Kommentar

Neuster Sündenbock für den Missbrauchsskandal: Die 68er-Revolution

Der gerade 92 Jahre alt gewordene Ex-Papst Joseph Ratzinger hat sich in einem Aufsatz zum Thema Missbrauchsskandal zu Wort gemeldet. Einmal mehr offenbart der Theologe seine weltfremden Ansichten, die hinter den Mauern des Vatikans und mit fortschreitendem Alter keineswegs fortschrittlicher geworden sind. Einsicht in die Probleme, die für die Krise seiner Kirche verantwortlich sind, hat er nicht. Im Gegenteil: Schuld sind die anderen. Sein Text entlarvt ihn als Ewiggestrigen, der nichts verstanden hat und der seinen Glauben und seine Kirche über das Wohl der Menschen stellt.

Der, der sich nach seinem Rücktritt aus allem heraushalten wollte, hat sich mal wieder eingemischt: Joseph Ratzinger, der 2013 als Papst zurücktrat, hat einmal mehr seinen selbstherrlichen Senf dazugegeben, um den ihn niemand gebeten hatte. Es geht um die zentrale Krise der katholischen Kirche: Den Missbrauchsskandal. Nachdem der aktuell amtierende Papst Franziskus im Rahmen des "Kinderschutz-Gipfels" im Vatikan Ende Februar bereits relativiert hatte, dass es Missbrauch ja überall gebe und im vergangenen Herbst außerdem festgestellt hatte, dass sowieso der Teufel schuld sei, kam jetzt eine neue Variante hinzu: Das Problem liegt nämlich gar nicht in den Machtstrukturen der katholischen Kirche und dem Zölibat begründet – die eigentliche Ursache ist die sexuelle Revolution von 1968, schreibt Ratzinger in einem Aufsatz für das bayerische "Klerusblatt". Nach eigenen Angaben geschah das in Absprache mit dem derzeitigen Katholikenoberhaupt.

In seinem Text, den katholisch.de im Wortlaut veröffentlichte, beschwört der zurückgetretene Papst das Bild einer von Sex und Gewalt völlig besessenen Gesellschaft, er spricht von einem "seelischen Zusammenbruch". Er schildert für ihn verstörende Erlebnisse, zum Beispiel habe er 1970 einmal in Regensburg Werbeplakate "mit zwei völlig nackten Personen (…) in enger Umarmung" gesehen. Und das an Karfreitag! "Zu den Freiheiten, die die Revolution von 1968 erkämpfen wollte, gehörte auch diese völlige sexuelle Freiheit, die keine Normen mehr zuließ", schreibt er weiter. Auch Pädophilie sei "als erlaubt und als angemessen diagnostiziert" worden.

Dass der 92-Jährige seine Probleme mit der Emanzipation der Menschen von der verklemmten kirchlichen Sexualmoral hat, ist offenkundig und auch irgendwie nachvollziehbar. Die Bewegung aber mit der Randerscheinung der Forderung nach einer Liberalisierung von Pädophilie gleichzusetzen, ist in etwa so ungerecht, wie sämtlichen Angehörigen der katholischen Kirche zu unterstellen, es immer noch gut zu finden, Glaubensabtrünnige zu verbrennen.

Zwar gab es im Rahmen der sexuellen Befreiung auch eine Bewegung, die für die Liberalisierung der sexuellen Kontakte zwischen Erwachsenen und Kindern eintrat, aber es war nicht breiter gesellschaftlicher Konsens oder gar offiziell anerkannt, so wie es sich bei Ratzinger anhört. Selbst wenn man den Einfluss der sexuellen Revolution auf den Priesterstand als Argument zulässt: Wieso sollte das nur pädophile Handlungen und die Bildung homosexueller Clubs in Priesterseminaren – die das ehemalige Kirchenoberhaupt ebenfalls beklagt – zur Folge gehabt haben? Von der "freien Liebe" inspiriert, hätten die Männer, die ein Keuschheitsgelübde abgelegt haben, ja auch noch auf andere Weise dagegen verstoßen können.

Aber eigentlich liegt der Grund allen Übels sowieso an ganz anderer Stelle, nämlich im Unglauben, lässt uns der zurückgetretene "Stellvertreter Gottes" wissen: "Die westliche Gesellschaft ist eine Gesellschaft, in der Gott in der Öffentlichkeit abwesend ist und für sie nichts mehr zu sagen hat. Und deswegen ist es eine Gesellschaft, in der das Maß des Menschlichen immer mehr verloren geht. An einzelnen Punkten wird dann mitunter jählings spürbar, dass geradezu selbstverständlich geworden ist, was böse ist und den Menschen zerstört. So ist es mit der Pädophilie. Vor kurzem noch als durchaus rechtens theoretisiert, hat sie sich immer weiter ausgebreitet. Und nun erkennen wir mit Erschütterung, dass an unseren Kindern und Jugendlichen Dinge geschehen, die sie zu zerstören drohen. Dass sich dies auch in der Kirche und unter Priestern ausbreiten konnte, muss uns in besonderem Maß erschüttern."

Was Ex-Papst Ratzinger bei seiner eigenwilligen Theorie völlig außer Acht lässt, ist die Tatsache, dass die Missbrauchsfälle viel weiter zurückreichen. Auch vor dem Ausbruch der vermeintlichen Sittenlosigkeit haben sich Geistliche schon an Kindern vergangen. Das muss anderen in seiner Kirche ebenfalls bewusst sein, sonst hätte die von der Deutschen Bischofskonferenz selbst in Auftrag gegebene Missbrauchsstudie wohl kaum den Zeitraum ab 1946 untersucht. Joseph Ratzinger sieht das trotzdem anders: "Die Frage der Pädophilie ist, soweit ich mich erinnere, erst in der zweiten Hälfte der 80er Jahre brennend geworden". Da erinnert er sich falsch. Das nämlich ist genau die Zeit, in der die Pädophilenbewegung, die er als Ursache des priesterlichen Kindesmissbrauchs sieht, wieder verschwand. Und er, der spätere Benedikt XVI., wäre als Präfekt der Glaubenskongregation – der früheren Inquisitionsbehörde, der er ab 1981 24 Jahre lang bis zu seinem Amtsantritt als Papst vorstand – höchstselbst dafür verantwortlich gewesen, die Täter zu sanktionieren. Dies geschah aber nur in den wenigsten Fällen. Auch das versucht er in seinem Aufsatz zu entschuldigen: "Dies alles" sei eigentlich über die Kräfte der Glaubenskongregation hinausgegangen.

Zeitgleich zum zivilen Moralverlust habe es auch einen Zusammenbruch der katholischen Moraltheologie gegeben, "der die Kirche wehrlos gegenüber den Vorgängen in der Gesellschaft machte", heißt es außerdem in Joseph Ratzingers Aufsatz. Es folgt einiges theologisches Geschwurbel, das man mit den Worten "früher war alles besser" zusammenfassen könnte. Der Autor schwärmt von christlichen Lebensräumen "in der alten Kirche", geschützt vor einer "immer mehr demoralisierten Kultur". Dabei stolpert man über folgende, viel über seine Geisteshaltung aussagenden Sätze: "Ein Leben, das durch die Leugnung Gottes erkauft wäre, ein Leben, das auf einer letzten Lüge beruht, ist ein Unleben." Und: "Das Martyrium ist eine Grundkategorie der christlichen Existenz." Eine Religion der Liebe, die sich über Masochismus definiert. Schön, dass wir das nochmal geklärt hätten. Im Kontext von Missbrauch könnte man diesen Satz auch als äußerst zynisch auffassen.

Der frühere Benedikt XVI. berichtet auch von einem Gespräch mit einer missbrauchten Ministrantin. Interessanterweise schockierte ihn daran weniger der Missbrauch des Kindes, als der der Eucharistie: Der Täter habe immer mit den Wandlungsworten "Das ist mein Leib, der für dich hingegeben wird" begonnen, wenn er sich an dem Mädchen verging. "Wir müssen alles tun, um das Geschenk der heiligen Eucharistie vor Missbrauch zu schützen", ist Ratzingers entlarvendes Fazit daraus. Nicht etwa, dass man alles tun müsse, um Kinder vor Missbrauch zu schützen. Solange das die Sichtweise der Kirche ist, ihren Glauben, ihre Institution und ihre Rituale über geltende Gesetze und das Wohl von Menschen und insbesondere Kindern zu stellen, solange wird sich nichts ändern.

Wie kann die Missbrauchskrise laut Ratzinger überwunden werden? Durch eine Erneuerung des Glaubens und einer neuen Hinwendung zu Gott. Eine geradezu revolutionäre Forderung. Wären die kirchlichen Missbrauchstäter da mal früher drauf gekommen! Von Reformen rät er dringend ab: "Die Krise, die durch die vielen Fälle von Missbrauch durch Priester verursacht wurde, drängt dazu, die Kirche geradezu als etwas Missratenes anzusehen, das wir nun gründlich selbst neu in die Hand nehmen und neu gestalten müssen. Aber eine von uns selbst gemachte Kirche kann keine Hoffnung sein", denn: "Die Idee einer von uns selbst besser gemachten Kirche ist in Wirklichkeit ein Vorschlag des Teufels". Merke: Wenn es keine logische Erklärung für etwas gibt, kann immer noch der Teufel herhalten. Das geht immer.