen – vor allem alten – Menschen der Impfschutz schon nachlässt. Neue Virusmutationen wie die gerade auftauchende Untervariante des Delta-Typs namens AY.4.2 machen die Aussichten nicht rosiger.
Wie gesagt: wäre vermeidbar gewesen. Vor allem durch eine hohe Impfquote, was in Europa Länder wie Spanien oder Portugal belegen. Ein konsequentes Durchhalten der elementaren AHA-Maßnahmen hätte auch geholfen. Die Gebrauchsanweisung war ja da, nur haben zu viele sie achtlos liegen lassen, weil Sommer, Bundestagswahl, und überhaupt, hat ja auch genervt. Fakten? Offensichtlich zweitrangig.
Diese Haltung nimmt manchmal Formen an, die mich wirklich schockieren. Laut der schon erwähnten COSMO-Umfrage lassen sich Impfverweigernde zum Beispiel nicht einmal dann umstimmen, wenn Ungeimpfte auf Intensivstationen nachrangig versorgt werden würden (ein rein hypothetisches Szenario, das lediglich für die Befragung in Aussicht gestellt wurde).
Viele scheinen ebenso wenig in der Lage, eine ordentliche Risikoabschätzung hinzubekommen, etwa einzuordnen, was "exponentielles Wachstum" bedeutet. Sie beten ganze Listen von Nebenwirkungen herunter – als Argument gegen das Impfen. Für sie spielt die schlichte Tatsache kaum ein Rolle, dass es sich durchweg um sehr seltene Nebenwirkungen der Impfung handelt – und dass viele dieser Nebenwirkungen im Zuge einer Covid-19-Infektion viel häufiger und viel schwerer ausfallen und zu tatsächlichen "Langzeitschäden" führen können. Dabei wäre die Rechnung doch gar nicht schwer: Früher oder später werden sich alle infizieren, die nicht geimpft sind. Und bei allen steht in der Bilanz auf der einen Seite das Risiko seltener, oft geringfügiger Nebenwirkungen im Zuge der Impfung – und auf der anderen Seite das Risiko, durch das Virus mit schwerem Verlauf zu erkranken und infektionsbedingte Nebenwirkungen mit Aussicht auf dauerhafte Schäden zu erleiden.
Die Folgen einer nicht ausgeglichenen Bilanz
All das ist nicht neu. Auch hier in meiner Kolumne habe ich das längst in unterschiedlichsten Aspekten erklärt. Jetzt allerdings habe ich gerade das Gefühl, vor einer Mauer zu stehen. Es gab einmal Konsens darüber, dass wichtige Entscheidungen auf der Basis von Fakten getroffen werden müssen. Wo ist dieser Konsens hin? Können noch mehr Aufklärung und noch mehr Mühen um Information noch etwas bewirken? Oder spüren wir hier schon ganz deutlich Auswirkungen einer "postfaktischen" Ära, einer Gleichgültigkeit gegenüber dem Unterschied zwischen Fakten und Meinungen, die wir durch politische und gesellschaftliche Versäumnisse nicht verhindern konnten?
Die Anzeichen einer Spaltung in unversöhnliche Lager sind jedenfalls bereits deutlich. Ungeimpfte beschweren sich über den auf sie ausgeübten "Druck" und darüber, dass sie zum "Sündenbock" gemacht würden. Geimpfte nennen Ungeimpfte "Geiselnehmer": Sie seien verantwortlich für ein Hochschaukeln der Pandemie, für unnötige Krankheitslast und vermeidbare Todesfälle; es gäbe eine "Tyrannei der Ungeimpften".
Aber solche Zuschreibungen machen nichts leichter, auch wenn man dadurch mal Dampf ablassen kann. Dissens und Streit werden uns nicht helfen. Auch nicht nach der Pandemie: Es ist zu erwarten, dass durch die neu entwickelten Techniken die Bedeutung von Impfungen zur Krankheitsprophylaxe in Zukunft rasant steigen wird. Eine Opposition von einem Drittel Impfverweigernden mit hoher Faktenresistenz können wir uns dann ebenso wenig leisten wie derzeit in der Pandemie.
Fraglich ist, ob diese Opposition kleiner oder nur lauter wird, wenn gegen die Impfverweigerung nun eine Impfpflicht eingeführt wird. Eine strenge Impfpflicht für alle, wäre die vielleicht schlicht überambitioniert und rechtlich fragwürdig? Kommt sie, wenn sie käme, überhaupt noch rechtzeitig? Würde sie vielleicht sogar mehr Schaden anrichten als nützen, weil sie nur mit enormem Aufwand zu organisieren, zu überwachen und durchzusetzen ist? Reicht auf der anderen Seite eine selektive Impfpflicht aus – etwa eine für medizinisches Pflegepersonal oder Lehrerinnen und Lehrer?
Schön wär's gewesen, wenn es längst unnötig wäre, sich solche Fragen zu stellen. Angesichts der vierten Welle geht einem, mit Blick auf eine Übermacht an Ignoranz, jedenfalls leicht die Puste aus – auch mir. Bedauerlich und bedenklich ist, wenn die Politik in einer Art Schockstarre verharrt, sobald eine von wissenschaftlicher Seite wieder und wieder angemahnte Entwicklung dann, Überraschung!, eintritt wie vorherzusehen. Ich muss es einfach so sagen: Es ist zum ... Weitermachen. Ich glaube, dass die Aufklärung nicht aufgeben wird – das hat sie noch nie getan.
Übernahme mit freundlicher Genehmigung von spektrum.de.
12 Kommentare
Kommentare
A.K. am Permanenter Link
Es ginge auch ohne Impfung, wenn
- Jeder die Anzahl der Kontakte (auch Privat) reduziert
- Jeder die Kontaktdistanz einhält
- Jeder die Kontaktdauer begrenzt
- Jeder sich durch eine Maske schützt
Alles eine Frage der Eigenverantwortung, ganz ohne staatlichen Zwang. Gilt übrigens für Geimpfte genauso, wie für Ungeimpfte.
Manfred H. am Permanenter Link
Nur nicht aufregen. Schließlich ist in vier Wochen erst Winteranfang.
In den nächsten Monaten gibt es für unsere Mandatsträger definitiv noch jede Menge zu versemmeln.
Die schaffen das. Garantiert.
Gerhard Baierlein am Permanenter Link
Unter ca. 30% Idioten müssen ca. 70% der klugen Bürger leiden, woran erinnert mich das bloß ?
Konrad Schiemert am Permanenter Link
Eine allgemeine Impfpflicht würde durch neue Konflikte mehr schaden als nutzen. Eine Impfplicht für gefährdete und gefährdende Arbeitnehmer halte ich für selbstverständlich.
Hans Trutnau am Permanenter Link
Vielleicht können wir von Afrika lernen?
René am Permanenter Link
Natürlich kann man von Afrika, China, USA, Südkorea, aus Fehlern, von wem oder woraus auch immer lernen. Aber worum geht es in Deiner Frage überhaupt genau? Ich suche den konkreten Zusammenhang.
Hans Trutnau am Permanenter Link
René, es ging mir darum:
Hier z.B.: https://www.spiegel.de/ausland/hohe-durchseuchung-und-niedrige-sterblichkeit-in-afrika-a-5b16ecd0-1803-4659-8405-3696c0ef55cb
oder hier: https://www.geo.de/wissen/pandemie-vierte-corona-welle-in-teilen-afrikas---6-6-prozent-geimpft-30960858.html
Und eine Ärztin (Angelique Coetzee), die offenbar maßgeblich an der Entdeckung der neuen Südafrika-Mutante beteiligt war, meinte sogar, sie sei überrascht über den "Hype" dieser Variante. https://www.n-tv.de/panorama/Suedafrikanische-Arztin-Nur-milde-Erkrankung-bei-Omikron-article22961434.html.
Will sagen, das Thema könnte über Gebühr aufgebauscht worden sein.
Ich kann aber Ängste von Leuten, die Angehörige verloren / verlieren (oder befürchten, sie zu verlieren), durchaus nachvollziehen!
Manfred H. am Permanenter Link
Wieso sollte das Thema denn bei uns über Gebühr aufgebauscht worden sein?
Haben Sie den von Ihnen verlinkten Spiegel-Artikel denn nicht gelesen: "Doch der Epidemiologe hat noch eine weitere These: »Vor allem in Zentral- und Ostafrika kursieren viele vergleichbare Viren, auch ähnliche Coronaviren. Die Einwohnerinnen und Einwohner sind ihnen viel häufiger ausgesetzt als beispielsweise in Europa. Daher gehen wir davon aus, dass viele eine Art Kreuz-Immunität entwickelt haben, die nun auch gegen Sars-Cov-2 schützt.«
Noch dazu eine junge Bevölkerung - Herzlichen Glückwunsch, Afrika! Ein schönes kleines Wunder, freuen wir uns darüber.
Nur leben Sie und ich in Europa, und jung sind wir auch nicht mehr.
Bleiben Sie gesund!
René am Permanenter Link
>> in diesem Fall Afrika, wo kaum geimpft wurde, aber dennoch seltener an oder mit Corona gestorben wurde
Das weiß man nur ungenau, weil es nicht in ganz Afrika ein Meldesystem gibt, was mit dem hiesigen vergleichbar ist.
>> und, nur nebenbei, selbst bei uns sterben auch ohne Corona ca 2.500 Menschen - *JEDEN* Tag! - ohne dass darüber auch nur annähernd alltäglich sensationsheischend berichtet und damit Panik geschürt wird
Das ist kein so geniales Argument. Bei den Sterbezahlen aufgrund dieser Pandemie geht es selbstverständlich *nicht* darum wieviele Menschen aus x-beliebigen anderen Ursagen sterben, sondern darum wie viele aufgrund der Pandemie *zusätzlich* sterben, obwohl sie aus den x-beliebigen anderen Gründen nicht hätten sterben müssen.
>> Will sagen, das Thema könnte über Gebühr aufgebauscht worden sein.
Du meinst mit "das Thema" nun Omikron, oder? Darum geht's in dem Artikel nicht. Eigentlich überhaupt nicht um Afrika-Vergleiche. Und ob Omikron nun zu sehr aufgebauscht oder zu sehr heruntergespielt wird... ist glaube ich gleichmäßig durchmischt.
Konrad Schiemert am Permanenter Link
Welches Land (oder Länder) hat in Afrika besser gemacht als D?
Klaus Weidenbach am Permanenter Link
Ich bin geneigt, die selbst gegebene Bezeichnung "homo sapiens sapiens" umzuwandeln in "homo stupidissimus".
Manfred H. am Permanenter Link
"Wir haben jetzt erst ab Februar eine Impfpflicht. Wieso hat man das nicht ab dem Zeitpunkt gemacht, wo genug Impfstoff da war, also im vergangenen Sommer?
https://www.zeit.de/politik/ausland/2021-11/triage-corona-intensivmedizinerin-barbara-friesenecker/komplettansicht