Für die multimoralische Gesellschaft gibt es nur eine mögliche Lösung

Religionsmigration

Organisierte Religion legt Religionsfreiheit als Freibrief aus, ihren Glauben auch dort umzusetzen, wo er in einer aufgeklärten Gesellschaft keinen Platz hat. Die Zuwanderung in europäische Religionssysteme verdeutlicht die Notwendigkeit einer sauberen Trennung von Republik und Religion.

Es gibt viele Gründe, warum Menschen das Land verlassen wollen, in dem sie geboren wurden und aufgewachsen sind. Manche fliehen vor einem Krieg. Andere vor einem System, in dem Homosexualität oder Atheismus Gefahr für Leib und Leben bedeuten. In jeweils zwölf islamischen Staaten wird man dafür mit dem Tod bestraft. Für manche hat es rein wirtschaftliche Gründe, weil sie kein Einkommen zum Auskommen finden. Anderen gefällt es einfach anderswo besser. Migration kann viele Motive haben.

In den Zielländern gibt es Menschen, die bei Migration von einer "Einwanderung in die Sozialsysteme" sprechen. Diese Formulierung ist im Regelfall nicht neutral gemeint, sondern unterstellt, dass die angesprochenen Sozialsysteme gezielt ausgenützt werden. Ganz nüchtern lässt sich jedenfalls feststellen, dass mit Migration zwangsläufig auch eine Aufnahme in die bestehenden Sozialsysteme verbunden ist. Genauso wertfrei können wir feststellen, dass es in einem Aufnahmeland auch eine Zuwanderung in ein bestehendes Religionssystem gibt. Im Fall von Österreich besteht dieses aus 16 gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften sowie elf religiösen Bekenntnisgemeinschaften.

Freibrief Religionsfreiheit

Diese 27 Staatsreligionen lassen sich zu einem guten Teil auf Kosten der Allgemeinheit aushalten durch Subventionen, Steuererleichterungen, Kostenübernahmen und andere Vergünstigungen. Das Konzept der Religionsfreiheit nutzen sie, um das staatliche Neutralitätsgebot zu untergraben und Ausnahmen von allgemeingültigen Regelungen zu erwirken, etwa den Zugang zum Bildungssystem, dem damit verbundenen Kreuzzwang in Schulen und Kindergärten, Genitalverstümmelung oder die automatische Übertragung des religiösen Bekenntnisses der Eltern auf die Kinder. Organisierte Religion legt Religionsfreiheit als Freibrief aus, ihren Glauben auch dort umzusetzen, wo er eigentlich keinen Platz hat.

Dieses historisch gewachsene System, das heute niemand mehr so aufbauen würde, setzt den Rahmen dafür, wie die Republik mit Religionen umgeht. Die daraus resultierende Praxis ist bestechend einfach: Was für eine Glaubensgemeinschaft würdig und recht ist, darf den anderen auf Dauer nicht vorenthalten werden: Wenn es katholischen Religionsunterricht gibt, darf es auch buddhistischen geben.

Wenn Juden ihre Kinder beschneiden, dürfen es Muslime auch. Wenn es protestantische Militärbischöfe gibt, darf es auch Bundesheer-Imame geben. Wenn Sikhs auf Passfotos Turban tragen, dürfen es Atheisten auch? Nein, natürlich nicht. Ausnahmen werden, wie bei allen anderen Bestimmungen, die sich auf Religionsfreiheit stützen, nämlich nur für die Staatsreligionen gemacht.

Gleiches wird ungleich behandelt

An dieser Stelle grätschen Menschen, die irgendwas mit Rechtswissenschaften studiert oder auch nur davon gehört haben, gerne hinein und belehren, dass Ungleiches eben ungleich behandelt werden müsse. Die Ungleichheit leiten sie aus der willkürlichen gesetzlichen Unterscheidung von staatsreligiös anerkannten Gewissensgründen und individuell selbstbestimmten Gewissensgründen ab. Das nennt man Zirkelschluss. Es gibt keine materiellen Unterschiede, sondern eine vom Gesetzgeber künstlich eingezogene Grenze zwischen manchen Religionen und anderen nicht-religiösen und religiösen Weltanschauungen, die völlig Gleiches zu Ungleichem macht.

Organisierte Religion legt Religionsfreiheit als Freibrief aus, ihren Glauben auch dort umzusetzen, wo er eigentlich keinen Platz hat.

Die Willkürlichkeit dieser Unterscheidung setzt sich innerhalb der anerkannten Religionsgemeinschaften weiter fort, wenn es für die Ungleichmacher opportun ist, speziell dann, wenn damit die korporatistischen und individuellen Vorteile des christlich-jüdischen Erbes eingekapselt werden wollen und damit anderen, insbesondere immigrierten Bekenntnissen die gleichen Begünstigungen verwehrt werden.

Die Folge der Zuwanderung in das bestehende Religionssystem führt nicht nur zu einer Inanspruchnahme der damit verbundenen Vorteile: Subventionen, Zugang zu Bildungseinrichtungen, politische Mitsprache in diversen Gremien und vieles mehr, sondern gleichzeitig zu einer Nutzung jener Freiheiten, die in liberalen Demokratien geschützt sind. Das Recht auf freie Rede oder Ausdrucksfreiheit, Versammlungsfreiheit und Demonstrationsrecht können auch dazu genutzt werden, unter dem Motto "Free Palestine" für die Hamas einzutreten oder ein Kalifat zu fordern – genauso wie damit gegen Abtreibung auf die Straße gegangen oder Fronleichnam prozessiert wird. Eine robuste Demokratie wird das alles verkraften. Weniger verkraftbar sind Entwicklungen wie im Vereinigten Königreich, wo mit Scharia-Gerichten – auch wenn die Urteile nicht rechtsverbindlich sind – das staatliche Gewaltmonopol in der Judikative aufgeweicht wird. In Fragen der Religion vermeidet der Rechtsstaat gerne seine eigenen grundrechtlichen Regeln zu respektieren und bekommt weiche Knie.

Mit gutem Beispiel voran

Während die europäischen Demokratien die christlichen Kirchen weitgehend erfolgreich unterworfen haben und sich ein halbwegs akzeptabler Modus Operandi einer säkularen Gesellschaft herausgebildet hat, der das Christentum weiter in die gesellschaftliche Bedeutungslosigkeit versenkt, nützen vor allem islamische Organisationen den Restbestand der kirchlichen Privilegien als Steigbügel und Trittbrette. Dass damit das gleiche Selbstverständnis einer praktisch gelebten Säkularität des Kulturchristentums verbunden ist, ist aber keineswegs gesagt. Gleiches muss trotzdem gleichbehandelt werden, und mit den Folgen muss man dann auch leben. Wem es etwa nicht passt, dass es islamische Erziehung in öffentlichen Schulen gibt, Kinder im Unterricht fasten und Mädchen nicht am Schwimmunterricht teilnehmen dürfen, der sollte vielleicht das verpflichtende Kreuz an der Wand, die Schulbeichte und theologische Fakultäten mit universitärer Übernatürlichkeit überdenken.

In Fragen der Religion vermeidet der Rechtsstaat gerne seine eigenen grundrechtlichen Regeln zu respektieren und bekommt weiche Knie.

An dieser Stelle fühlen sich wieder jene rechtsgelehrten Zirkelschließer bemüßigt, zu behaupten, der Islam wäre doch anders zu behandeln als das Christentum, schließlich handle es sich doch um andere Religionen. Aber so funktioniert das nicht in einem Staat, der sich weltanschaulich-neutral verhalten will und keine Wertung über die Inhalte einzelner Religionen vornimmt. Es gibt auch nur ein GmbH-Gesetz, obwohl alle diese Kapitalgesellschaften inhaltlich sehr verschieden sind. Genauso sollte es für alle Weltanschauungsgemeinschaften – egal ob religiös oder nicht – nur eine gesetzliche Grundlage geben. Aus säkularer Perspektive reicht dafür auch das Vereinsgesetz.

Tatsächlich gibt es für das Problem einer multimoralischen Gesellschaft nur eine mögliche Lösung, größtmögliche Weltanschauungsfreiheit zu ermöglichen, und das ist die konsequente gesetzliche Gleichbehandlung jeglichen Formats einer ideologischen Gesinnungsgemeinschaft und der persönlichen Überzeugung. Die Zuwanderung in das in Österreich bestehende privilegierte Religionssystem unterbinden wir am besten damit, indem wir mit gutem Beispiel vorangehen, Laizität in die Verfassung schreiben und die politische Bevorzugung von Religion beenden. Nur so kann ein politisches und gesellschaftliches Klima geschaffen werden, in dem der Schutz religiös geprägter Fehlentwicklungen nicht mehr toleriert werden muss. Wer kein Kalifat in Europa haben will, muss konsequenterweise auch das Konkordat lösen wollen.

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