Warum die Angriffe auf die LGTBI-Bewegung wissenschaftlich absurd sind

Der religiöse (Anti-) Gender-Wahn

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BERLIN. (hpd) Im Vorfeld der Erstellung des neuen Bildungsplanes 2015 durch die grün-rote Landesregierung Baden-Württemberg startete der Realschullehrer Gabriel Stängle eine Petition mit dem Titel "Zukunft – Verantwortung – Lernen: Kein Bildungsplan 2015 unter der Ideologie des Regenbogens". Die Petition richtete sich gegen ein Leitprinzip des Bildungsplans, das "Akzeptanz sexueller Vielfalt" vorsah. Die Petition forderte den "Stopp der Aushöhlung des Elternrechts in der schulischen Sexualpädagogik" und das "uneingeschränkte Ja zum Wissenschaftsprinzip in Schule, Unterricht und Lehrerbildung". 

Gabriel Stängle ist Mitglied und Prädikant der württembergischen Landeskirche. Es verwundert nicht weiter, dass er Probleme damit hat, in der Schule auch Formen des Zusammenlebens vorzustellen, die nicht in das Schema christlicher Glaubensvorstellungen passen. Bemerkenswert aber ist, dass er sich im Kampf gegen die "Regenbogenideologie" und für sein christliches Weltbild ausgerechnet auf das Wissenschaftsprinzip beruft. Es scheint, Herr Stängle und seine Kollegen von der "Demo für Alle" hoffen hier auf Unterstützung von der falschen Seite.

Warum gibt es zwei Geschlechter?

Für ein Mitglied einer sich sexuell fortpflanzenden Säugerart ist die intuitivste Antwort auf diese Frage wohl die, dass die beiden Geschlechter die Fortpflanzung ermöglichen sollen. Damit ein Menschenkind entsteht, braucht es das Zutun von Mann und Frau. Auch die Katholische Kirche glaubt, dass "Mann und Frau in der Schöpfungsordnung auf Ergänzungsbedürftigkeit und wechselseitige Beziehung hin angelegt sind, damit Kindern das Leben geschenkt werden kann". Homosexuelle Handlungen seien – da nicht auf die Zeugung von Kindern ausgelegt – ein Verstoß gegen die "natürliche Sittenordnung". 

Nichtsdestotrotz ist diese Antwort falsch: "Mann und Frau" bzw. die Zweigeschlechtlichkeit wurden nicht "geschaffen", um Kinder zu zeugen. Zahlreiche Bakterien, Einzeller aber auch Wirbeltiere wie z.B. manche Eidechsen pflanzen sich ausschließlich oder zeitweise asexuell fort. Das ist erheblich effizienter: Bei der sexuellen Vermehrung entstehen erhebliche "Werbungskosten" um einen Paarungspartner zu finden und diesen von den eigenen Qualitäten zu überzeugen. Bei der sog. anisogamen sexuellen Vermehrung (die Keimzellen der beiden Geschlechter sind unterschiedlich groß, so z.B. auch beim Menschen) kommt noch ein Effizienzverlust von 50% hinzu: das Weibchen stellt erhebliche Ressourcen an die Nachkommen zur Verfügung, z.B. in Form einer großen Eizelle. Das Männchen steuert bei vielen Arten nur seine Gene bei. Hätte das Weibchen auf asexuelle statt auf sexuelle Fortpflanzung gesetzt, hätte es bei gleichem Aufwand für die Produktion der Ei- bzw. Klonzelle 100% seiner Gene weitergeben können. Es hätte sich also doppelt so effizient fortgepflanzt. Aus der Perspektive eines Individuums, dessen evolutionärer Erfolg sich an der Zahl der an die nächste Generation weitergegebenen Gene misst, ist die "Erfindung" des Männchens erst mal ein ziemliches Verlustgeschäft. 

Warum also hat sich die sexuelle Fortpflanzung entwickelt, obwohl die asexuelle Fortpflanzung z.B. durch Zellteilung schon lange vorher etabliert war und viel effizienter ist? Eine Antwort der Evolutionsbiologie ist – Herr Stängle möge sich gut festhalten –, dass durch sexuelle Fortpflanzung die "genetische Diversity" (Vielfalt) der Nachkommen erhöht wird. 

Asexuell erzeugte Nachkommen sind genetisch zum elterlichen Organismus ganz oder weitgehend identisch ("Klone"). Das Erbgut zweigeschlechtlich erzeugter Nachkommen ist dagegen eine individuelle Mischung einer zufälligen Auswahl von Genen beider Eltern. Die erhöhte genetische Diversität der Nachkommen kann nützlich sein, um neue ökologische Nischen zu erschließen und innerartliche Konkurrenz zu reduzieren ("tangled bank" Modell). Insbesondere bei stark variablen Umweltbedingungen erhöht genetische Vielfalt die Chance, dass zumindest einige Nachkommen überleben.

Zu den "variabelsten" und damit für einen Organismus bedrohlichsten Umweltfaktoren gehören Krankheitserreger, da diese selbst der Evolution unterliegen und sich an die Abwehrmechanismen des Wirts über die Generationen hinweg anpassen. Die Generationszyklen der Krankheitserreger (z.B. Bakterien, Viren, Pilze) sind i.d.R. deutlich kürzer als die der Wirte (z.B. Säugetiere). Die Krankheitserreger schreiten im evolutiven Wettrennen also schnelleren Schritts voran, was von den Wirten mit "größeren Sprüngen" kompensiert wird, nämlich durch die starke Erhöhung des genetischen Variantenreichtums mittels geschlechtlicher Vermehrung ("red queen" Modell). 

Nach den Erkenntnissen der Biologie war die Einführung der zweigeschlechtlichen  Fortpflanzung – was die Effizienz der Fortpflanzung selbst angeht – ein Rückschritt. Allerdings vergrößerte sie die genetische Vielfalt und bewirkte so unter anderem einen verbesserten, generationenübergreifenden Parasitenschutz. Salopp gesagt: In dem Moment, als "Gott" bzw. die Evolution Mann und Frau "erschuf", lief es fortpflanzungstechnisch nie wieder so rund wie zu "guten alten asexuellen" Zeiten. Im Ausgleich dafür feierte das Leben auf diesem Planeten die neu eingeführten "genetischen Regenbogenverhältnisse" als einen Etappensieg beim Kampf gegen das Ungeziefer. 

Ein "uneingeschränktes Ja zum Wissenschaftsprinzip" harmoniert nicht immer mit religiösen Gefühlen und Weltbildern. 

Homosexualität unnatürlich? 

Eine Beschäftigung mit der Biologie macht deutlich, dass bei einer großen Vielzahl an Tierarten Sexualität und Fortpflanzung unterschiedliche Aspekte sind, die zusammenfallen können, aber nicht müssen:

Fortpflanzung ohne Sex: Organismen können – auch bei sich sexuell vermehrenden Arten – ihre Gene weitergeben, ohne selbst Nachkommen zu zeugen, etwa indem sie Verwandten Ressourcen zur Aufzucht von deren Kindern zukommen lassen. Bei vielen staatenbildenden Insekten pflanzt sich sogar die Mehrheit der Individuen indirekt (über die Königin) fort, d.h. nur eine Minderheit praktiziert dort selbst Sex zu Fortpflanzungszwecken. 

Sex ohne Fortpflanzung: Es gibt verschiedenste Formen nicht-reproduktiver Sexualität zwischen Individuen des gleichen oder verschiedenen Geschlechts, die primär anderen Zwecken als der unmittelbaren Fortpflanzung dienen, z.B. der Festigung der Paarbindung, dem Aufstieg in einer sozialen Hierarchie, Dominanzverhalten, dem Abbau von Aggressionen, dem Tauschhandel gegen Nahrung u.a. Diese Aspekte können durchaus langfristig einen Fitnessvorteil bedingen. Auch heterosexuelle Formen der Sexualität haben zu einem ganz erheblichen Anteil keine unmittelbare reproduktive Funktion – etwa Sex während der Schwangerschaft oder Stillzeit oder nach der Menopause. 

Homosexuelles Verhalten als eine Form von "Sex ohne Fortpflanzung" wurde bei hunderten von Tierarten, Insekten, Vögeln, Reptilien, Fischen, Säugetieren und insbesondere auch Primaten, beobachtet und scheint dort unterschiedliche Funktionen zu erfüllen. Auch wenn die spezielle(n) Ursache(n) für Homosexualität beim Menschen noch nicht geklärt sind, gibt es jedoch – so Prof. Thomas Junker, Lehrbeauftragter an der Univ. Tübingen und Autor zahlreicher Bücher zu evolutionären Themen – "gute evolutionsbiologische Gründe anzunehmen, dass Homosexualität zum natürlichen Verhaltensspektrum des Menschen gehört […]".