Europawahl 2014

Warum ist Europa wichtig? (8)

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Dr. Klaus Sühl. Foto © Evelin Frerk

(hpd) In dieser Interview-Serie geht es jeden Mittwoch um den Einfluss der Europawahl auf Menschenrechte und selbstbestimmtes Leben und Sterben.

Dr. Klaus Sühl ist Leiter des Brüssel-Büros der Rosa Luxemburg Stiftung und ehemaliger Vorsitzender des Humanistischen Verbands Deutschland.
Hier schildert er das breite Engagement linker Kräfte für ein demokratisches, solidarisches Europa.

 

Hallo Klaus Sühl,
die Rosa Luxemburg Stiftung fühlt sich nicht nur einer deutschen, sondern auch einer europäischen und weltweiten demokratisch-sozialistischen Bewegung zugehörig. Wofür steht die Europolitik der Rosa Luxemburg Stiftung (RLS)?

Klaus Sühl: Die Rosa Luxemburg Stiftung (RLS) arbeitet mit an alternativen Strategien der europäischen Integration, an Konzepten für Wirtschaftsdemokratie und für gemeinschaftliche Daseinsvorsorge sowie an der Durchsetzung partizipativer Demokratie. Sie unterstützt Protest und Widerstand, also den Einsatz für soziale Verbesserungen und linke Reformprojekte unter den gegebenen Verhältnissen. Wir bieten Orientierung an bei der notwendigen Überschreitung der Grenzen des Kapitalismus zu einem großen Prozess gesellschaftlicher Umgestaltung, der das 21. Jahrhundert bestimmen wird. Wir knüpfen dabei an ökonomische Entwicklungen an, die bereits heute über kapitalistische Produktionsformen hinausweisen.

 

Was genau gehört zu den Aufgaben des Brüsseler Büros der RLS?

Im Angesicht des sich europaweit verschärfenden Sozialabbaus ist die RLS im europäischen Zentrum in Brüssel aktiv in der Gestaltung progressiver Ansätze linker und öko-sozialer Politik. Das Brüsseler Büro der RLS unterstützt mit seinen Partnern die Kräfte in Europa und in der Welt, also soziale Bewegungen, NGOs, Gewerkschaften, Journalisten, Kulturschaffende oder Wissenschaftler, die sich diesen Zielen verschrieben haben. Nicht nur in Zeiten von Wahlen streiten wir für eine Europäische Union mit gründlich erweiterten demokratischen Entscheidungsrechten der Menschen.

Seit Jahren beschädigen die regierenden Kräfte die europäische Idee, beschleunigt durch die Verträge von Maastricht und Lissabon. Als Büro in der „europäischen Hauptstadt“ konzentrieren wir uns auf die kritische Begleitung der Europäischen Union, ihrer Institutionen, ihrer Ziele und Absichten und ihrer konkreten Politik. Dabei spielt selbstverständlich auch eine Rolle, wie sich die Europäische Union als Akteur in politischen und ökonomischen Angelegenheiten gegenüber ihren Nachbarn und in der Welt verhält.

Wir klären darüber auf, was in Worthülsen steckt, die jedeN von uns treffen, wie z.B. aktuell das geplante „Freihandelsabkommen“ der EU mit den USA (TTIP) oder sachlich klingenden Abkürzungen wie GSVP (Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik).

Schwerpunkte unserer Arbeit sind z.B.: Krise und linke Lösungsansätze, Aufkommen des Neo-Faschismus und seine Bekämpfung oder Auswirkungen von Privatisierungen auf Demokratie und Teilhabe. Unser Engagement bezieht sich z. B. auf die europäische Wasserinitiative, die die Privatisierung der Trinkwasserversorgung verhindert. Wir unterstützen Netzwerke wie das Blockupy-Bündnis oder den Alter Summit, einen alternativen Gegenentwurf zur Politik der Troika von 150 sozialen Organisationen und fortschrittlichen Kräften europaweit.

Der von der RLS geförderte Dialog europäischer linker Kräfte aus Politik, Zivilgesellschaft und Wissenschaft soll die Bedingungen für eine solidarische Politik in der Europäischen Union verbessern, was dringend notwendig ist. Die negativen Auswirkungen der Systemkrise, deregulierter Märkte oder eines grünen Kapitalismus auf soziale Strukturen, Klimaschutz, Energiewende, Ernährungssicherheit und internationale Stabilität machen Widerstand und alternative Entwürfe innergesellschaftlicher und internationaler Entwicklung notwendig.

 

Unterstützen Sie als „parteinahe Stiftung“ den Wahlkampf der LINKEN – auf deutscher und europäischer Ebene?

In dem vertrauensvollen Verhältnis zu der uns nahestehenden Partei DIE LINKE achten wir das Distanzgebot, das unter anderem besagt, keine Veranstaltungen von und für Mandatsbewerber durchzuführen.

 

Was bedeutet Europapolitik für die RLS hinsichtlich der Stärkung demokratischer Strukturen?

Die Europäische Union ist die Vereinigung von Staaten aus Europa, die in Frieden und unter der Achtung der Menschenrechte und der Europäischen Sozialcharta zusammenleben möchten. Europapolitik muss auf diesen Grundsätzen aufbauen, konkrete Verbesserungen für die Menschen organisieren und allen Versuchen entgegentreten, die darauf abzielen, Demokratie auszuhöhlen oder soziale Rechte abzubauen.

Das Europäische Parlament (EP) hat weniger Befugnisse als jedes nationale Parlament: Es darf nur über Initiativen entscheiden, die ihm durch die Kommission oder den Rat übergeben werden. Auch unterliegt die EU-Kommission nicht der parlamentarischen Kontrolle durch das EP, wie dies die Regierungen der Mitgliedsstaaten durch die nationalen Parlamente tun.
Es gehört zu den wichtigen Anliegen der RLS im Zusammenwirken mit anderen Verbänden und Organisationen, einen Beitrag zu einer Demokratisierung der EU-Strukturen zu leisten.

 

Befassen Sie sich mit der Trennung von Kirche und Staat im Sinne eines säkularen, aufgeklärten Europas? Also gegen religiöse und fundamentalistische Einflussnahme zum Beispiel in Sachen sexueller und reproduktiver Selbstbestimmung, gegen Blasphemie-Gesetze und zur Abschaffung kirchlicher Privilegien z.B. im Arbeitsrecht?

Mit der Kirche beschäftigen wir uns in unseren laufenden Projekten nicht, sehr wohl aber mit den wichtigen Fragen der Selbstbestimmung und Meinungsfreiheit. Minderheiten, die einer bestimmten Religion angehören, Schwule, Lesben, Transmenschen, Menschen aus einem anderen Land, Behinderte, Angehörige einer kulturellen Minderheit verdienen unseren höchsten Respekt.

Wir betrachten die institutionelle Trennung von Staat und Kirche als Grundvoraussetzung für die Entwicklung einer aufgeklärten Gesellschaft. Grundrechte und Arbeitnehmerrechte müssen die Religionsgemeinschaften bei ihrer Tätigkeit genauso einhalten wie alle anderen Organisationen auch; Privilegien sollten ihnen nicht zugestanden werden. Im Gegenzug erachten wir ihre Unabhängigkeit als wichtig. Weder Bekennende noch Nicht-Bekennende dürfen in irgendeiner Weise benachteiligt werden.

 

Europa-Parlament Straßburg. Fotografie, Illustration © Evelin Frerk

 

Wie sind Sie auf europäischer Ebene vernetzt?

Eine besondere Bedeutung hat die Mitarbeit im linken europäischen Netzwerk für alternatives Denken und politischen Dialog transform!europe. Die RLS beteiligt sich bei der Koordinierung und Umsetzung europaweiter politischer Bildungsaktivitäten dieses Zusammenschlusses von 27 europäischen Forschungs- und Bildungseinrichtungen.

Die Einschätzungen zum Charakter der EU und ihrer künftigen Entwicklung variieren in der europäischen Linken. Neben den Gefahren, die sich etwa aus einem neoliberalen und imperialen Wirtschaftskurs oder der verstärkten Militarisierung der EU ergeben, werden auch die Chancen gesehen, die der europäische Einigungsprozess für die Mitgliedsstaaten, für die Gesellschaften und jeden einzelnen bietet. transform!europe unterstützt den Dialog zwischen diesen Positionen durch Seminare, Veranstaltungen, internationale Konferenzen und durch Unterstützung der jährlichen Sommeruniversität der Europäischen Linken.

 

Wie schätzen Sie die aktuelle Europapolitik bezüglich dringender Menschenrechtsfragen ein?

Heute besteht die Möglichkeit, jedem Menschen ein Leben in sozialer Sicherheit und Würde zu gewährleisten. Not und Elend können überall auf der Welt überwunden werden. Unsere Arbeit in Brüssel - und meiner Kolleginnen und Kollegen weltweit - zielt auf eine neue, gerechte Verteilung der Erwerbsarbeit und der anderen gesellschaftlich notwendigen Arbeiten ab. Wir stellen z. B. die unterschiedliche Entwicklung von Armut und Reichtum in Europa und die sich immer mehr erweiternde Kluft zwischen dem armen und dem reichen Europa dar. Die EU versagt mit ihrem Anspruch, eine Gemeinschaft zu sein, die auf Solidarität fußt.

Wir liefern Beiträge, um die Grundrechte und Ansprüche zu verwirklichen, die das Grundgesetz formuliert: Menschenwürde, freie Entfaltung der Persönlichkeit, Gleichberechtigung aller Menschen, freie Wahl von Beruf und Arbeitsplatz, Unverletzlichkeit der Wohnung, Meinungs-, Bekenntnis- und Vereinigungsfreiheit, Brief- und Telekommunikationsgeheimnis und Asylrecht für politisch Verfolgte.

 

Warum ist es am 25. Mai wichtig, zur Europawahl zu gehen?

Wer wählt, kann verlieren. Wer nicht wählt, hat schon verloren. Es gibt Anzeichen dafür, dass niedrige Wahlbeteiligungen in den herrschenden Kreisen durchaus klaglos aufgenommen werden, besonders wenn von der Krise Betroffene und Bedrohte nicht mehr wählen gehen. Denn dadurch steigt faktisch die Legitimität der Sozialabbauprogramme: Es hat ja schließlich kaum jemand dagegen gestimmt.
Sozial und europafreundlich sein heißt heute, der derzeitigen EU und ihren Institutionen skeptisch-aufmerksam und mit gestalterischer Kritik zu begegnen; das Angebot progressiver Parteien zu studieren, kann dabei gute Dienste leisten. Wählen ist notwendig, aber nicht hinreichend, um unsere Gesellschaft demokratischer, sozialer, gerechter und menschlicher zu gestalten.

Die Antwort auf die Frage nach der Bedeutung der Europawahl provoziert geradezu weitere Fragen: Ist es gewährleistet, dass alle wichtigen Entscheidungen in der EU durch demokratisch gewählte und entsprechend legitimierte Gremien gefällt werden? Haben die sozialen Interessen insbesondere der Arbeiterinnen und Arbeiter, der Rentnerinnen und Rentner, die Bildungsinteressen der Kinder, Schülerinnen und Schüler, Studentinnen und Studenten und die immer drängender werdenden ökologischen Herausforderungen angesichts der überragenden Bedeutung der Wirtschaft und Finanzen eigentlich den Stellenwert in den EU-Institutionen und ihrer Politik, der ihnen zustehen sollte? Auch darum ist es wichtig, am 25. Mai zur Wahl des Europäischen Parlaments zu gehen.

 

Außer vom Wahlrecht Gebrauch zu machen: Was können Einzelne tun, um sich für ein demokratisches und gerechtes Europa einzusetzen?

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts gewinnt aus meiner Sicht der Demokratische Sozialismus wieder stärker an Bedeutung. Die Rosa Luxemburg Stiftung hält den Ausbau direkter Demokratie und ihre Erweiterung durch Runde Tische und Wirtschafts- und Sozialräte auf allen Ebenen für notwendiger denn je. In solchen Gremien sollen Gewerkschaften, Kommunen, Verbraucherinnen und Verbraucher, soziale, ökologische und andere Interessenverbände vertreten sein. Sie können im Dialog erarbeiten, was für die verschiedenen Aufgabenbereiche jeweils als orientierendes allgemeines Interesse angesehen werden soll und gesellschaftlich zur Geltung zu bringen ist. Sie sollen an der Entwicklung regionaler Leitbilder für die demokratische, soziale und ökologische Rahmensetzung beteiligt werden und die Möglichkeit zu gesetzgeberischen Initiativen erhalten. Am Aufbau und Erhalt solcher Strukturen mitzuwirken, kann für jedeN auch eine wichtige persönliche Bereicherung sein.

Ein Comeback von europaweit solidarisch agierenden, starken Gewerkschaften nach 20 Jahren ihrer gezielten Schwächung steht dabei weit oben auf unserer Agenda. Betriebe und Belegschaften dürfen nicht länger die Verfügungsmasse von Finanzinvestoren sein. Wir möchten einen aktiven Sozialstaat mit erschaffen, der die Lebensrisiken wie Krankheit, Unfall, Pflegebedürftigkeit und Behinderung sowie Erwerbsunfähigkeit und Erwerbslosigkeit solidarisch absichert, vor Armut schützt und im Alter ein selbstbestimmtes Leben in Würde garantiert. Derzeit sehen wir all diese Werte akut bedroht. Der Volksentscheid kann für ihren Erhalt ein wichtiges Mittel werden. Die Veränderung der Eigentumsverhältnisse, insbesondere auch im Finanzsektor, die Stärkung des Öffentlichen und einer demokratischen Öffentlichkeit sind unsere Alternativen zu neoliberaler Privatisierung und einem autoritären Sicherheitsstaat.

 

Die RLS arbeitet also an der Stärkung einer europaweiten, außerparlamentarischen Bewegung?

Wenn die Vertretungskörperschaften – von der Gemeindevertretung bis zum Europäischen Parlament – als demokratische Entscheidungsgremien gestärkt werden sollen, brauchen Engagierte aus der Zivilgesellschaft Rechte und Ressourcen, um auf gleicher Augenhöhe mit Regierungen und Verwaltungen agieren zu können. Die RLS schafft dazu den Arbeitsrahmen.

Die Neuausrichtung der EU kann jedoch nicht allein aus dem Parlament erzwungen werden. Ohne die wirksame außerparlamentarische Organisation von Gegenmacht sind sowohl die Demokratisierung der Institutionen als auch die Demokratisierung von Wirtschaftsmacht in der EU nicht zu erreichen. Aus diesem Grunde wollen wir eine europaweite Vernetzung der außerparlamentarischen politischen Netzwerke, Bewegungen und Projekte in allen Sachgebieten nach Kräften fördern.

Ich bin sicher, dass insbesondere den Humanistinnen und Humanisten über das Genannte hinaus bereits vielfältige Möglichkeiten bekannt sind, um sich jenseits von Wahlen für ein demokratisches und gerechtes Europa einzusetzen, sei es in sozialen Bewegungen, in Vertretungen oder Initiativen.

 

Das Interview führte Corinna Gekeler

 

Bislang in der Interview-Serie zur Europawahl erschienen:

Sophie in ´t Veld: Europa-Abgeordnete der niederländischen linksliberalen D66 und Vorsitzende der Europäischen Plattform für Säkularismus in der Politik (EPPSP)

Dr. Margret Steffen: Gewerkschaftssekretärin für Gesundheitspolitik in der ver.di-Bundesverwaltung und Expertin für gewerkschaftliche Europapolitik

Werner Hager: Sprecher der Säkularen Grünen NRW, der sich insbesondere mit Europapolitik befasst

Elfriede Harth: Katholische Feministin, die sich für sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung engagiert

Conny Reuter: Generalsekretär von SOLIDAR, Co-Präsident der Liasion-Gruppe der europäischen Netzwerke beim Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss  und bis 2013 Präsident der Europäischen Sozialplattform.

Rob Buitenweg:  Vorstandsvorsitzender des Nederlands Humanistisch Verbond und im Vorstand der European Humanist Federation (EHF)

Karin Heisecke: Aktivistin zu sexueller und reproduktiver Selbstbestimmung, insbesondere auf europäischer Ebene.

 

Mehr zur RLS und Europa:

www.europa-links.eu

www.rosalux.de/internationale-politik

www.rosalux-europa.info