Emanuele Coccia entwirft eine Ontologie der Pflanzen

Sie wurzeln im All

Anthropozän war gestern, eigentlich müsste man zuerst vom Phytozän sprechen, machen die Pflanzen doch die Welt erst zu einer und einer für alles weitere Leben bewohnbaren. Sie wirken ohne zu handeln, sind offen schlechthin und verbinden durch die von ihnen geschaffene Atmosphäre alles mit allem. Grenzenlosigkeit und Inklusion statt Exklusion – die Pflanzen leben es uns vor. Emanuele Coccia entwickelt eine Philosophie der Pflanzen.

Wachsen die Pflanzen von der Erde in den Himmel oder nicht vielmehr vom Himmel in die Erde? Das und mehr fragt sich Emanuele Coccia in seinem jüngsten Buch "Die Wurzeln der Welt, Eine Philosophie der Pflanzen", erschienen im Hanser Verlag. Denn die Pflanzen nähren sich von der Energie des Sonnenlichts. Sie kommunizieren miteinander über das Wurzelgeflecht. Ihre Wurzeln sind ihr Gehirn.

Der Atem der Pflanzen macht unseren Atem erst möglich. Sie stehen am Anfang einer Kette des Lebens, die den Stoff entstehen ließ, aus dem sich sogar ganze Gebirge erhoben, die Kalksteingebirge. Pflanzen handeln nicht, sie wachsen nur. Sie verändern sich und entwickeln sich. Während Tierkörper stets eine möglichst geringe Außenfläche aufweisen, funktioniert die Pflanze nach dem umgekehrten Prinzip der maximal möglichen Oberfläche, der größtmöglichen Durchlässigkeit und Aufnahmefähigkeit. Deshalb haben Bäume Blätter.

Wir Menschen verändern das Gesicht der Erde, mehr noch: Wir sind nicht nur Beobachter der Geschichte der Erde, wir sind längst dabei, sie mitzubestimmen. Unterdessen machen wir uns selten klar, dass dies seit langem schon die Pflanzen tun.

Emanuele Coccia (Aus einem YouTube-Video, 2016)
Emanuele Coccia (Aus einem YouTube-Video, 2016)

Emanuele Coccia hat nun eine Ontologie der Pflanzen geschrieben, er untersucht, welcher Art das Sein der Pflanzen ist. Dadurch wissen wir nicht mehr über die Pflanzen, aber es ändert unsere Perspektive auf sie und auch die auf uns selbst. Prozesse, für deren Bedeutung wir erst langsam einen Sinn entwickeln, die des Austausches, der Durchdringung, der Mischung, sind ihre Lebensprinzipien und damit allen weiteren Lebens, das durch sie ermöglicht wird.

Alte Metaphern der Metaphysik wie die, dass alles in allem ist oder dass die Welt lebendig ist, eine Seele habe, erhalten nur wenig abgewandelt einen neuen Sinn. Es ist nicht alles in allem, aber alles hängt erst über die von den Pflanzen geschaffene Atmosphäre mit allem zusammen. Die Pflanzen "bauen" an der Welt mit. Wenn man unter Seele nichts anderes und nicht mehr subsumiert als ein gerichtetes Entwicklungs- und Bewegungsprinzip, dann haben und sind die Pflanzen Seele, sie sind die "Seele" der Welt, denn sie sind das, was die Welt zusammenhält. Betrachtet man die Samen als DNA-Kapseln mit einem Genom-Programm, dann sind diese cum grano salis die funktionierende Vernunft selbst, Materie und Geist in einem, Sexualität und Vernunft gleichermaßen.

Pflanzen können uns exemplarisch lehren, wie Leben funktioniert. "Sie verbinden die Milieus, die Räume, sie zeigen, dass der Bezug zwischen Lebewesen und Milieu nicht in exklusiven Begriffen gedacht werden kann (wie es die Nischentheorie oder Uexküll vormachen), sondern nur in inklusiven. Das Leben ist immer kosmisch, es besteht nicht aus einer Nische; es ist nie eingesperrt in ein einziges Milieu, sondern strahlt in alle Milieus aus, es macht die Milieus zu einer Welt, einen Kosmos von atmosphärischer Einheit", so Coccia.

Seit Schelling ist kaum ein Philosoph Giordano Brunos Begeisterung für einen grenzenlosen Kosmos, einen lebendigen Kosmos, je wieder so nahe gekommen. Pflanzen, so Coccia, überleben nicht nur in ihren jeweils eigenen Nischen, sie gestalten weit über die Nische hinaus, verändern die Lebensbedingungen und schaffen neue Lebensräume. Uexküll entwarf die Theorie, dass jede Gattung in ihrer eigenen unvergleichbaren Welt lebt. Mensch und Fledermaus leben gefangen in einem je anderen Fragment der Welt. Coccia interpretiert das Dasein der Pflanzen dahingegen als unendliche Variation bis hin zur verschwenderischen "Selbstenteignung" – am schönsten sichtbar an den Blüten. In dem Sinne, in dem etwas übertragen, vererbt, weitergegeben wird – wir können das auch Nachhaltigkeit nennen – scheut Coccia sich auch nicht, von "Kultur", von einer "Kultur der Pflanzen" zu reden.

Pflanzen sind die Alleskönner schlechthin. Dabei wirken sie durch Nicht-Handeln, wie die alten chinesischen Weisen es ihren Herrschern empfahlen. Es gibt kaum etwas, das nicht im Prinzip Pflanze irgendwie schon angelegt wäre. Coccia erschließt mit einem Schuss Dialektik – sonst im gegenwärtigen philosophischen Diskurs eher außer Gebrauch – die existenziellen Aspekte der modernen biologischen Erkenntnisse.

Emanuele Coccia: "Die Wurzeln der Welt. Eine Philosophie der Pflanzen", aus dem Französischen von Elsbeth Ranke, Hanser Verlag München 2018, 188 S, 20 Euro