Anthropozän war gestern, eigentlich müsste man zuerst vom Phytozän sprechen, machen die Pflanzen doch die Welt erst zu einer und einer für alles weitere Leben bewohnbaren. Sie wirken ohne zu handeln, sind offen schlechthin und verbinden durch die von ihnen geschaffene Atmosphäre alles mit allem. Grenzenlosigkeit und Inklusion statt Exklusion – die Pflanzen leben es uns vor. Emanuele Coccia entwickelt eine Philosophie der Pflanzen.
Wachsen die Pflanzen von der Erde in den Himmel oder nicht vielmehr vom Himmel in die Erde? Das und mehr fragt sich Emanuele Coccia in seinem jüngsten Buch "Die Wurzeln der Welt, Eine Philosophie der Pflanzen", erschienen im Hanser Verlag. Denn die Pflanzen nähren sich von der Energie des Sonnenlichts. Sie kommunizieren miteinander über das Wurzelgeflecht. Ihre Wurzeln sind ihr Gehirn.
Der Atem der Pflanzen macht unseren Atem erst möglich. Sie stehen am Anfang einer Kette des Lebens, die den Stoff entstehen ließ, aus dem sich sogar ganze Gebirge erhoben, die Kalksteingebirge. Pflanzen handeln nicht, sie wachsen nur. Sie verändern sich und entwickeln sich. Während Tierkörper stets eine möglichst geringe Außenfläche aufweisen, funktioniert die Pflanze nach dem umgekehrten Prinzip der maximal möglichen Oberfläche, der größtmöglichen Durchlässigkeit und Aufnahmefähigkeit. Deshalb haben Bäume Blätter.
Wir Menschen verändern das Gesicht der Erde, mehr noch: Wir sind nicht nur Beobachter der Geschichte der Erde, wir sind längst dabei, sie mitzubestimmen. Unterdessen machen wir uns selten klar, dass dies seit langem schon die Pflanzen tun.
Emanuele Coccia hat nun eine Ontologie der Pflanzen geschrieben, er untersucht, welcher Art das Sein der Pflanzen ist. Dadurch wissen wir nicht mehr über die Pflanzen, aber es ändert unsere Perspektive auf sie und auch die auf uns selbst. Prozesse, für deren Bedeutung wir erst langsam einen Sinn entwickeln, die des Austausches, der Durchdringung, der Mischung, sind ihre Lebensprinzipien und damit allen weiteren Lebens, das durch sie ermöglicht wird.
Alte Metaphern der Metaphysik wie die, dass alles in allem ist oder dass die Welt lebendig ist, eine Seele habe, erhalten nur wenig abgewandelt einen neuen Sinn. Es ist nicht alles in allem, aber alles hängt erst über die von den Pflanzen geschaffene Atmosphäre mit allem zusammen. Die Pflanzen "bauen" an der Welt mit. Wenn man unter Seele nichts anderes und nicht mehr subsumiert als ein gerichtetes Entwicklungs- und Bewegungsprinzip, dann haben und sind die Pflanzen Seele, sie sind die "Seele" der Welt, denn sie sind das, was die Welt zusammenhält. Betrachtet man die Samen als DNA-Kapseln mit einem Genom-Programm, dann sind diese cum grano salis die funktionierende Vernunft selbst, Materie und Geist in einem, Sexualität und Vernunft gleichermaßen.
Pflanzen können uns exemplarisch lehren, wie Leben funktioniert. "Sie verbinden die Milieus, die Räume, sie zeigen, dass der Bezug zwischen Lebewesen und Milieu nicht in exklusiven Begriffen gedacht werden kann (wie es die Nischentheorie oder Uexküll vormachen), sondern nur in inklusiven. Das Leben ist immer kosmisch, es besteht nicht aus einer Nische; es ist nie eingesperrt in ein einziges Milieu, sondern strahlt in alle Milieus aus, es macht die Milieus zu einer Welt, einen Kosmos von atmosphärischer Einheit", so Coccia.
Seit Schelling ist kaum ein Philosoph Giordano Brunos Begeisterung für einen grenzenlosen Kosmos, einen lebendigen Kosmos, je wieder so nahe gekommen. Pflanzen, so Coccia, überleben nicht nur in ihren jeweils eigenen Nischen, sie gestalten weit über die Nische hinaus, verändern die Lebensbedingungen und schaffen neue Lebensräume. Uexküll entwarf die Theorie, dass jede Gattung in ihrer eigenen unvergleichbaren Welt lebt. Mensch und Fledermaus leben gefangen in einem je anderen Fragment der Welt. Coccia interpretiert das Dasein der Pflanzen dahingegen als unendliche Variation bis hin zur verschwenderischen "Selbstenteignung" – am schönsten sichtbar an den Blüten. In dem Sinne, in dem etwas übertragen, vererbt, weitergegeben wird – wir können das auch Nachhaltigkeit nennen – scheut Coccia sich auch nicht, von "Kultur", von einer "Kultur der Pflanzen" zu reden.
Pflanzen sind die Alleskönner schlechthin. Dabei wirken sie durch Nicht-Handeln, wie die alten chinesischen Weisen es ihren Herrschern empfahlen. Es gibt kaum etwas, das nicht im Prinzip Pflanze irgendwie schon angelegt wäre. Coccia erschließt mit einem Schuss Dialektik – sonst im gegenwärtigen philosophischen Diskurs eher außer Gebrauch – die existenziellen Aspekte der modernen biologischen Erkenntnisse.
Emanuele Coccia: "Die Wurzeln der Welt. Eine Philosophie der Pflanzen", aus dem Französischen von Elsbeth Ranke, Hanser Verlag München 2018, 188 S, 20 Euro
8 Kommentare
Kommentare
David am Permanenter Link
ich bin ein großer Pflanzenfreund. mein Vater hat einen Garten den ich am WE bearbeite. Dort habe ich 50 Obstbäume oder Obststräucher gepflanzt.
Roland Weber am Permanenter Link
Allein, wenn man bedenkt, wie viele Heilpflanzen es - oft absichtlich ungenutzt, da zu "billig" - gibt, dann merkt man, dass Pflanzen viel zu wenig Anerkennung und Interesse entgegengebracht wird.
Hans Trutnau am Permanenter Link
Und jetzt also "Phytozän"? Seitdem es Pflanzen gibt - bis heute? Und vorher gab es weder Atmosphäre noch Kalkstein? Ich weiß nicht, ob das so gemeint ist, es hört sich nur genau so an - und ist doch Unsinn.
Karl-Heinz Büchner am Permanenter Link
Ach wie schön romantisch!
Also alles wie gehabt - innerhalb der gegebenen Möglichkeiten.
Thomas am Permanenter Link
Anscheinend nur ein weiteres Schwafelbuch, das nebligem Denken Vorschub leistet, statt es aufzuklaren. Leute wie Coccia sollten besser Lyrik schreiben, als sich in die Philosophie zu drängen.
Simone Guski am Permanenter Link
Danke für den Hinweis auf das wunderbare Interview. Ja, auch Gedanken können schön sein.
Thomas am Permanenter Link
"Danke für den Hinweis auf das wunderbare Interview."
(Beleidigung von der Redaktion gelöscht) In mir löst das eine Mischung aus schmerzhaftem Fremdschämen und Wut aus.
"Ja, auch Gedanken können schön sein."
...als schön EMPFUNDEN oder BEURTEILT werden, denn sie sind es nicht "von Natur aus". Wie bereits angedeutet, gehören Gedanken, deren Hauptzweck darin besteht, als "schön" zu gefallen, in die Belletristik und nicht in die Philosophie, die als Partnerin der Wissenschaft zur Erkenntnis der Welt beitragen soll. Diese Trennung ist UNBEDINGT ERFORDERLICH, um zu verhindern, daß Menschen Gedanken für wahr halten, nur weil sie ihnen irgendwie "schön" vorkommen. Die Neigung dazu hat uns die Religionen und andere Irrationalismen eingebracht, die als Todfeinde der Ethik die Erde zu jenem unfaßbar leiderfüllten Ort gemacht haben, der sie ist. Insofern ist geistig korrumpierende (weil ein falsches Bild von der Wirklichkeit und geradezu verbrecherische Ethikvorstellungen vermittelnde) "Philosophie" wie die von Coccia nur eine von vielen Formen des Irrationalismus, die aus den gleichen Gründen und mit der gleichen Entschlossenheit bekämpft werden muß wie beispielsweise Religion und Esoterik.
Thomas am Permanenter Link
Re: "Beleidigung": In dem beanstandeten Abschnitt hatte ich die Frage aufgeworfen, wie man ein Interview für "wunderbar" halten kann, in dem ein Philosoph seine biologische und ethische Verständnis