Antisemitismus und Arierkult: Viele heidnische Gemeinschaften distanzieren sich heute ausdrücklich von solchem Gedankengut. Anders war es in der Ariosophie. Diese Pseudoreligion verschmolz Anfang des 20. Jahrhunderts rassistische, esoterische und theosophische Elemente miteinander. Nach Ansicht ihrer Anhänger sollte sie das Christentum, insbesondere den Katholizismus, in Deutschland ersetzen.
Guido von List und Jörg Lanz von Liebenfels entwickelten dieses esoterische Ideologiesystem zwischen 1890 und 1930 in Österreich. Vor dem Ersten Weltkrieg waren die Namen "Theozoologie", "Ario-Christentum" und "Armanismus" gebräuchlich. Erst zwischen 1915 und 1920 konsolidierte sich der von Lanz erfundene Begriff "Ariosophie", was "Weisheit der Arier" bedeuten sollte. Die Ariosophie war Teil der völkischen Bewegung und lieferte ihr einen quasireligiösen Unterbau.
List und Lanz von Liebenfels waren inspiriert von der allgemeinen okkulten Wiederbelebung, die in Österreich und Deutschland im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert stattfand, und lose vom historischen germanischen Heidentum, dem Christentum und der Theosophie beeinflusst war. Die Verbindung zwischen dieser Form der germanischen Mystik und der historischen germanischen Kultur zeigt sich beispielsweise in der Faszination für Runen.
Zentrale ideologische Grundlagen der Ariosophie waren die Rassenlehre, in der die Überlegenheit der "arischen Rasse" propagiert und deren Reinerhaltung gefordert wurde. Diese rassistischen Theorien wurden von vielen Protagonisten und Gruppen der völkischen Bewegung aufgegriffen und zum Teil noch weiter radikalisiert. Hinzu kam noch ein unerbittlicher Antisemitismus, der zentraler Bestandteil der ariosophischen Lehre wurde. Das dritte ideologische Element war dann der Germanenkult in Form einer Verherrlichung der germanischen Vorfahren und ihrer angeblichen Kultur. Hierbei wurde allerdings von einer hochstilisierten Idealform der Germanen ausgegangen, die mit der historischen Realität nicht viel zu tun hatte.
Innerhalb der Ariosophie spielten auch okkulte Praktiken wie Astrologie, Zahlenmystik und Handlesekunst eine große Rolle, am bedeutendsten war allerdings die besonders von Guido von List betriebene Runenmagie. List entwickelte umfangreiche Theorien über Runen und ihre angeblichen magischen Kräfte. Auch dies beeinflusste die völkische Bewegung. Durch Verbindung von rassistischen und antisemitischen Ideen mit pseudoreligiösen und esoterischen Vorstellungen wurde also eine ideologische Grundlage geschaffen, die von der völkischen Bewegung aufgegriffen und weiterentwickelt wurde.
Wer waren Guido von List und Jörg Lanz von Liebenfels?
Guido von List wurde 1848 in Wien geboren und hieß eigentlich Guido Karl Anton Paul List. Das Adelsprädikat "von" legte er sich erst 1907 zu, mit der Behauptung, er stamme aus altem Adel, was er aber nicht belegt hat. Ursprünglich Kaufmann, widmete er sich später ganz der Schriftstellerei und der Esoterik. So veröffentlichte er zahlreiche Artikel und Bücher zu völkischen und esoterischen Themen.
List gilt nicht nur als Mitbegründer der Ariosophie, sondern entwickelte auch eine These über die arische Herrenrasse und einen germanischen Rassenadel. Er propagierte den "Wotanismus" als angeblich ursprüngliche germanische Religion. In Wahrheit hatte er sie sich ausgedacht; auch seine Runen, die Runenmystik sowie die germanischen Riten entbehren jeder historischen Grundlage.
1907 gründeten seine Anhänger die "Guido-von-List-Gesellschaft", um seine Arbeiten zu fördern. Er griff das Hakenkreuz als Erkennungszeichen auf, das später von anderen völkischen Gruppen übernommen wurde. Der "Hohe Armanenorden" wurde von List 1911 als esoterischer Geheimbund begründet. Durch diesen als männerbündisch-elitären Priesterbund konzipierten Orden sollte das vermeintliche Geheimwissen der Arier bewahrt und ein rassereiner ario-germanischer Staat geschaffen werden. 1919 verstarb Guido von List auf einer Rundreise in Berlin.
Jörg Lanz von Liebenfels wurde 1874 in Wien als Adolf Joseph Lanz geboren, wo er 1954 auch verstarb. Sowohl der von ihm geführte Adels- als auch der Doktortitel waren gefälscht. Er trat in den Zisterzienserorden ein, den er aber bereits wieder 1899 verließ. Lanz war der Begründer der Zeitschrift "Ostara", in der er antisemitische und völkische Theorien verbreitete. Außerdem gründete er 1900 mit dem Neutemplerorden ("Ordo Novi Templi") eine proto-faschistische Geheimgesellschaft.
Lanz von Liebenfels entwickelte rassistische Theorien über die angebliche Überlegenheit der arischen Rasse und sah die Eugenik als das wahre Zentrum der Lehre Christi an. Er schlug zur "Rassenreinigung" die Einrichtung von Zuchtkolonien vor und propagierte zudem Polygynie für politisch oder militärisch bewährte Männer, Sterilisierung von "Kranken und Rassenminderwertigen" sowie Verbrechern, Internierung von "Minderwertigen" in Arbeitslagern und die Etablierung einer Gewaltherrschaft der vermeintlich "höherrassigen" Männer über den Rest der Bevölkerung.
Der Einfluss der Theosophie
Die Theosophie spielte eine wichtige Rolle als ideologische Grundlage und Inspiration für die Entstehung der Ariosophie. So wurden Teile der theosophischen Lehre aufgegriffen und in das rassistisch-mythologische Weltbild der Ariosophie integriert. An erster Stelle ist hier natürlich das Konzept der "Wurzelrassen" zu nennen. Von Hause aus bereits rassistisch, wurde diese Idee der Theosophin Helena Petrovna Blavatsky von den Ariosophen noch weiter radikalisiert. So deutete man die Vorstellung einer arischen Epoche als Vorhersage für die deutsche Weltherrschaft um.
Der in der Theosophie steckende Okkultismus bot den Ariosophen auch eine "geheiligte Legitimation" für ihre Ablehnung der Moderne und des Materialismus. Sie lieferte dann auch religiös-mystische Konzepte und ein universelles Grundprinzip, das sich die Ariosophen nach ihren Interessen und politischen Vorlieben zurechtbogen. So wurde die Vorstellung eines vorgeschichtlichen "Goldenen Zeitalters" mit einer weisen Priesterkaste und einer überlegenen Rasse von theosophischen Ideen inspiriert.
Die Theosophie war für die Ariosophen eine Art Baukasten, aus dem sie sich diejenigen Versatzstücke herauspickten, die in ihr Gedankenkonstrukt passten, während sie andere Elemente, wie etwa das Ideal einer universellen Bruderschaft, ablehnten. An dessen Stelle trat ein rassistisches Glaubenssystem, das weg von einer universalistischen Religion führte, hin zu einer spezifischen Rassenreligion ausschließlich für "Ariogermanen".
Die Ariosophie und Atlantis
Der Atlantis-Mythos wurde mit dem in der völkischen Bewegung verbreiteten Arier-Mythos vermischt. So sieht die Ariosophie im legendären Atlantis die Urheimat der "arischen Rasse" und stellt diese als Wesen mit halbgöttlicher Abstammung und besonderen Fähigkeiten dar. Atlantis repräsentierte in dieser Vorstellung ein "Goldenes Zeitalter" der Vorgeschichte mit einer rassisch reinen Gesellschaft.
Insbesondere Lanz von Liebenfels verband den Atlantis-Mythos mit religiösen Vorstellungen und der Idee einer "arischen Religion", letztendlich diente Atlantis nur zur Legitimation rassistischer und antisemitischer Vorstellungen. Das erklärte politische Ziel der Ariosophen war die Wiederherstellung eines "Neuen Atlantis" verbunden mit einer deutsch-arischen Weltherrschaft.
Das Verhältnis zur NS-Bewegung
Die Ariosophie lieferte der nationalsozialistischen Bewegung einige grundlegende Ideen und Konzepte zur Untermauerung ihrer rassistisch-antisemitischen Agenda. Allerdings war der Einfluss nicht exklusiv und wurde in einem breiteren Kontext von völkischen und nationalistischen Bewegungen betrachtet. Besonders in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg schufen die ariosophischen Schriften und Vorträge mit ihrer radikalen antisemitisch-rassistischen Aussage ein gesellschaftliches Klima, das letztendlich den Aufstieg des Nationalsozialismus begünstigte. Sie waren Teil eines breiteren kulturellen und politischen Kontextes, der nationalistische und rassistische Ideologien förderte.
Der besonders von Lanz propagierte radikale Antisemitismus, der die Juden als Bedrohung für die Reinheit der arischen Rasse darstellte, wurde von den Nationalsozialisten übernommen und verstärkt. Sie legitimierten damit ihre eigene rassistische Agenda.
Da die Ariosophen eine "rasserein-arische Gesellschaft" propagierten, vertraten sie auch ein rigoroses Programm der Rassenhygiene und Eugenik. Sie wollte durch bestimmte Einrichtungen eine arische "Reinzucht" erreichen, wie sie später durch den Lebensborn e.V. von den Nationalsozialisten verwirklicht wurde. Auch Einrichtungen wie die "Zentraldienststelle T4" mit ihren Zwangssterilisationen und der Vernichtung "lebensunwerter" Menschen entstammt diesem Gedanken.
Die esoterischen und okkulten Praktiken der Ariosophie fanden auch in bestimmten Kreisen innerhalb der SS Anklang, wobei besonders der Reichsführer SS Heinrich Himmler hierfür empfänglich war.
Hitler selbst zeigte wenig Interesse an vielen zentralen Aspekten der Ariosophie, wie dem "Goldenen Zeitalter" der Arier oder deren angeblichem geheimen kulturellen Erbe. Er und der Großteil der nationalsozialistischen Führungsriege waren pragmatisch auf die Gewinnung und den Erhalt ihrer Macht ausgerichtet. Konzepte wie "Lebensraum im Osten" dienten eher als symbolische Begründung für politische Aktivitäten und Expansion, nicht als direkte Umsetzung ariosophischer Ideen. Hitler verspottete Personen wie Guido von List und Jörg Lanz von Liebenfels als "völkische Wanderprediger" und "nutzlose Kämpfer". Für ihn zählte nur die pragmatische Realpolitik, während ihn die völkisch-esoterischen Bewegungen nur so lange interessierten, wie sie von Nutzen waren.
So verwundert es nicht, dass bereits kurz nach der "Machtergreifung" 1933 ariosophische Gemeinschaften gemeinsam mit anderen esoterischen Gruppen, aber auch den Freimaurern, als "staatsfeindliche Sekten" klassifiziert wurden und unter Beobachtung des Sicherheitsdienstes standen. Nach dem England-Flug von Rudolf Heß 1941 wurden diese Gruppen in der "Aktion gegen Geheimlehren und sogenannte Geheimwissenschaften" zerschlagen, führende Mitglieder verhaftet und in Konzentrations- oder Arbeitslager verbracht. Darunter selbst Jörg Lanz von Liebenfels.
Auch wenn sich Lanz immer wieder als "der Mann, der Hitler die Ideen gab" präsentierte, ist dies mehr als übertrieben. Der Einfluss der Ariosophie dürfte neueren Forschungen gemäß insgesamt als geringer eingeschätzt werden, als früher angenommen.
Die Ariosophie nach 1945
Nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches wurde die Ariosophie aufgrund ihrer stark antisemitischen und rassistischen Ausrichtung gesellschaftlich und politisch geächtet, lediglich in kleineren esoterischen und okkulten Bewegungen fanden Versatzstücke wie die Runenmagie weiterhin Anklang. Erst mit Aufleben der neugermanischen Bewegung in den 1970er und 1980er Jahren erfuhr die Ariosophie eine gewisse Wiederbelebung. Natürlich versuchten diese Gruppen oft, sich von den rassistischen und antisemitischen Elementen zu distanzieren und nur die esoterischen Elemente wie die von List erfundenen Riten zu übernehmen. Die Asatrú-Bewegung etwa bemüht sich um eine reflektierte Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte und den potenziellen Verstrickungen in rechtsextreme Ideen.
Auf der anderen Seite versuchten auch einige rechtsextreme Gruppen, die ariosophischen Ideen zu reaktivieren, um ihre rassistischen und nationalistischen Ansichten zu legitimieren. Dies war aber nicht von Erfolg gekrönt.
Insgesamt zeigt sich, dass die Ariosophie nach 1945 in einem Spannungsfeld zwischen Ablehnung, esoterischer Fortführung und kritischer Auseinandersetzung existierte. Die rassistischen und antisemitischen Elemente wurden weitgehend abgelehnt, während einige esoterische Praktiken und Ideen weiterhin in bestimmten Kreisen präsent blieben.
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