Interview

"Viel glauben und wenig denken muss nicht jedermanns Ideal sein."

Der Glaube an einen erfundenen, menschen-ähnlichen, personenhaft-körperlichen Gott mit Sohn und Heiligem Geist ist nicht glaubwürdig und leert im aufgeklärten Europa des 21. Jahrhunderts die Kirchen. Darüber spricht Dr. Michael Balke im Interview mit Professor Klaus Johannes Tipke, dem Verfasser des Buches "Kirchenflucht – Warum?"

Dr. Michael Balke: Herr Tipke, Sie haben ein Buch über "Kirchenflucht" geschrieben und dabei diesen Begriff gewählt, statt den Begriff "Kirchenaustritt" zu verwenden. Warum?

Professor Klaus Johannes Tipke: Ich vermeide nicht den Begriff "Kirchenaustritt", aber es geht um Entkirchlichung. Sie besteht auch darin, dass Kinder nicht mehr getauft werden, dass sie nicht mehr zur Kommunion und Firmung gehen oder nicht mehr konfirmiert werden. Wer die Kirche meidet, braucht gar nicht erst auszutreten.

Wissen die Kirchen um ihren Zustand?

Ja, durchaus. Nur zwei Beispiele: Schon vor etlichen Jahren stellte der Theologe Heinz Zahrnt fest: "Wir sind Zeugen des größten und umfassendsten Säkularisierungsprozesses, der jemals in der Geschichte des Christentums, vielleicht sogar in der gesamten Religionsgeschichte, stattgefunden hat." (F.A.Z. v. 17.2.1996) Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, der Theologe H. Bedfrod-Strohm, hat es kürzlich so ausgedrückt: "Die Kirchen befinden sich in einer viel schwierigeren Situation als 1950: Früher war der Kirchenaustritt ein Verstoß gegen gesellschaftliche Konventionen. Heute muss man sich zuweilen schon dafür rechtfertigen, dass man Mitglied der Kirche ist." (F.A.Z. v. 10.4.2017, S. 5, re.Sp.) Und die Pastoren und Priester beklagen doch den mehr oder minder schlechten Besuch der Gottesdienste. Die existierenden Zahlen lassen sich nicht leugnen.

Ihnen geht es aber um das Warum der Entkirchlichung.

Ja, auch die Entkirchlichung hat Ursachen.

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Sie sind zu dem Ergebnis gekommen: Hauptursache der Entkirchlichung ist die Unglaubwürdigkeit des christlichen Glaubens.

Ich sehe allerdings auch, dass es sehr viele Menschen gibt, die religiös gleichgültig sind, uninteressiert. Unter ihnen sind auch die, die meinen, ihrem Leben außerhalb der Kirche mehr Sinn abgewinnen zu können als mit der Kirche. Meiner Meinung nach fehlt es hauptsächlich an Glaubwürdigkeit des christlichen Glaubens. Sehr viele Menschen können nicht mehr glauben, was sie als Christen glauben sollen.

Wie verhalten sich die Kirchen dazu?

Was kirchenintern darüber diskutiert wird, weiß ich nicht. Dass das, was Christen glauben sollen, unwahr, unglaubwürdig sei, können die Kirchen aber auch nicht zugeben. Lieber stecken sie den Kopf in den Sand.

Was antworten Sie, wenn die Kirchen bestreiten, dass Ihre Entkirchlichungsgründe die richtigen sind?

Dann bitte ich die Kirchen darum, ihre von mir abweichenden Gründe zu nennen. Irgendwelche Gründe muss es ja geben. Niemand trennt sich doch grundlos von der Kirche.

Wie sind Sie zu Ihrem Ergebnis gekommen?

Aufgrund von vielen Gesprächen bin ich zu der Vermutung gekommen, dass der Hauptgrund für die Entkirchlichung die Unglaubwürdigkeit des christlichen Glaubens sei. Damit will ich nicht sagen, dass andere Religionen glaubwürdiger seien. Natürlich wäre eine große Allensbach-Umfrage besser. Ich würde dazu gern einen Fragebogen entwerfen. Einigermaßen richtige Antworten bekommt man nur, wenn man richtig fragt.

Ich habe mich bemüht, jeden möglichen Austrittsgrund zu untersuchen, aber vor allem den Austrittsgrund "Unglaubwürdigkeit" des christlichen Glaubens, so wie dieser im christlichen Glaubensbekenntnis niedergelegt und dogmatisiert worden ist.

Nun aber zu Gott, zunächst zur Frage: An was für einen Gott sollen Christen glauben?

Christen sollen an den Gott der Bibel glauben, an einen Gott als körperliche, menschenähnliche Person, die sich wohl selbst erschaffen hat, die jedenfalls aber Himmel und Erde und die ersten beiden Menschen eigenhändig geschaffen hat. Die aufgeklärten Menschen des 21. Jahrhunderts, soweit sie an Gott glauben, stellen sich aber keinen menschenähnlichen Gott vor. Sie haben andere Vorstellungen als die Bibelschreiber vor etlichen tausend Jahren. Das Festhalten an der Bibeldogmatik, insbesondere an die Bibel als Gottes Wort, erweist sich heute als Unglück für die Kirchen. Man müsste sich schon einen anderen Gott vorstellen dürfen als die Bibelschreiber.

Ist Gott eigentlich der Schöpfer, oder hat menschliche Phantasie sich einen Gott erschaffen?

Die Bibelschreiber, auch die Apostel, hatten vom Weltall keine Ahnung. Wir wissen heute, wie Sterne und Planeten entstehen und vergehen und dass die Menschen durch Evolution entstanden sind. Der Bibelgott ist ein Glaubensprodukt von Menschen. Das gilt auch für andere Gottheiten. Ein Wissen über Gott haben wir nicht.

Auch die Eigenschaften, die Gott haben soll, beruhen auf Vorstellungen von Menschen. Die Menschheit glaubt bekanntlich nicht an einen und denselben Gott, sondern an verschiedene Gottheiten.

Es wäre eine Aufgabe für Theologen, festzustellen, an wie viele Glaubensgötter Menschen glauben. Stattdessen beschäftigen die deutschen konfessionellen Universitätstheologen sich damit, ihrer Konfession auch theologisch zu bestätigen, dass sie den richtigen Glauben vermittelt. Dass die verschiedenen Gottheiten nicht miteinander kämpfen, hängt wohl damit zusammen, dass sie alle nicht wirklich existieren, sondern Glaubensgötter sind. Der Kampf um den richtigen Gott und den richtigen Glauben wird von Menschen geführt – durch Krieg oder Missionieren.

"Die Kirchen handeln mit Gott als einer Ware, die noch niemand gesehen und berührt hat."

Auch der Christengott hat sich nicht selbst erschaffen und offenbart. Auch er existiert nicht wirklich, sondern nur, weil Christen an seine Existenz glauben. Die christlichen Kirchen haben ihrem Gott Eigenschaften angedichtet, die er nach aller Erfahrung nicht hat. Die Aktivitäten, die er laut Kirche zugunsten der Menschen veranstalten soll, entfaltet er nach aller Erfahrung in Wirklichkeit nicht. Er tut nichts, er schweigt. Er unterscheidet auch nicht zwischen Guten und Bösen. Auch die Bösen, z.B. Diktatoren und Mörder, lässt er gewähren.

Auch "seiner" Kirche, die unter Entkirchlichung leidet, hilft Gott nicht. Ein nicht existierender Gott lässt sich sowohl von den Kirchen als auch von weltlichen Machthabern beliebig missbrauchen; ihm lässt sich alles unterschieben. Existiert Gott nicht, existieren auch seine Engel nicht.

Gott und seine Engel sind Glaubenserfindungen, die die kirchlichen Erfinder gegenüber den Menschen verantworten müssen. Die Kirchen handeln mit Gott als einer Ware, die noch niemand gesehen und berührt hat. Eine solche Ware "verkauft" sich an kritische Menschen schlecht.

Was halten Sie von Gottes Gnade und Barmherzigkeit?

Als Jurist nichts, wenn jeglicher Maßstab fehlt. Juristen kennen die Begnadigung, Steuerjuristen den Billigkeitserlass. Sie durchbrechen eine den Gleichheitssatz tragende Regel. Für die Durchbrechung der Regel bedarf es einer Rechtfertigung und eines Maßstabs. Daran fehlt es bei Gottes Gnade. Von Gottes Gnade und der Unterstützung des Heiligen Geistes soll es z.B. abhängen, ob ein Mensch glauben kann oder nicht. Aber welchen Maßstab wendet Gott dabei an? Handelt er nach freiem Gutdünken oder gar willkürlich? Wenn uns gesagt wird "Gottes Gnade geht über alle Vernunft", so ist das nicht mehr als eine leere Phrase.

Und hat der Christengott einen Sohn?

Welcher Gott hat heute eigentlich noch einen Sohn? Der Judengott und der Gott des Alten Testaments haben keinen, Allah auch nicht. Als der angebliche Gottessohn Jesus geboren wurde, gab es das Christentum und den Christengott noch nicht. Die Jüdin Maria wusste nichts vom Heiligen Geist, den das Judentum nicht kennt. Der erst im 2. Jahrhundert für das Christentum erfundene Heilige Geist kam für die Schwängerung Marias zu spät. Ohne den Heiligen Geist konnte auch kein Gottessohn entstehen. Und dem lebenden Jesus hätte wohl auch niemand abgenommen, dass er Gottes Sohn sei.

"Wenn sich heute ein Mensch als Gottessohn vorstellen oder wenn eine Tochter ihrem Vater berichten würde, sie sei vom Heiligen Geist spermafrei geschwängert worden und werde Gott einen zweiten Sohn gebären, würde der Psychiater eingeschaltet."

Wenn sich heute ein Mensch als Gottessohn vorstellen oder wenn eine Tochter ihrem Vater berichten würde, sie sei vom Heiligen Geist spermafrei geschwängert worden und werde Gott einen zweiten Sohn gebären, würde der Psychiater eingeschaltet. Josef hat nie behauptet, dass Jesus nicht sein Sohn sei, sondern ein Produkt des Heiligen Geistes. Auch Josef hatte vom Heiligen Geist keine Vorstellung. War Jesus nur Mensch, war seine Gottessohnschaft eine nachträgliche Erfindung der Apostel, so konnte Jesus nicht in den Himmel auffahren und folglich auch nicht aus ihm zurückkommen. Seit 2.000 Jahren hat er nichts mehr von sich hören und sehen lassen. Der verschollene Jesus kann nicht den Vorsitz des Jüngsten Gerichts übernehmen.

Ein Gericht, das über alle Menschen richten soll, die seit der Steinzeit gestorben sind, und die nach Auferweckung und Auferstehung vor Gericht erscheinen sollen, ist ohnehin absurd. Ich habe das sehr ausführlich begründet. Ein Gericht, das nicht tagt, kann auch niemanden in den Himmel oder die Hölle entsenden.

Kann man das, was Apostel vor etwa 2000 Jahren verbreitet haben vielleicht als Fake News bezeichnen?

Vielleicht. Mir geht es aber nicht hauptsächlich um Aussagen, die von Aposteln gemacht worden sind, sondern darum, ob das wahr ist, was die Kirchen von heute und ihre Glaubenstheologen unter Berufung auf die Bibel ihren Mitgliedern als Wahrheit verkünden.

Wie halten Sie es mit Himmel und Hölle? Ob es die Feuerhölle noch gibt, scheint mir eine ganz entscheidende Frage zu sein. Sie haben auf Seite 6 u.a. die frohe Botschaft vorausgeschickt: "Die Bibelhölle existiert nicht."

So wie an zahlreiche Gottheiten geglaubt wird, so soll auch an viele Himmel und Höllen geglaubt werden. Mit dem Himmel soll dazu verlockt werden, dass ohne Nachdenken den Glaubenserfindungen der Kirche gefolgt wird. Martin Luther lehrte doch, dass man selig wird allein durch den Glauben. Der Glaube oder Unglaube ist aber ein gänzlich ungeeigneter Maßstab dafür, ob jemand gut ist und den Himmel verdient hat, oder ob er als Ungläubiger die ewige Feuerhölle verdient. Was jemand bloß denkt, was jemand bloß glaubt oder nicht glaubt, ohne Schaden anzurichten, ist ethisch unerheblich. Die Kirchen müssen es sich abgewöhnen, denkende Nichtgläubige für böse zu erklären. Es ist nicht im Sinne der rechtstaatlich garantierten Glaubensfreiheit, an die Wahrnehmung dieser Freiheit die ewige Hölle zu knüpfen.

"Der Glaube oder Unglaube ist aber ein gänzlich ungeeigneter Maßstab dafür, ob jemand gut ist…"

Erst das Jüngste Gericht oder Endgericht soll darüber entscheiden, ob jemand den Himmel verdient oder in die Hölle gehört. Ich habe in meinem Buch sehr ausführlich dargelegt, warum das Jüngste Gericht, das seit Bestehen der Menschheit noch nicht getagt hat, eine unmögliche Vorstellung ist. Gibt es das Jüngste Gericht nicht, so kommt also niemand in den Himmel oder die Hölle.

Aber lehrt die katholische Kirche nicht, dass Märtyrer und Heilige schon im Himmel sind und dass Todsünder sogleich nach ihrem Tod in die Hölle kommen?

Das wären Ausnahmen. Die Kirchen lehren vieles, was sie gar nicht verantworten können. Die Bestrafung mit der Ewigkeitshölle ist extrem übermäßig. Wie sollen die Heiligen denn in den Himmel gekommen sein? Selbst die Kirchen wissen doch nicht, wo der Himmel (für Christen?) sich eigentlich befindet.

Der Islam bedroht die Menschen mit einer Hölle, die besonders grausame Quälereien vorsieht. Man kann sich davon im Internet leicht überzeugen. Ich meine, dass solche Drohungen von Rechtsstaaten verboten werden müssten. Religion kann nicht alles rechtfertigen, nicht jede Erfindung (Lüge) und jeden Wahnsinn. Das Christentum ist in Sachen "Hölle" auf dem Rückzug. Die "Feuerhölle" soll es nicht mehr geben. M. E. hat es sie nie gegeben. Aber wie wird die christliche Kirche damit fertig, dass die Bibel (nicht nur der Koran), die doch Gottes Wort und Gottes Wahrheit enthalten soll, die "Feuerhölle" nach wie vor kennt.

Die Religion kennt nur zwei Exzesse: die exzessive Belohnung mit dem Himmel und die exzessive Bestrafung mit der ewigen Feuerhölle. Es gibt nur das Entweder-oder. Ein Weder-noch ist nicht vorgesehen.

Ist es denn nicht richtig, dass das Leben ohne Gott und seinen Himmel keinen Sinn ergibt?

Ein Leben in der Hölle ist in der Tat nicht sinnvoll. Aber nach allem, was die Kirche über den Himmel verheißt oder erhofft, erscheint mir das Leben im Himmel sehr langweilig. Der Himmel scheint mir etwas für Menschen zu sein, die auch in ihrem Erdenleben am liebsten immer nur Urlaub gehabt hätten.

Die Kirche lehrt, dass das Leben auf der Erde nur ein Vor- oder Probelauf für das ewige Leben im Jenseits sei. Gott und das Jüngste Gericht sollen am irdischen Verhalten des Menschen (vor allem, an dem, was er glaubt) erkennen können, wofür der Mensch endgültig und ewig bestimmt ist, für den Himmel oder die Hölle.

Wie die Erde und die anderen Planeten des Sonnensystems entstanden sind, ist bekannt. Dass nur auf der Erde Leben entstanden ist, auf den anderen Planeten aber nicht, hängt nicht damit zusammen, dass ein Gott es so wollte, sondern damit, dass nur die Erde einen Abstand von der Sonne hat, der die Entstehung von Leben und seine Entwicklung ermöglicht. Hinter der Entstehung der Sonne und ihrer Begleiter, auch hinter der Entstehung von Leben stehen Naturgesetze, aber kein Sinn und Zweck. Das Leben der Menschen wie auch das der Tiere hat keinen jenseitigen Zweck. Das Jenseits mit Himmel und Hölle ist eine religiöse Erfindung.

"Religionen sind Einrichtungen von Menschen. Sie haben kein Recht, anderen Menschen unter Berufung auf Religion, auf Gott oder eine heilige Schrift, durch ihre Lehren und Aktivitäten, anderen Menschen Schaden zuzufügen."

Worin besteht das Leben der Tiere? In Fressen und Gefressenwerden, so dass die Arten durchweg erhalten werden. Der Mensch als Krone der Evolution hat ein Bewusstsein, hat Verstand und Vernunft entwickelt. Diese Mittel kann er sinnvoll dafür einsetzen, dass sich seine und die Lebensqualität anderer Menschen verbessern. Mehr ist für Realisten nicht drin. Die Religionen, die das anders sehen, müssen sich immer fragen, ob sie das, was sie verheißen oder erhoffen lassen, verantworten können. Religionen sind Einrichtungen von Menschen. Auch sie haben kein Recht, anderen Menschen unter Berufung auf Religion, auf Gott oder eine heilige Schrift, durch ihre Lehren und Aktivitäten, anderen Menschen Schaden zuzufügen.

Kirchen haben auch Pflichten, nicht zuletzt die Pflicht, ihre Glaubensdogmen darauf zu überprüfen, ob sie glaubwürdig sind. Tun sie das nicht, handeln sie unverantwortlich.

Wie sieht es in Deutschland mit der Zukunft der Kirchen aus?

Die Situation in Deutschland ist ungewöhnlicherweise zwiespältig. Einerseits: Wir haben zwei große Parteien, die sich christlich nennen. Kein Politiker wagt es, sich offen als Atheist zu bekennen. Es gibt kaum noch einen Verlag, der Kirchenkritik veröffentlicht. Die Kirchen haben viel Einfluss auf die Politik; und sie haben auch noch viel Geld, zumal der Staat Kirchensteuer für die großen Kirchen eintreibt. Andererseits: Das Kirchenvolk schrumpft ständig. Auch die, die der Kirche noch angehören, gehen selten in den Gottesdienst. Abgesehen davon, dass es viele Gleichgültige, Uninteressierte gibt, die meinen, sich dies leisten zu können, da es die Feuerhölle nicht mehr gibt.

Viele fühlen sich überfordert, wenn sie glauben sollen, Gott habe den Heiligen Geist aufgefordert, eine jüdische Jungfrau zu schwängern, die Gott dann einen Sohn geboren habe. Sie halten die Apostel für Phantasierer und Spinner. Und sie halten kirchliche Riten wie Taufe, Kommunion und Konfirmation sowie das Abendmahl, die Teufelsaustreibung und die Salbung für Hokuspokus. Sie halten die Bibel für gänzlich veraltet, und mit der Endlichkeit des Lebens finden sie sich ab.

Viele Prediger, ob sie nun im "Wort zum Sonntag" des Fernsehens oder im Gottesdienst auftreten, werden selbst von Christen für Phrasendrescher gehalten.

Wenn die Kirchen den Glauben an die Bibel als Gottes Wort nicht aufgeben, werden sie in vielen Ländern Europas zu Sekten herabsinken. In Ländern, in denen es noch viele Analphabeten und Nichtlesende gibt, wird die katholische Kirche sich noch lange halten.

Wodurch ist es nach Ihrer Ansicht verursacht, dass es den Kirchen an Pfarrern (Priestern) und Pastoren mangelt?

Das liegt nicht nur am Zölibat. Auch der evangelischen Kirche, in der auch Frauen als Pastoren tätig sind, fehlt es an Nachwuchs. Am potenziellen Nachwuchs für Geistliche geht die Aufklärung nicht spurlos vorüber, gerade an ihnen nicht. Warum sollen sie sich in eine kirchliche Organisation begeben, deren Dilemmata sie als unteres Personal weder lösen dürfen noch lösen können.

Wenn die christlichen Kirchen weiterhin am Weltbild der Bibel festhalten, wenn sie weiterhin daran festhalten, dass die Bibel Gottes Wort enthalte und für alle Ewigkeit gelte, wenn sie weiterhin, nicht den Naturwissenschaften folgend, nicht vom realen Weltbild der Gegenwart ausgehen, das sich nicht auf Legenden und Mythen und auch nicht auf Apostelerfindungen stützt, dann werden sich weiterhin viele Menschen von der Kirche verabschieden.

Einer religiösen Schrift Ewigkeitswert zuzusprechen, ist nicht nur falsch, es ist auch kurzsichtig und dumm. Auch Martin Luthers These, dass man selig werden könne allein durch den (Bibel-)Glauben, wird von vielen nicht mehr akzeptiert. Die Kirchen müssen ihren Dogmatismus aufgeben, ein flexibles Glaubensbekenntnis zulassen, z.B. auch diejenigen dulden, die nicht glauben, dass die Bibel Gottes Wort enthält, die Jesus nicht für Gottes Sohn halten. Die Kirchen sollten auch diejenigen akzeptieren, die nicht an den Heiligen Geist glauben. Es sollte auch zulässig sein, an einen unkörperlichen, nicht menschenähnlichen Gott zu glauben.

Das Christentum steht mit dem Glauben an Gottes für alle Ewigkeit gelten sollende Wort noch genau dort, wo sich auch der Islam mit dem Koran befindet. Auch der Koran soll unmittelbar von Allah stammen. Eine ewige Heilige Schrift, ein ewiges Leben im Himmel oder ewiges Brennen in der Hölle – das ist morgenländische Religionsphantasie. Europa scheint jetzt zur Vernunft zurückzukehren. Auf dem Weg dorthin ist die Bibel ein Bremsklotz.

Das klingt, als würde die Bibel dem Christentum nach 2.000 Jahren zum Unglück. Wenn die Kirchen sich entschließen würden, den Glauben an die Bibel als Gottes Wort aufzugeben, würden die Kirchenflüchtlinge dann in die Kirchen zurückkehren?

Das weiß ich nicht, ich kann solche Hoffnungen nicht wecken, geschweige denn etwas verheißen. Diejenigen, die sich auf gesichertes Wissen beschränken und auf die von Religionen erfundenen Glaubereien verzichten, werden nichts verlieren.

Auch den Himmel nicht?

Soweit Agnostiker einen Gott für möglich halten, handelt es sich nicht um einen Gott mit Sohn und Heiligem Geist, mit Himmel und Hölle. Sie denken an einen viel größeren Gott, einen Gott, dem es egal ist, ob man an ihn glaubt, ob man ihn fürchtet und liebt, der ohne Lobhudelei von Menschen auskommt.

"Viel glauben und wenig denken muss nicht jedermanns Ideal sein."

Sehen Sie sich als Provokateur des Christentums?

Keineswegs. Ich respektiere ein friedliches, tolerantes Christentum, das sich zur Glaubensfreiheit bekennt. Allerdings kann ich nicht ausschließen, dass solche Christen sich provoziert fühlen, die die christliche Weltanschauung nach wie vor für alternativlos halten und den weltanschaulichen Dialog verhindern oder unterdrücken möchten. Ich selbst sehe in meinem Buch einen Weckruf für mehr Denk- und Weltanschauungsfreiheit. Ostdeutsche, die sich auf diese Freiheiten berufen und den christlichen Glauben nicht akzeptieren können, verdienen keine Kritik. Viel glauben und wenig denken muss nicht jedermanns Ideal sein.

Wie sehen Sie die Situation der Kirchen in den nächsten 50 bis 100 Jahren?

Die Kirchen haben ihren Tiefpunkt erst dann erreicht, wenn feststeht, ganz deutlich wird, dass sie das Gros der Jugend, auch der ländlichen Jugend, verloren haben. Wer die Jugend verliert, der hat keine Zukunft. Für die iPhone-Jugend ist die Bibel mit ihrer Höllendrohung ein Exot. Daran ändert auch die Unterstützung der Kirchen durch Politiker und Verleger nichts.

Die Kirchen haben die Jugend m.E. verloren. Daraus folgt: Sie haben auf Dauer keine Zukunft.

Herr Professor Tipke, ich danke Ihnen für die Fülle aufklärerischer Erkenntnisse.

Klaus Johannes Tipke, Kirchenflucht – Warum?, BoD Verlag Norderstedt 2017, ISBN: 978-3-7448-2436-1, 14,80 Euro (Ebook 6,49 Euro)