Braucht Deutschland das Christentum?

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Auditorium / Foto: Ev. Akademie Meißen

MEISSEN. (hpd) Am 19. und 20. Juni 2010 hat in der Evangelischen Akademie in Meißen die „24-Stunden-Akademie“ stattgefunden, in der der Fragestellung nachgegangen wurde: „Braucht Deutschland das Christentum? Religion als Funktion“. Philipp Möller war als Referent der Giordano Bruno Stiftung eingeladen.

Seinen Diskussionsbeitrag hatte Philipp Möller aufgezeichnet und mit dem podast 15/2010 des hpd als Tonmitschnitt veröffentlicht. Da den hpd zwischenzeitlich mehrere Anfragen erreichten, ob der Text auch in Schriftform zur Verfügung gestellt werden könne..., hier ist er. (Anmerkung: Der Tagungsleiter Kurzke hatte Fragen vorgegeben, auf die die Referenten gebeten waren, zu antworten.)

Braucht Deutschland das Christentum? Religion als Funktion

Philipp Möller

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Studierende,

ich bin Philipp Möller, Pressereferent der Giordano Bruno Stiftung, und möchte mich zuerst ganz herzlich für die Einladung zur 24 Stunden Akademie bedanken. Bevor ich mit meinem Vortrag beginne, sage ich Ihnen etwas über mich. Ich bin 29 Jahre alt, Berliner, Diplom Pädagoge für Erwachsenenbildung und arbeite zurzeit als Grundschullehrer im Berliner Kiez. In meiner Freizeit setze ich mich seit ca. 1,5 Jahren für Humanismus und Aufklärung ein. Begonnen habe ich meine humanistische Karriere als Pressesprecher der Buskampagne und seit ca. einem Jahr unterstütze und ergänze ich Michael Schmidt-Salomon bei seiner Arbeit als Vorstandssprecher der Giordano Bruno Stiftung. Die Stiftung, ganz kurz, versteht sich als Denkfabrik für Humanismus und Aufklärung, wird im Beirat von zahlreichen namhaften Wissenschaftlern, Philosophen und Künstlern unterstützt und dient der Förderung des evolutionären Humanismus.

Mit meinen heutigen Vortrag will ich auf die Fragestellung des Titels eingehen (…) und hangele mich dabei an den Detailfragen entlang, die mir Herr Kurzke im Vorfeld freundlicherweise geschickt hat. Mein Vortrag soll dazu beitragen, dass Sie sich die Titelfrage möglichst differenziert selbst beantworten zu können. Wie die Antwort aus säkularer, also „weltlicher“, Perspektive ausfällt, können Sie sich wahrscheinlich schon denken, vor allem weil sie hier als Ja-Nein-Frage formuliert ist.

Beginnen möchte ich mit den Definitionen der Begriffe Weltanschauung, Religion und Humanismus

Da ich heute nicht eingeladen wurde, um Ihnen Definitionen aus Lexika vorzulesen, definiere ich die Begriffe bewusst aus evolutionär-humanistischer Perspektive.

Der Begriff „Weltanschauung“ bezeichnet eine Perspektive auf die Welt, beschreibt, sortiert und interpretiert diese. Religionen, hier verstanden als solche Perspektiven, werden dabei vor allem charakterisiert durch die Inklusion übernatürlicher Elemente und Wunder (die Existenz eines oder mehrerer Götter, Ereignisse wie eine unbefleckte Empfängnis, Wiederauferstehungen, etc.) und durch den Glauben an einen Fortbestand des Lebens über den Tod hinaus, also den Jenseitsbezug. Darüber hinaus ist die Fixierung auf heilige Schriften, in denen dogmatische Wahrheiten verkündet werden, zentrales Element nahezu aller Religionen, die sich Menschen im Laufe ihrer Geschichte erdacht haben.

Auch politische Ideologien – das vielleicht am Rande – können religiöse Züge aufweisen, wenn sie beispielsweise Dogmen aufstellen, bestimmte Denk- und Handlungsvorschriften formulieren und eine allen Menschen übergeordnete Person beinhalten. (1)

Im Humanismus, hier speziell im evolutionären Humanismus, spielen dagegen die Konzepte Selbstbestimmung, soziale Gerechtigkeit, Vernunft und Freude zentrale Rollen. In einer solchen Weltanschauung, die frei von Göttern, Geistern, Auren oder jenseitigen Zuständen wie Himmel und Hölle ist, sind sich Menschen der Grenzen ihrer Erkenntnis bewusst. Durch das Formulieren von Hypothesen, also von Aussagen, die sich verifizieren oder falsifizieren lassen, und die Überprüfung dieser Hypothesen an der Realität erkämpfen sich Vertreter dieser Weltanschauung jeden Tag ein wenig mehr Erkenntnis über unsere Welt, die darauf lebenden Organismen und das uns umgebende Universum. Evolutionäre Humanistinnen und Humanisten erkennen an, dass das Leben eines Individuums nur ein winziger Augenblick in der überwältigenden Dauer und Weite des Universums ist und schöpfen aus der Einsicht in die Einmaligkeit ihres Daseins den Drang, ihr eigenes und das Leben aller anderen Tiere auf diesem Planeten so lebenswert und gerecht wie möglich zu gestalten. Für sie gilt die Formel: „Nicht-Wissen = Nicht-Wissen“, statt: „Nicht-Wissen = Gott“, und so verstehen sie ihren Atheismus nur als Randerscheinung ihrer naturalistischen Weltanschauung, nach der Existenzaussagen so lange als falsch gelten, wie sie nicht belegt sind. Oder könnten Sie mir beweisen, dass ich im Garten kein unsichtbares Einhorn habe, welches dieses Universum und alles darin erschaffen hat?

Zu den Definitionen möchte ich abschließend eine afrikanische Weisheit zitieren, die da lautet: „Wer immer in den Himmel schaut, wird nie etwas auf Erden entdecken!“ (2) Ich schlage also vor, Religion als Himmelsanschauung und Humanismus als Weltanschauung zu betrachten

Auch im juristischen Sprachgebrauch werden Religion und Weltanschauung sprachlich voneinander getrennt. (3)

Die nächste Frage in Ihrem Katalog, Herr Kurzke, lautet nun:
„Welche Funktion hat Glaube und Religion für eine Gesellschaft oder für eine einzelne Person?“

Ohne einen kompletten religionswissenschaftlichen Abriss leisten zu können, möchte ich auf die zentralen Funktionen eingehen:

Auf gesellschaftlicher Ebene spielt in diesem Zusammenhang der psychologische Begriff „Ingroup Outgroup Verhalten“ eine wichtige Rolle. Damit ist das unterschiedliche Verhalten eines Individuums gegenüber Mitgliedern der eigenen bzw. einer fremden Gruppe gemeint. Vor allem in kleineren Gruppen, in denen der Mensch die längste Zeit seines Daseins gelebt hat, hat Glaube (also die feste Überzeugung von einem Sachverhalt ohne jegliche Evidenz dafür) sicherlich die Funktion gehabt, Mitgliedern einer Gruppe eine gemeinsame Identität zu verleihen. „Nepotismus“, auch als Vetternwirtschaft bekannt, ist bis heute unter Glaubensbrüdern und -schwestern zu beobachten. Die Zugehörigkeit zum Christentum erhöht beispielsweise die Chance, in der deutschen Politik Karriere zu machen, und wie ich aus verlässlicher Quelle weiß, wird man bei einem Ingolstädter Automobilkonzern, dessen Namen ich nicht nennen möchte, nur als Christ ins Management aufsteigen.

Darüber hinaus war die Idee eines schöpfenden Gottes (oder mehrerer Götter) über viele Jahrhunderte die Antwort auf viele Fragen, die Menschen nicht beantworten konnten. Heute tendieren sie eher dazu, Wissenslücken als Ansporn zur Forschung zu betrachten statt Magie oder ein übernatürliches Wesen dahinter zu vermuten.

Als weitere Funktion von Glaube und Religion ist der Begriff „Machtinstrument“ zu nennen. Nur allzu oft lässt sich in der Geschichte der Menschheit bis zum heutigen Tage beobachten, dass einige wenige Menschen Macht und Kontrolle über viele andere ausübten, indem sie vorgaben, einen direkten Draht zum aktuellen Gott zu haben und einzig und allein in der Lage seien, sein vermeintliches Wort interpretieren zu können. (4)

Auf rein subjektiver Ebene berichten religiös gläubige Menschen häufig von Vertrauen und gefühlter Hilfe in schweren Lebenslagen (vor allem beim Tod nahestehender Personen) und von einem Gemeinsamkeitsgefühl, das sie über ihren Glauben erlangen. Auch die Angst vor dem eigenen Tod, kann durch den festen Glauben an ein ewiges Leben nach dem Tod gelindert werden. Wobei – und in diesem Punkt stimmen Sie mir evtl. sogar zu: ein Leben nach dem Tod? Das ist ein Widerspruch in sich!

Zur Funktion von Glaube und Religion habe ich ein sehr treffendes Zitat von Seneca, einem römischen Philosophen aus dem ersten Jahrhundert nach unserer Zeit, gefunden: "Religion gilt dem gemeinen Manne als wahr, dem Weisen als falsch und dem Herrschenden als nützlich." (5)